Winfried Wolf

quartalslüge

„Der Chinese isst zu viel Fleisch (und ruiniert
seine Gesundheit und unser Klima)“

(20. März 2014)


>Quelle: Lunapark21, Heft 25, 20. März 2014.
Kopiert mit Dank aus der LunaPark21-Webseite.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Beim Thema Statistik wird oft der Satz zitiert „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Meist wird der britische Premier Winston Churchill als Autor genannt. Dafür gibt es keinen Beleg – wohl aber Indizien dafür, dass es die NSDAP-Propagandamaschine war, die diesen Spruch in die Welt setzte und Churchill zugleich als seinen Urheber ausgab. Damit sollten dessen zutreffende Aussagen zur Kritik der NS-Propaganda desavouiert werden. [1] Statistik ist eine wesentliche Kategorie, um gesellschaftlich relevante Debatten zu führen und auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen. Richtig ist, dass jede Statistik daraufhin untersucht werden muss, was sie konkret aussagt, worauf sich die Zahlen beziehen und wie diese erhoben wurden.

Im Umweltmagazin zeo2 der Tageszeitung vom 9.7.2012 war zu lesen: „Der Fleischkonsum der Welt hat sich seit Beginn der 70er Jahre verdreifacht. Wichtigster Lieferant ist das Schwein, das rund 40 Prozent des globalen Fleischtellers füllt. Über die Hälfte des Schweinefleischs wird inzwischen in China produziert. Um ausreichend Futtermittel anzubauen, müssen chinesische Unternehmen im Ausland, auch in Afrika, große Flächen dazu pachten. China kauft heute 40 Prozent der brasilianischen Sojaernte auf.“ Die gelbe Gefahr – fleischfarben.

In der neuesten Ausgabe der – grundsätzlich äußerst verdienstvollen – Publikation Fleischatlas heißt es: „Aus dem weltweiten Fleischtopf fischt sich China immer größere Brocken; der Fleischkonsum des Landes hat sich binnen drei Jahrzehnten vervierfacht.“ [2] Auch hier scheint die Statistik zu belegen, was der „gesunde Menschenverstand“ nahelegt: Der Chinese isst einfach zu viel Fleisch.

Verwirrend wirkt auch die Sichtweise von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die anlässlich der Eröffnung einer Raffinerie für „Biosprit“ äußerte: Die Hauptschuld an der Preisexplosion bei Nahrungsmitteln läge vor allem bei „einer sehr unzureichenden Agrarpolitik in den Entwicklungsländern”. So nähmen inzwischen in Indien rund 300 Millionen Menschen eine zweite Mahlzeit am Tag zu sich. O-Ton Merkel: „Wenn die plötzlich doppelt so viel Nahrungsmittel verbrauchen als sie das früher gemacht haben und dann auch noch 100 Millionen Chinesen beginnen, Milch zu trinken, dann verzerren sich natürlich unsere gesamten Milchquoten und vieles andere”. [3]

Doch zurück zum Fleischkonsum selbst. Auf Basis der offiziellen Statistiken der UN-Organisationen WHO und FAO zum weltweiten Fleischkonsum können die folgenden vier Dinge festgehalten werden:

Erstens: Führend im Fleischkonsum sind die hochindustrialisierten kapitalistischen Länder. Während der Durchschnitt des weltweiten Fleischkonsums pro Erdenbürger bei 38 Kilogramm liegt, liegt dieser in den Industriestaaten mit gut 85 Kilogramm mehr als doppelt so hoch. Eine Reihe westliche Industriestaaten haben einen Pro-Kopf-Fleischverbrauch von mehr als 90 Kilogramm: Grafik 1.

Zweitens: Die USA als die weltweit führende Kapital-, Finanz- und Wirtschaftsmacht ist zugleich die führende Fleischesser-Nation. Ein US-Mensch konsumiert 120 Kilogramm Fleisch im Jahr – was ziemlich genau dem Dreifachen des Weltdurchschnitts entspricht.

Drittens: Im Zeitraum 1980 bis 2009 stieg der Fleischkonsum in China zwar beträchtlich. Doch dieser lag mit 58,2 Kilogramm selbst im Jahr 2009 nur bei weniger als der Hälfte des Pro-Kopf-Verbrauchs in den USA mit 120,2 Kilogramm (Pro-Kopf-Fleischverbrauch von mehr als 90 Kilogramm: Grafik 2). Gemessen am Fleischkonsum in Deutschland erreicht der chinesische knapp 62 Prozent. Gemessen am nochmals höheren Fleischkonsum in Österreich erreicht derjenige in der VR China sogar nur gut die Hälfte (52,5 %).

