Winfried Wolf

Verkehrspolitik

Der aktuelle Mobilitätswahn und
der revolutionäre Griff zur Notbremse

(20. September 2011)


Kopiert mit Dank von Winfried Wolf – Homepage.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vorwort zu: Auf allen Wegen – Mobilität gestern – heute – morgen

Buch-Kollektion der Frankfurter Buchmesse 2011

Alle reden vom Boom der Elektroautos. Ein Zitat: „Bei den Elektromobilherstellern herrscht Goldgräberstimmung. Die Marktprognosen versprechen bis zu einer Million verkaufter E-Mobile in den nächsten fünf Jahren.“ Das war allerdings 1991 zu lesen – in der VCD-Zeitschrift Fairkehr (3/1991). Heute, zwei Jahrzehnte später, gibt es in Deutschland gerade mal 2.300 Elektroautos. Und es gibt die Aussage der Berliner Regierung, wonach es – nun aber dalli, dalli! – bis zum Jahr 2020 eine Million E-Mobile geben soll.

Vor zwei Jahrzehnten bezog sich die eine Million E-Autos auf einen Pkw-Park von 30 Millionen, was einem Anteil von 3,3 Prozent entsprochen hätte. Im Jahr 2020 würde sich die eine Million Elektro-Pkw auf eine Gesamt-Pkw-Flotte von 53 Millionen Pkw beziehen. Der Anteil ist auf unter zwei Prozent gesunken. Selbst wenn all die Träume wahr werden würden, hätten wir dann drei Jahrzehnte Warten auf das erste Milliönchen Elektroautos bei gleichzeitiger Reduktion des versprochenen – ohnehin extrem niedrigen – Anteils der E-Autos am Gesamt-Pkw-Park auf rund die Hälfte.

Dennoch wurde die Internationale Automobilausstellung (IAA) vom September 2011 als „grüne Autoschau“ gepriesen. Im Zentrum standen der Hype um die „Elektromobilität“, „neue Nutzungsformen“ des Autos wie „Car2Go“ und „Carsharing“ und die Versprechen einer Reduktion der Pkw-Emissionen durch „Biokraftstoffe“ und „schadstoffarme Motoren“. Auch in den Verkehrssektoren Schiene, Luft und Güterverkehr stehen grüne Ideen hoch im Kurs: ICE-Verkehre sollen weiter ausgebaut werden; der Luftverkehr soll durch die Luftverkehrsabgabe umweltfreundlicher werden. Der Schienengüterverkehr legt laut Bundesregierung deutlich zu. Und selbst die Gigaliner brächten, so Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, Ökovorteile, da bei deren Einsatz aus drei Lkw-Fahrten zwei werden würden.

Besonders aufgefallen ist mir in den IAA-Tagen eine in den großen Tageszeitungen auf zwei Seiten platzierte Werbung der VW-Tochter mit dem Slogan „Vorsprung durch Technik“. „Audi connect“ lautete die Überschrift. Geboten werden sollte ein Blick auf „Die Zukunft vernetzter Mobilität“.

Das wäre doch wirklich eine gute Sache: vernetzte Mobilität. Wobei ich mir herausnehme, unter Mobilität alle Formen des menschlichen Bewegens – insbesondere auch die nicht motorisierten – zu verstehen und die lateinischen Wörter „mobilitas“ und „mobilis“ nicht mit „Kilometerfraß“ und „allüberall präsent“ zu übersetzen, sondern mit „um den eigenen Lebensmittelpunkt beweglich sein“ und „die entscheidenden Mobilitätsbedürfnisse in optimaler Reichweite haben“.

