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Winfried Wolf

Billige China-Böller oder
teure Weltwirtschaftskrise?

(15. Januar 2016)


Erstveröffentlichung: Von wegen Aufschwung, Kontext: Wochenzeitung, Ausgabe 250, 13. Januar 2016.
Quelle: Lunapark21, 16. Januar 2016.
Kopiert mit Dank aus der LunaPark21-Webseite.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Noch vor eineinhalb Wochen wurde nur Beruhigendes in Sachen Weltwirtschaft vermeldet. Es werde 2016 aufwärts gehen. Die Arbeitslosenzahlen seien niedrig. Im übrigen sei „der Grieche“, wie er ist: ein Sonderfall. Dann plötzlich diese Schlagzeilen wie Global markets in turmoil – Weltweite Märkte in Aufruhr (Financial Times), Angst vor dem nächsten Beben (Die Welt), Schockwellen aus China (Börsen-Zeitung), Aktienmärkte in Aufruhr (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Einer der weltweit größten Finanzinvestoren, George Soros, sprach Klartext: “Wenn ich auf die Finanzmärkte blicke, werde ich an die Krise von 2008 erinnert (alle Zitate Tagespresse vom 8.1.)

Gibt es all die Hektik nur, weil in der ersten Januarwoche die Börse in Schanghai zwei Mal geschlossen werden musste? Tatsächlich geht es um mehr. Die Furcht vor einer neuen weltweiten Krise ist vollauf berechtigt. Richtig ist, dass all diejenigen, die noch vor zwei Wochen die Weltwirtschaft in rosiges Licht getaucht sahen, das machen, was seit 250 Jahren im Kapitalismus gang und gäbe ist: Man verlängert den Trend der letzten 12 Monate in die Zukunft, während man gleichzeitig die bedrohlichen Zeichen an der Wand souverän übersieht.

Dabei gab es auch vor den China-Böllern der letzten Woche andere Kommentare. So war beispielsweise in der britischen Financial Times vom 7. Oktober 2015 zu lesen: „World economy on verge of tumbling into dollar recession – Die Weltwirtschaft steht auf der Kippe, in eine Dollar-Rezession abzugleiten“. Das Zentralorgan des deutschen Finanzkapitals, die Börsen-Zeitung, überschrieb am selben Tag einen Leitartikel mit Der Stoff, aus dem ein Crash entsteht.

Nun konstatierte Kurt Tucholsky nüchtern: „Was die Weltwirtschaft angeht, so wissen wir, dass sie verflochten ist“. Will sagen: Die Anarchie kapitalistischer Produktion macht exakte Vorhersagen unmöglich. Dennoch gibt es seit mehreren Monaten drei solcher bedrohlicher Zeichen an der Wand, die vor einer neuen großen Krise warnen: wacklige Säulenheilige der Weltökonomie, eine kriselnde Eurozone und der bedrohliche Ölpreisverfall.
 

Wacklige Säulenheilige

Vier von fünf Stützpfeilern der Weltökonomie sind spätestens seit Herbst 2015 brüchig. Nur die US-Wirtschaft, durchaus noch der Säulenheilige Nr. 1 der Weltwirtschaft, weist für 2015 ein substanzielles Wachstum aus (2,6 %). Die japanische Ökonomie, Säule Nr. 2, ist seit eineinhalb Jahrzehnten morsch, da im Bereich der Stagnation befindlich. Nach der Krise 2008/09 gab es 2010 und 2012 zwei Jahre mit Wirtschaftswachstum. Seit 2014 herrscht jedoch erneut Stagnation. Gleichzeitig haben seit 1999 zwei Dutzend Konjunkturprogramme dazu geführt, dass die öffentlichen Schulden Japans – gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt – deutlich höher sind als die griechischen (GR: 170 %; Japan: 250 %). Die Frage, wie lange das noch gut geht, ist vollauf berechtigt. Weltwirtschafts-Stützpfeiler Nr. 3 sind die Schwellenländer (hier ohne China). Diese waren mehr als 15 Jahre lang für das Wachstum der Weltwirtschaft wichtig. Doch seit 2014 lahmen sie: Russland, Südafrika und Brasilien gerieten bereits 2015 in eine tiefe Rezession. China war als Säulenheiliger Nr. 4 gut zwei jahrzehntelang eine verlässliche Stütze des weltweiten Wirtschaftswachstums. Doch seit zwei Jahren gibt es ein deutlich rückläufiges Wachstum. Kein Wunder! Schließlich war das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ irgendwann (genau: 1967) zu Ende. Ebenso wie der „japanische Boom“ irgendwann verpuffte (exakt 1998). Auch gab es im Sommer 2015, exakt beginnend am 12. Juni, in Schanghai ein regelrechtes Börsenbeben. Dieses konnte nur gestoppt werden, indem die chinesische Regierung mit massiven Interventionen in den Markt eingriff und u. a. den entscheidenden chinesischen Großinvestoren für ein halbes Jahr untersagte, Aktien abzustoßen. Dieses Verbot sollte am vergangenen Freitag auslaufen. Uups! Kein Wunder eigentlich, dass es in der letzten Woche in einer Art „Vorwegnahme“ dieses Datums zum zweimaligen Schanghai-Crash kam.
 