Pro-Kopf-Fleisch-Konsum in 12 Länder
Pro-Kopf-Fleisch-Konsum in UDA, D u. CH

Viertens: In Westdeutschland stieg der Fleischkonsum nach dem Zweiten Weltkrieg von rund 30 Kilogramm pro Kopf auf 62 Kilogramm pro Kopf im Jahr 1962 an. Dabei wurde in der ersten Hälfte der 1960er Jahre – vor der ersten Nachkriegsrezession (1966/67) und bei weitgehender Vollbeschäftigung – allgemein von einem „Wirtschaftswunder“ gesprochen. Doch seither stieg der Fleischkonsum nochmals um fast die Hälfte an – von 62 auf knapp 90 Kilogramm. Dabei kam es im Übrigen zu einem höchst interessanten Wettlauf zwischen der BRD und der DDR, bei dem die DDR obsiegte (siehe Seite 24).

Alle diese Zahlen belegen: Das große Problem ist nicht in China, sondern in den industrialisierten Zentren in Nordamerika, Australien und Europa zu suchen. Grundsätzlich steigt der Fleischkonsum weltweit, und zwar absolut, aber auch gemessen relativ zur Weltbevölkerung. Dass dabei die Entwicklungsländer und hier insbesondere Schwellenländer wie Brasilien, Russland, China und vor allem Indien aufholen, ist richtig. Auch spricht einiges dafür, dass in den westlichen Industriestaaten im Wortsinn eine gewisse Sättigung erreicht wurde; in den meisten OECD-Staaten steigt der Fleischkonsum seit 1990 nicht mehr an. Allerdings sollte das kein Grund zur Entwarnung sein. In den USA wurde 2005 ein Spitzenwert von 126 Kilogramm pro Kopf erreicht.

Im Übrigen ist die Höhe des Fleischkonsums in erheblichem Maß abhängig vom Preis. Dieser hat inzwischen – relativ gesehen – ein Rekordtief erreicht. 1950 kostete ein Kilogramm Schweinefleisch in Westdeutschland 1,6 Prozent eines monatlichen Nettoverdienstes. Heute müssen dafür nur noch rund 0,3 Prozent eines Nettoverdienstes – oder ein Fünftel des Wertes von 1950 – aufgewandt werden. Dabei drückt der Fleischpreis nur zu einem Bruchteil aus, wie teuer uns das Fleischesser-Lebensmodell kommt. Dazu heißt es im bereits zitierten Fleischatlas:

„Drei Rechnungen werden beim Kauf tierischer Lebensmittel ausgestellt: eine dem Konsumenten, eine dem Steuerzahler und eine der Natur (...) Die Kosten, die die Umwelt zu tragen hat, sind wahrscheinlich die höchsten. (...) Dazu gehören die Schäden der Massentierhaltung, die zur Überdüngung führen. (...) Wenn sich die Trinkwasserqualität eines Brunnens wegen hoher Nitratbelastung allmählich verschlechtert, (...) werden die Kosten erst erkennbar, wenn der Brunnen geschlossen und die betroffene Gemeinde ihr Trinkwasser von weit her holen muss. (...) Die Abgabe von Ammoniak in die Atmosphäre trägt zum Klimawandel bei, erhöht das Krebsrisiko und verkürzt die Lebensdauer. (...) Neben der Subventionierung durch die Natur ist die Subventionierung mit öffentlichen Geldern der andere große unbekannte Faktor der Fleischrechnung. Milliardenschwere EU-Beihilfen umfassen unter anderem Flächenzahlungen und die Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur (...) Die EU fördert zudem Investitionen in Ställe mit bis zu 50 Prozent, ein mächtiger Anreiz, mehr Schweine, Geflügel und Rinder zu produzieren. Zusätzlich stehen im EU-Haushalt jährlich über 240 Millionen Euro direkt für die Fleisch verarbeitende Industrie zur Verfügung. Ein weiterer Billigmacher sind die niedrigen Löhne auf den Schlachthöfen in Ländern wie Deutschland, in denen ein verbindlicher Mindestlohn fehlt.“

Weitere Beiträge Seite 16 ff.

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Anmerkungen

1. Als britische Städte durch deutsche Bomber massiv bombardiert wurden, ließ Churchill im britischen Rundfunksender BBC und dort in deutscher Sprache hartnäckig vorrechnen, wie manipulierend die deutsche Kriegsberichterstattung war. Es könnte, so Churchill damals, keine britischen Kampfflugzeuge mehr geben, wenn die Angaben über Abschüsse britischer Militärmaschinen zuträfen. Die deutsche Propaganda stellte daraufhin Churchill als Zahlen-Manipulator dar. Siehe Werner Barke, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Nr. 11/2004.

2. Fleischatlas – Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung, BUND und Le Monde Diplomatique, 6. Auflage, S. 18. Die Formulierung, es gebe einen weltweiten „Fleischtopf“, aus dem man dann etwas „herausfischen“ kann, liest sich originell bis schräg.

3. ntv vom 17.4.2008.


Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2023