Vergleichbares wurde vor einem guten halben Jahrhundert von dem sozialdemokratischen jüdischen Berliner Verkehrsplaner Martin Wagner formuliert: „Das Verkehrsbedürfnis eines Großstädters westlicher Zivilisation beläuft sich pro Jahr und Nase auf etwa 1.000 Zielbewegungen, von denen etwa 650 fußläufigen Charakter hätten, wenn sie vom Städteplaner richtig geplant worden wären. Von denen die restlichen mit Hilfe von privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind.“ [1] Wagners Feststellung vom „konstanten Verkehrsbedürfnis“ hat bis heute Gültigkeit: Die Zahl der fünf Verkehrsbedürfnisse, der „Zielbewegungen“ oder Fahrten erstens zur Arbeit, zweitens zur Ausbildungsstätte, drittens zum Einkaufen, viertens zu Erholungszwecken und fünftens in den Urlaub blieb im Großen und Ganzen konstant. Geändert hat sich in erster Linie die Entfernung, die zwischen dem Lebensmittelpunkt und den Zielpunkten all dieser fünf Mobilitätsbedürfnisse liegt. Während ein deutscher Bürger 1965 (als allgemein von einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft die Rede war) rund 6.600 Kilometer an so definierten Bewegungen motorisiert zurücklegte, sind es heute mit 13.000 Kilometern fast doppelt so viele. [2] Die Folgen dieser Art gesteigerter Zwangsmobilität sind für Mensch, Umwelt und Klima verheerend. Die verfügbaren Daten für die Mobilität der näheren Zukunft deuten darauf hin, dass dieser desaströse Trend gesteigert wird. Auf drei Ebenen.

Automobilität: Die Zahl der Pkw hat sich weltweit zwischen 1985 und 2010 von 335 Millionen auf eine knappe Milliarde verdreifacht, während sich die Weltbevölkerung „nur“ von 4,85 auf 6,9 Milliarden Menschen oder um 42 Prozent vergrößerte. Dabei hat in den letzten Jahren in den Schwellenländern eine massive Beschleunigung der Automotorisierung eingesetzt. Für eine weitere Verdopplung der Pkw-Zahl bis 2025 werden gegenwärtig die Investitionen getätigt. Selbst in sogenannten gesättigten Automärkten wächst die Pkw-Zahl – teilweise in absurden Relationen. In Deutschland geht derzeit die Bevölkerungszahl Jahr für Jahr um 200.000 zurück, während die Zahl der zugelassenen Pkw pro Jahr um 200.000 wächst. [3]

Flugverkehr: Keine Personenverkehrsart wächst schneller als der Flugverkehr. Im Zeitraum 1995 bis 2010 hat sich der Weltflugverkehr verdoppelt. [4] Bis 2025 soll er sich nochmals verdoppeln. In Peking entsteht derzeit der größte Flughafen der Welt – mit einer Kapazität von 200 Millionen Passagieren pro Jahr – das ist fast so viel, wie heute die drei größten Airports der Welt (Atlanta, Peking und Chicago O’Hare) zusammen bewältigen. Auch hier gilt: Warum in die Ferne schweifen, der Verkehrswahn liegt so nah: Zwischen 1995 und 2010 wuchsen in Deutschland die Inlandsflüge um 60 Prozent, während der Schienenfernverkehr stagnierte. EADS/Airbus präsentierte jüngst Pläne zum Bau eines verlängerten A380 – für bis zu 1.000 Passagiere.

Güterverkehr: Auch der Warenverkehr hat sich vom Wachstum der Bevölkerung und des Bruttoinlandsprodukts weitgehend abgekoppelt. Das weltweite Bruttoinlandsprodukt verdoppelte sich zwischen 1980 und 2000. Der Welthandel – in US-Dollar bewertet – hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht. Die physischen Gütertransporte haben sich mehr als vervierfacht. Der Containertransport wächst seit 1990 sogar pro Jahr um rund 10 Prozent; er verdoppelt sich damit in 7,5 Jahren und hat sich in fünfzehn Jahren bereits vervierfacht. Die realen Austauschprozesse haben oft wenig mit Wohlstandsvermehrung zu tun. Deutschland exportiert ebenso viel Tierfutter, wie es importiert. Großbritannien importiert eben so viel Schweinefleisch, wie es exportiert. Das kleinste und sparsamste VW-Modell, der Fox, hat einen besonders langen Transportweg – er wird ausschließlich in Brasilien hergestellt. Die Transportintensität – die in einer Ware von ein und derselben Qualität steckenden Transportkilometerzahl – steigt von Jahr zu Jahr. 1878 beklagte sich der preußische Ministerpräsident Fürst Otto von Bismarck, dass zunehmend Holz aus Ungarn und Schweden den inländischen Holzmarkt ruinieren und „ausländisches Holz durch billige Tarifsätze der Eisenbahnen vor dem einheimischen bevorzugt“ würde. Heute wird bayerisches Buchenholz nach China exportiert, dort zu Kinderspielzeug verarbeitet, um erneut nach Europa exportiert zu werden – begünstigt durch einen weltweit bei allen Verkehrsarten extrem subventionierten Transportsektor.