Eurozonen-Blues

Der fünfte Säulenheilige ist Kerneuropa, die Eurozone. Wenn man sich in Europa überrascht zeigt vom Umschlag des Konjunktur-Wetters, dann verbirgt sich dahinter die Arroganz des Eurozonen-Zuchtmeisters Deutschland. Denn eigentlich gibt es seit der Krise 2008/2009 nur in Deutschland ein zumindest bescheidenes Wachstum. (Wir sehen dabei von den Booms in Malta und der Slowakei ab, die für das Gesamtbild nicht entscheidend sind). Wobei man ja bescheiden wurde: Das reale BIP-Wachstum Deutschlands lag 2013 bei 0,1 %, 2014 bei 1,5 und 2015 bei 1,7 %.

Betrachtet man das Gesamtbild Eurozone, so lassen sich drei Charakteristika ausmachen. Diese werden in der Grafik illustriert. Erstens. Es gibt trotz sieben vollen formellen Aufschwungsjahren kein reales Wachstum; das BIP des Euroraums liegt Anfang 2016 auf dem 2008er Niveau. Das ist bereits ein erstaunliches und bedrückendes Gesamtergebnis für eine Region, die laut Lissabon-Vertrag die „produktivste der Welt“ sein bzw. werden wollte. Zweitens. Seit 2008 existiert im Euroraum eine erhebliche Auseinanderentwicklung zwischen den wenigen Ökonomien, die im Plusbereich liegen, und der Gruppe der Peripherieländer Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. Die Peripherieländer haben heute allesamt ein BIP-Niveau, das noch niedriger ist als 2008. Drittens. Das Eurozonen-BIP erreicht nur deshalb wenigstens 2016 wieder das Niveau von 2008, weil die deutsche Ökonomie über den gesamten Zeitraum hinweg ein bescheidendes Wachstum erlebt hatte – und weil das spezifische Gewicht der deutschen Ökonomie derart bestimmend ist.

Doch vor welcher Zukunft steht dieses Kerneuropa? Die Dramatik in Griechenland ist ohne Zweifel enorm. Doch sie ist, so zynisch das klingen mag, für die Eurozone verkraftbar. Als nicht verkraftbar wird sich erweisen, was sich in Italien und Frankreich zusammenbraut. In Italien stieg die offizielle Arbeitslosenquote zwischen 2008 bis Anfang 2016 von 8 auf 12 Prozent. In Frankreich erhöhte sie sich im gleichen Zeitraum von 7,8 auf 10,2 Prozent. In beiden Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch: in Frankreich mit 25 und in Italien mit 38 Prozent. Vor allem stiegen die Schuldenquoten kontinuierlich an: In Frankreich lag dieses 2007 bei 64 Prozent; Anfang 2016 touchiert sie erstmals die 100-Prozent-Marke. Die italienische Gesamtschuld entsprach 2008 110 Prozent des BIP. Anfang 2016 sind es 133 BIP-Prozent. Damit liegt Italiens öffentliche Schuld höher als diejenige Griechenlands zu Beginn der dortigen Krise 2010. Das Gewicht der italienischen Wirtschaft ist jedoch neun Mal größer als das der griechischen. Dabei sind Italien und Frankreich keine Ausnahmen. In allen EU-Ländern wuchs die öffentliche Verschuldung bereits in der Krise sprunghaft. Doch sie stieg entgegen der klassischen Entwicklung auch in den sieben Jahren des formellen wirtschaftlichen Aufschwungs weiter an. Im Eurozonen-Durchschnitt liegt sie Ende 2015 bei 92 Prozent. Damit aber ist die Eurozone keine Stütze, sie ist eine Gefahr für die Weltwirtschaft. Zumal die einzige Potenz in der Eurozone, die deutsche Ökonomie, so exportabhängig ist wie keine andere große Ökonomie in der Welt.
 

Ölpreis-Verfall

Seit mehr als einem Jahr verfällt der Ölpreis. Er hat Anfang 2016 mit 32 US-Dollar für ein Fass Brent-Oil ein Rekordtief erreicht, das allen Prognosen widerspricht. Es droht noch ein weiterer Preisfall auf weniger als 30 US-Dollar. Das wäre dann historisches Tief von 1975, wenn entsprechend deflationiert wird.