Die Steigerung irrationaler Mobilität treibt immer absurdere Blüten. Als im Juli 2011 in Kalifornien die wichtigste Autobahnverbindung, die Interstate 405, für 53 Stunden komplett gesperrt wurde, bot der Billigflieger JetBlue „Carmageddon-Flüge“ für die 40-Meilen-Distanz vom Flughafen Bob Hope nach Long Beach an. Die Flüge kosteten 4 Dollar; das Kontingent war in 20 Minuten ausgebucht. Der Highway hatte bisher zehn Spuren und wird nun auf zwölf und teilweise 14 Spuren erweitert. Die Verkehrsplaner wissen, dass sich damit zwar die Tageskapazität von 281.000 auf 350.000 Auto erhöht, dass jedoch auch die neuen Spuren „volllaufen“ werden und sich der traditionelle Dauerstau wieder einstellen wird. [5] Das Interstate-405-Szenario ist wie geschaffen als Großversuch, um Hermann Knoflachers These zu untersetzen, wonach Fahrzeuge in Wirklichkeit Stehzeuge sind und errmannder Stau nicht die Ausnahme, sondern die Regel des Autoverkehrs ist. [6]

Auto Bild brachte zur IAA 2011 einen Bericht über das BMW-Modell M5. Überschrift: Dezentes Outfit, brutale Leistung. Das Auto, das im Artikel als „Tarnkappenbomber“ bezeichnet wird, hat 560 PS, die Höchstgeschwindigkeit liegt offiziell bei 250 km/h. „Auto Bild“ verrät seinen Lesern: „Gegen Aufpreis regelt BMW anstatt bei 250 erst bei 305 km/h ab. Der Besuch eines Fahrtrainings ist dann jedoch Pflicht.“ [7]

Wo bitte, mag man mit Erich Kästner fragen, bleibt da das Positive? Was ist mit Elektroautos? Ist Carsharing nicht deutlich im Kommen? Bieten Biokraftstoffe nicht eine Lösung? Gibt es nicht diesen Rückgang der Pkw-Schadstoffe? Zielt die Verkehrspolitik nicht auf „Null Verkehrstote“?

Leider existiert „das Positive“ nicht bei diesen immer wieder genannten „Klassikern“ einer Reform der bestehenden Massenmobilität. Die Pkw-Schadstoff-Emissionen liegen bei den Pkw-Flotten aller deutschen Hersteller auch im Jahr 2011 deutlich über den von der EU angestrebten Grenzwerten von 130 g CO2 je gefahrenen Kilometer. Im gewichteten Durchschnitt emittieren die von deutschen Autoherstellern gebauten Pkw im Jahr 2011 150 g CO2/km. Die den Markt bestimmenden Premiumhersteller Mercedes, Porsche, BMW und Audi liegen massiv darüber. Selbst der Massenhersteller VW (ohne die VW-Marken Audi, Bentley, Bugatti, Porsche und Lamborghini) liegt bei 142 g CO2/km. [8] Vor allem aber gilt: Die Zahl der Pkw nimmt auch in Europa weit schneller zu als die Schadstoffe je Pkw abnehmen. So stieg auf dem Gebiet der EU mit 27 Mitgliedsstaaten die Zahl der Pkw im Zeitraum 1990 bis 2010 von 163 Millionen auf 255 Millionen oder um gut 50 Prozent, während der Schadstoffverbrauch je Pkw nur um rund 20 Prozent reduziert wurde. [9]

Biokraftstoffe, die richtigerweise als Agrokraftstoffe zu bezeichnen sind, belasten die Umwelt in der Gesamtbilanz stärker als herkömmliche – aus Öl gewonnene – Kraftstoffe. So steht es in einem internen Papier der EU, das der Financial Times Deutschland vorliegt. [10] Wobei beim Einsatz der Agrokraftstoffe „Peak Oil“ durch „Peak Soil“ ersetzt wird: An die Stelle der Endlichkeit der Ölvorräte tritt die Begrenztheit des für die Gewinnung von Agrokraftstoffen erforderlichen landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Weshalb der inzwischen massenhafte Einsatz der Agrokraftstoffe in Form der Beimischungen zum Tankstellensprit erheblich zum Anstieg der Preise für agrarische Erzeugnisse und zur Steigerung des weltweiten Hungers beiträgt.

Der Anteil von Carsharing am gesamten Pkw-Verkehr ist auch dreißig Jahre nach Entdeckung dieser Form der Pkw-Nutzung lächerlich niedrig. In ganz Deutschland gibt es im Jahr 2011 rund 5.000 Pkw in den Carsharing-Pools. Die Zahl der Nutzer liegt bei 190.000 Menschen (von denen jedoch viele Carsharing als Zweit- und Drittwagen-Ersatz praktizieren). Der viel zitierte Großversuch in Ulm, den Daimler 2010 mit „car2go“ startete, zeigt ebenfalls ernüchternde Ergebnisse. Insgesamt wurden in dieser Stadt Mitte 2011 für car2go 300 Smart-Pkw eingesetzt; 20.000 Menschen sollen als Nutzer im „Mobilitätsclub“ registriert sein. Bereits die realen Fahrtpreise zeigen, dass hier die gehobene Mittelstandsmobilität gefördert und gesteigert wird: Eine Stunde car2go-Nutzung kostet 5,70 Euro oder 9,5 Cent pro Minute, was mehr als dem Dreifachen der Preise im öffentlichen Verkehr entspricht. [11]

Zu den Elektro-Pkw wurden bereits Grunddaten genannt: Der Bestand von 2.300 Elektroautos in Deutschland entspricht einem Anteil am gesamten deutschen Pkw-Bestand von 0,00007 Prozent. Selbst in China, wo „Elektromobilität“ mit bis zu 10.000 Euro beim Kauf eines Elektroautos gefördert wird, wurden im 1-Jahres-Zeitraum Mitte 2010 bis Mitte 2011 gerade mal 800 Elektro-Pkw verkauft. Das Unternehmen BYD („Build Your Dreams“), auf das nicht nur China, sondern auch Daimler setzt, um eine Automobilität jenseits des Öls zu realisieren, steht da wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Es gibt praktisch keine marktfähigen BYD-Elektroautos. Der Konzern versucht seit Sommer 2011 krampfhaft, die Existenz des Unternehmens dadurch zu retten, dass Pkw mit konventionellen Motoren hergestellt werden. In Europa liegt der Verkauf von Elektro-Pkw bei wenigen Zehntausend Exemplaren und ist damit prozentual kaum messbar. Damit erweisen sich Elektro-Pkw als Placebo, allerdings als ein medial hochwirksames und finanziell enorm teures. Allein die deutsche Regierung zahlt für die Entwicklung von Elektro-Pkw im Zeitraum 2009 bis 2013 2,0 Milliarden Euro an Autokonzerne. [12] Autowahn auch hier: Im Oktober 2011 präsentierte Nissan erstmals „V2H – Vehicle to Home“, das erste Haus für ein Elektromobil mit Tankstelle.[13]

Die Zahl der Opfer des Straßenverkehrs hat sich zwar in hoch motorisierten Regionen – mit auch hoch entwickelten Rettungsdiensten – deutlich verringert. Der gegenwärtige Blutzoll in der EU mit 38.000 Straßenverkehrstoten pro Jahr ist jedoch weiter enorm; in jedem Jahrzehnt wird auf dem Gebiet der EU eine Menschenmenge getötet, die der Population einer Großstadt entspricht. [14] Für das Jahr 2005 errechnete Klaus Gietinger die Zahl von 955.892 Menschen, die weltweit im Straßenverkehr getötet wurden. Bis zum Jahr 2028 wird die Zahl von zwei Millionen Verkehrstoten pro Jahr überschritten werden. Gietinger: „Das Risiko, in einem Straßenverkehrsunfall getötet oder verletzt zu werden, wird in 25 Jahren zu den höchsten Risiken weltweit gehören.“ [15]

Es gibt keine „innere Reform“ der Automobilität. Vielmehr kommt es zu einem immer raffinierteren Greenwashing. Vorherrschend ist ausschließlich die konventionelle Automobilität, mit deren Verallgemeinerung und Intensivierung die bekannten Belastungen dieser Verkehrsart wachsen. Die Verdopplung der Zahl konventioneller Pkw bis 2025 auf weltweiter Ebene ist von den Autokonzernen und Ölmultis fest eingeplant. Sie ist zugleich mit Blick auf die Ölressourcen und die damit verbundenen Emissionen nicht „darstellbar“ – oder nur durch die Auspressung von Öl aus Ölsänden, durch Bohrungen immer tiefer unter dem Meeresboden und in der Arktis, was mit bisher nicht gesehenen Zerstörungen verbunden sein wird. Das heißt: Allein auf dem Gebiet des Welt-Verkehrs-Sektors droht ein Kollaps hinsichtlich der Ressourcen und der Belastungen.