Man bedenke: Der Ölpreis lag 2009 bei knapp 150 US-Dollar. Die Wirkung, die dieser Energiepreisverfall auf die Weltwirtschaft hat, ist höchst widersprüchlich. Zunächst schiebt billiges Öl die Weltökonomie durchaus an. Es werden z. B. mehr Autos, vor allem mehr SUVs verkauft. Gleichzeitig bringt dies jedoch den Ölförderländern eine massive Krise. Diese ist für Russland spürbar, für Saudi-Arabien schmerzhaft und für Venezuela existenzbedrohend. Auch werden die Ölkonzerne mit dem Preisverfall erheblich belastet – allein 2015 wurden weltweit 300.000 Jobs in der Ölbranche vernichtet. Vor allem aber signalisiert der Ölpreisverfall eine weltweit nachlassende Nachfrage. Dies wird zu Recht als Indikator für eine weltweite Krise gewertet.

Betrachtet man diese gut entzifferbaren „drei Zeichen an der Wand“, dann irritiert eine grundlegende Vergesslichkeit der Wirtschafts-Auguren in besonderem Maß: Gibt es nicht seit 300 Jahren Kapitalismus den Zyklus wiederkehrender Krisen als Konstante? Gibt es nicht eine weitgehend abgesicherte Periodizität der Zyklen, die zwischen 7 und 10 Jahren liegt? Ist nicht belegt, dass diese Zyklizität nichts Mystisches ist, dass diese mit kapitalistischer Gesetzmäßigkeit zu tun hat? Dass es die Phasen gibt „Krise und Kapitalvernichtung“ (2007–2009) // „Neuanlage von Kapital und Akkumulation“ (2010–13) // „Profitmaximierung durch Austeritätspolitik mit Senkung der Massennachfrage“ (seit 2010) // „Suche nach spekulativen Kapitalanlagen wegen mangelnder Massennachfrage und zugleich Bildung neuer spekulativer Blasen“ (seit 2012) // Schließlich „Rückgang von Wachstum und Sturz in neue Rezession“ (2016–?)?

Die Zyklizität der Weltkonjunktur ist gerade in jüngerer Zeit überdeutlich. Es gab die weltweiten Rezessionen bzw. Krisen 1974/75, 1981/82, 1990–91, 2000/2001, 2008/2009. Auch vor dem Hintergrund dieser beeindruckend-handfesten Erfahrung spricht einiges dafür, dass wir vor einer neuen weltweiten Krise stehen.

Das Tragische und Bedrohliche ist: Politik und Gewerkschaften sind auf eine solche Krise kaum vorbereitet. Kommt es zu dieser Krise, so laufen wir Gefahr, dass die sozialen Auswirkungen nochmals brutaler sein werden als die in der letzten Krise. Die Schuldenquoten sind 2016 fast doppelt so hoch wie 2007. Damit ist der Spielraum für jedes „Gegensteuern“ deutlich reduziert. Einzelne Staaten (Griechenland, Spanien, Venezuela, Südafrika) sind heute bereits so angeschlagen, dass eine neue Krise den Staatsbankrott bedeuten kann. Der Finanzsektor ist mindestens so anfällig wie 2007/2008. Vor allem wird es in einer neuen Krise kaum mehr staatliche Interventionen zur Rettung von Finanzinstituten geben können. Hinzu kommt das historisch niedrige Zinsniveau. Die Anhebung des Zinssatzes, die die US-amerikanische Zentralbank Fed im Dezember 2015 vornahm und die irritierenderweise als „Trendwende“ und „Rückkehr zu Normalzinssätzen“ gefeiert wurde, erfolgte ja nur um einen Viertelprozentsatz. Damit bleibt es dabei, dass der Leitzins in den USA – und weltweit – nahe Null liegt. Das aber heißt, dass es auch auf diesem wichtigen Gebiet nicht mehr die Möglichkeiten des Gegensteuerns gibt, die es in der Krise 2007/2008 gab. Damals, am Beginn der Krise, lag der US-Leitzins bei 5,25 Prozent. Er wurde dann spektakulär und hochwirksam innerhalb eines Jahres um 5 Prozentpunkte auf 0,25 Prozent heruntergefahren. Diese Möglichkeit entfällt nunmehr komplett.

Last and not least: Die Massenarbeitslosigkeit, die Verelendung von Millionen Menschen und die Gefährdungslagen für große Populationen – beispielsweise durch regionale Krisen, durch Hunger und durch Kriege – sind heute deutlich größer als vor der letzten Krise. Die Flüchtlingsströme, die es seit zwei Jahren verstärkt gibt, können somit auch als höchst menschliche Vorboten einer Weltkrise verstanden werden.

Winfried Wolf verfasste über die letzte Krise das Buch Sieben Krisen – ein Crash (2009 Promedia, Wien). Im März erscheint von Winfried Wolf, gemeinsam verfasst mit Nikos Chilas, das Buch Die griechische Tragödie – Rebellion. Kapitulation. Ausverkauf (Promedia, Wien; 216 Seiten / 16,50 Euro). Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie.


Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2023