Und es ist nicht „die Menschheit“, die sich auf diese Weise ihr Grab gräbt. Es sind nicht in erster Linie „menschliche Bedürfnisse“, die mit der Automobilität befriedigt werden. Es sind primär Konzern- und Finanzmachtstrukturen und die damit verbundene konkrete weltweite Verkehrspolitik, die diese spezifische Art von Mobilität bewirken und fortgesetzt steigern. Inzwischen entfällt bei den 500 größten Unternehmen der Welt ein gutes Viertel des Umsatzes und der Profitmasse nur auf Konzerne aus den Bereichen Öl (Exploration und Verarbeitung), Autoindustrie, Flugzeugbau und Airlines. Unter den zwölf größten Unternehmen der Welt befanden sich im Bilanzjahr 2010 acht Ölkonzerne und ein Autohersteller. [16] Ölstaaten und Autoindustrie bzw. Ölstaaten und Airlines gehen enge Verbindungen ein; Katar ist bei VW mit 19 Prozent; Kuwait und Abu Dhabi sind bei Daimler mit 16 Prozent beteiligt. [17] Emirates befindet sich im Steigflug zur größten Airline der Welt. Diese im Eigentum Dubais befindliche Fluggesellschaft platzierte mit 90 Bestellungen den größten Einzelauftrag für das größte Flugzeug der Welt, den Airbus A380. Zusammen mit zwei anderen arabischen Airlines entfallen 45 Prozent aller vorliegenden A380-Bestellungen auf „OPEC-Airlines“. Die Flugzeugindustrie wiederum, die auf das Engste mit Rüstung verbunden ist, ist die am stärksten mit Steuergeldern subventionierte Branche der Welt. [18] EADS wiederum schult die Polizei in Saudi-Arabien und konzipiert ein „Sicherheitssystem“ für Abu Dabi. Und der Dubai-Staatsfonds Dubai International Capital (DIC) hält seit 2007 einen Anteil von 3,1 Prozent an EADS/Airbus. [19]

Diese Konzernmacht unterhält eine mächtige Lobby in allen Bereichen der Politik und stellt die mit Abstand größten Werbeetats, was wiederum heißt, dass der größte Teil der Print- und der elektronischen Medien von dieser Lobby abhängig ist. Womit auch die öffentliche Meinung zu einem erheblichen Maß von dieser Lobby geprägt wird. Im September 2011 wurde bekannt, dass die Fluggesellschaft Air Berlin rund ein Jahrzehnt lang einer Gruppe von 100 Prominenten eine „Counter Card Premium Plus“ zur Verfügung stellte, mit der diese einschließlich ihrer Familien weltweit gratis fliegen durften. Eine nicht bekannte Zahl Bundestagsabgeordneter wurde mit einer „topbonus Gold Card“ bedacht, bei deren Nutzung ihnen als „Gold-Vorteile“ 40 Prozent Bonus auf alle gesammelten Meilen und die bevorzugte Abfertigung beim Check-in und Boarding zugesagt wurden. [20] Dabei ist Air Berlin eine kleine Nummer im großen Mobilitätszirkus der Öl-Auto-Flugzeug-Lobby.

Damit soll in keiner Weise bestritten werden, dass die spezifische Mobilität, die mit Autos und Flugzeugen vermittelt wird, Bedürfnisse von Millionen Menschen befriedigt. In einer Welt, in der die Menschen zu Recht den Eindruck haben, dass die großen Entscheidungen nicht von ihnen beeinflusst und kaum in Parlamenten, sondern in Konzernzentralen und von „Finanzmärkten“ gefällt werden, kommt einer Mobilität mit PS-starken Fahrten ins Grüne und den vielen Kurztrips zum Shopping nach New York oder Sonnetanken auf Mallorca usw. eine gewaltige Bedeutung zu. Es handelt sich jedoch in erheblichem Umfang um Ersatzbedürfnisse, die von der konkreten Politik noch äußerst handfest gefördert werden. Beispiel Pkw-Motorisierung in Europa: Im Zeitraum 1990 bis 2008 wurde auf dem Gebiet der 27 EU-Mitgliedsstaaten das Autobahnnetz um 55 Prozent erweitert (von 41.885 auf 65.100 km Länge). Im gleichen Zeitraum stieg die Pkw-Zahl in dieser Region „nur“ um 43,6 Prozent (von 163 auf 234 Millionen Pkw). Es wurde gewissermaßen „vorbetoniert“. Zu ergänzen ist: Im genannten Zeitraum wurde das Schienennetz um 8 Prozent abgebaut; der Anteil der Schiene am gesamten motorisierten Verkehr sank kontinuierlich auf inzwischen 6,3 Prozent. [21]

Die Alternativen zu der beschriebenen und zerstörerischen Art von Auto- und Flugverkehrs-Mobilität sind seit Langem bekannt. Es geht tatsächlich um „vernetzte Mobilität“, bei der eine Strukturpolitik zur Vermeidung von Verkehren, zur Verkürzung der Wege und zur Verlagerung verbleibender Verkehre eine entscheidende Rolle spielt und den nicht motorisierten Verkehrsarten – zu Fuß gehen und Rad fahren – und den öffentlichen Verkehrsmitteln die Schlüsselrolle zukommt. [22] Die Menschen und insbesondere die Jugend dürften nicht der Grund dafür sein, wenn diese Alternativen nur in Mosaikform und punktuell verwirklicht – und wenn sie in den großen Medien flächendeckend versteckt, wenn nicht verschwiegen – werden. Die Autoindustrie ist entsetzt über die Tatsache, dass nach Angaben des deutschen Kraftfahrt-Bundesamtes im vergangenen Jahrzehnt der Anteil der Neuwagenkäufer im Alter von unter 30 Jahren sich von 17 auf 7 Prozent mehr als halbiert hat. Den PR-Strategen der car2go- und car2home-Konzepte ist bekannt, dass in Deutschland bereits 80 Prozent der 20- bis 29-Jährigen der Auffassung sind, dass man in der Stadt aufgrund des Vorhandenseins öffentlicher Verkehrsmittel überhaupt kein Auto brauche.

Doch die Verkehrspolitik wird von diesen jungen Menschen (noch) nicht bestimmt. Neue Städte – unter anderem neue Autostädte in China – werden beispielsweise von dem Stadtplaner Albert Speer gebaut, der am überkommenen Mobilitätsmodell festhält und jüngst feststellte: „Ich halte nichts von autofreien Innenstädten.“ Speer junior bekannte sich zu einigen verkehrspolitischen Grundideen von Albert Speer senior. Sein Vater wirkte in führender Position an den Motorisierungsplänen der NSDAP und an der Zielsetzung der Nazis für autogerechte Städte als Voraussetzung für eine „Volksmotorisierung“ mit. Albert Speer junior: „Auch seine Idee, die Bahnhöfe herauszulegen (…) und die Innenstadt frei von Schienen zu halten, finde ich sinnvoll.“ [23]

Die Volksmotorisierungspläne des italienischen und des deutschen Faschismus sollten nach einem Sieg der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, der auch ein Krieg um Öl war, verwirklicht werden. Tatsächlich kam es zu dieser Volksmotorisierung, wenn auch nach der Niederlage der Regimes in Berlin, Rom und Tokio. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurde diese Volksmotorisierung von den US-amerikanischen Öl- und Autokonzernen angeführt. Der American Way of Life wurde in den OECD-Staaten zum Modern Way of Life. Indem die Volksmotorisierung „nur“ in den hochindustrialisierten kapitalistischen Staaten verwirklicht wurde, konnten die Themen Endlichkeit des Öls und Grenzen der Belastbarkeit des Weltklimas bis in die 1990er-Jahre hinein weitgehend aus den öffentlichen Debatten herausgehalten werden. Allerdings konzentrieren sich auch im Jahr 2011 noch 75 Prozent der Welt-Pkw-Flotte auf USA/Kanada, Japan, Australien/Neuseeland und die EU. In diesen Regionen leben nur rund 16 Prozent der Weltbevölkerung. Trotz beginnender Massenmotorisierung kommen in China und Indien auch im Jahr 2011 noch nur rund 15 Pkw auf 1.000 Einwohner, während es in den USA 770 Pkw, in der EU 510 Pkw und in Deutschland 560 Pkw je 1.000 Einwohner sind. [24]

Vor dem Hintergrund dieser extrem ungleichen Verteilung der Welt-Pkw-Flotte, angesichts von Peak Oil und als Resultat der Unmöglichkeit einer „inneren Reform“ der Autogesellschaft müssen die gegenwärtigen Pläne der international tätigen Autokonzerne zur Motorisierung der Weltbevölkerung zu neuen großen Kriegen um Öl führen. Dabei wird es nicht zuletzt um die Frage gehen, die auch in der aktuellen Finanzkrise und bei der Dollar-Euro-Konkurrenz von großer Bedeutung ist: In welcher Währung wird der Lebenssaft des Weltkapitalismus in Zukunft fakturiert? Wird ein Barrel Öl weiterhin in US-Dollar gehandelt? Oder demnächst in Euro (dann vielleicht in der Euro-Währung eines Kern-Europas, nach Wiedereinführung von Drachme, Pesete, Escudo und italienischer Lira)? Oder doch gleich in chinesischer Währung (Yuan respektive Renminbi)?

Die Kriege zwischen Irak und Iran (1980–1988), im Irak (1990/91 und 2003), in Afghanistan (2001–2011) und in Libyen (2011) könnten sich im Rückblick als Vorspiel für diese große und für ein zivilisiertes Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde entscheidende Auseinandersetzung um das restliche Öl der Welt erweisen.

Es gilt, diesen verhängnisvollen Lauf der Weltgeschichte zu stoppen. Die arabische Revolte des Jahres 2011 hat in vieler Hinsicht Vorbildcharakter. Demokratie in den Ölregionen wird auch den Ölpreis massiv erhöhen und unser Bewusstsein für die Notwendigkeit der Verkehrswende schärfen.

Walter Benjamin schrieb: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ [25] Benjamins Bildersprache zum Charakter von Revolutionen im Allgemeinen verdeutlicht überaus überzeugend die Notwendigkeit der Verkehrsrevolution im Besonderen.

Eine andere Welt ist möglich – eine andere Mobilität ist nötig.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark 21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Er ist aktiv für die Bahnexpertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn. Er verfasste u. a. Eisenbahn und Autowahn (1985, 1986 und 1992) und Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns (2007 und 2009).

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Anmerkungen

1. Martin Wagner, Verkehrter Verkehr, in: Baukunst und Werkform, Nr. 1/1957. Ausführlicher in: Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S. 380 und 491.

2. Siehe Winfried Wolf, Eisenbahn und Autowahn, Hamburg 1992 (3. Aufl.), S. 655; Verkehr in Zahlen 2010/2011, hrsg. v. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Hamburg 2010.

3. Die Bevölkerung in Deutschland zählte 2007 = 82,2, 2008 = 82,0 und 2009 = 81,8 Mio. Einwohner; die Zahl der registrierten Pkw betrug 39,9, 41,18 und 41,33 Mio. Einheiten; siehe Verkehr in Zahlen 2010/2011.

4. Siehe Winfried Wolf, Globalisierung. Flugverkehr. Gegenwehr, Lunapark21 Extra03, September 2010; Basis: ICAO, Annual Report of the Council 2008 und 2010.

5. Auf der Website Carmageddon.com wird ein Videospiel angeboten, in dem die Spieler brutal Passanten mit ihren Autos um die Wette jagen. JetBlue benannte das Spezialticket nach dieser Website. Nach: Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2011.

6. Siehe Hermann Knoflacher, Stehzeuge: Der Stau ist kein Verkehrsproblem, Wien-Köln-Weimar 2001; Hermann Knoflacher, Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung, Wien 2009.

7. Auto Bild vom 30. September 2011 (Nr. 39).

8. Zahlen nach den Angaben der Hersteller selbst. BMW nennt z. B. für seine Pkw-Flotte des Jahres 2011 einen Durchschnittswert von 153,7 g CO2/km; Mercedes 168,4 g CO2/km. Die realen Werte liegen deutlich höher.

9. In Deutschland reduzierte sich nach offiziellen Angaben der Durchschnittsverbrauch bei allen Pkw und Kombis (Benziner und Diesel-Pkw) von 9,1 l je 100 km im Jahr 1991 auf 7,5 l/100 km im Jahr 2009 oder um 18 Prozent. Verkehr in Zahlen 2010/2011, S. 302 f. Der Kraftstoffverbrauch je Pkw liegt damit noch deutlich über dem Niveau der 1950er- bis 1970er-Jahre. Seither hat sich das Gewicht je durchschnittlichen Pkw verdoppelt, die PS-Zahl verdreifacht und der Personenbesetzungsgrad um 20 Prozent reduziert. Da im genannten Zeitraum sich der Anteil der Pkw mit Klimaanlagen von rund 15 Prozent auf rund 90 Prozent erhöhte und da der Spritverbrauch der Klimaanlagen bei den genannten Angaben unberücksichtigt bleibt, dürfte der tatsächliche Rückgang des Kraftstoffverbrauchs je Pkw deutlich niedriger ausgefallen sein als offiziell ausgewiesen.

10. Vgl. Financial Times Deutschland vom 16. September 2011.

11. Angaben nach: Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2011.

12. Siehe Christoph Ruhkamp, Luxus mit Stütze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2011; Jens Tartler, Ramsauer tauscht Chef für Elektroautos aus, in: Financial Times Deutschland vom 23. September 2011.

13. „Eine weiße Wabe steht auf Stelzen. Auf dem Dach sind 488 Solarmodule angebracht. Während das Haus Sonne tankt, lädt unter dem roboterartigen Gebäude ein Auto Strom. Der elektrisch betriebene KIeinwagen namens Leaf kommt von Nissan – und das Haus auch.“ Financial Times Deutschland vom 6. Oktober 2011.

14. Nach EU Energy and Transport in Figures, Statistical Pocketbook 2010, Brüssel.

15. Klaus Gietinger, Totalschaden – Das Autohasserbuch, Frankfurt am Main 2010.

16. Diese Hitliste lautet (in Klammern Land, Branche und Umsatzsumme in Mrd. US-Dollar für 2010): Wal-Mart Stores (USA; Einzelhandel; 422), Royal Dutch Shell (GB; Öl; 378), Exxon Mobil (USA; Öl; 355), BP (GB; Öl; 309), Sinopec Group (China; Öl; 273), China National Petroleum (China; Öl; 240), State Grid (China; Versorger; 226), Toyota Motor (Japan; Auto; 222), Japan Post Holdings (Japan; Post; 203), Chevron (USA; Öl; 196), Total (USA; Öl; 186), ConocoPhillips (USA; Öl; 184). Nach: Global 500, Fortune (USA) vom 8. August 2011.

17. Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. August 2011 (zu Daimler); Handelsblatt vom 16. März 2010 (zu VW/Porsche).

18. Boeing ist der größte Rüstungskonzern der USA; EADS-Airbus ist der größte Rüstungskonzern Kontinentaleuropas. Die US-Regierung postuliert, dass Airbus in den vergangenen 25 Jahren „illegale Subventionen“ in Höhe von 205 Milliarden US-Dollar erhalten habe. Auf vergleichbarer Höhe soll die Subventionierung von Boeing liegen – so der Vorwurf von EU-Kommission und EADS-Airbus gegenüber Boeing. Vgl. Winfried Wolf, Globalisierung. Flugverkehr. Gegenwehr., a. a. O.

19. Manager Magazin vom 5. Juli 2007; Süddeutsche Zeitung vom 15. Juli 2011.

20. Angaben zu Air Berlin nach: Berliner Zeitung vom 11. Oktober 2011 und Süddeutsche Zeitung vom 4. Oktober 2011.

21. Angaben nach: EU Energy and Transport in Figures, Statistical Pocketbook 2010.

22. Ich plädierte erstmals 1986 für eine „Verkehrspolitik der drei V: vermeiden, verkürzen, verlagern“. In: Winfried Wolf, Eisenbahn und Autowahn, Hamburg 1986 (und Hamburg 1992).

23. In: Spiegel vom 8. November 1999. Das erste Speer-Zitat in: Financial Times Deutschland vom 9. September 2011. Interessanterweise gibt es beim Projekt „Stuttgart 21“ erhebliche Anleihen bei NSDAP-Plänen. Nach dem Besuch Adolf Hitlers am 1. April 1938 in Stuttgart wurden dort die Pläne zur Neugestaltung der Stadt konkretisiert. Danach sollte der Hauptbahnhof – damals wie heute der Bonatzbau – in den Rosensteinpark verlegt, aus dem Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof und das bisherige Bahnhofsgelände für eine Bebauung und Straßenerschließung im NS-Stil genutzt werden. Siehe Lösch/Stocker/Leidig/Wolf (Hrsg.), Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt, Köln 2010.

24. Weltbilanz für das Jahr 2005 nach: Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, S. 238. Zahlen für 2011 jeweils entsprechend den letzten verfügbaren Daten hochgerechnet.

25. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1999, Band V/2, Das Passagenwerk, S. 1232.


Zuletzt aktualisiert am 1. Juli 2023