Der Text wurde Ende 2005 verfasst. Es ist unklar, wo er veröffentlicht wurde.
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Der Tod von Ernest Mandel vor zehn Jahren, am 20. Juli 1995, ereignete sich zu einem Zeitpunkt, an dem auf weltweiter Ebene – mit erheblichem Aufwand und einigem Erfolg – versucht wurde, marxistische Theorie zu entsorgen und revolutionäres Engagement als billigen Romantizismus abzutun, den man höchsten jungen Menschen durchgehen lassen sollte.
Der am 5. April 1923 in Frankfurt am Main als Sohn eines jüdischen Marxisten flämischer Sprache geborene Ernest Mandel war zum Zeitpunkt seines Todes kein Jugendlicher. Doch sein Enthusiasmus für den Sozialismus erinnerte immer an den eines reifen Jugendlichen und an den eines jüdischen Propheten. Er ähnelte hier im übrigen Jürgen Kuczynski, mit dem er in den letzten Jahren seines Lebens befreundet war. Ernest Mandel hinterließ mehr als fünfzig Bücher zur Analyse des modernen Kapitalismus, darunter grundsätzliche Werke wie die „Marxistische Wirtschaftstheorie“ (1962), „Der Spätkapitalismus“ (1972) und „Die Langen Wellen im Kapitalismus“ (1980), die in zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurden. [1] Winfried Roth bezeichnete ihn in einer im Juli 2005 ausgestrahlten Sendung von DeutschlandRadio Kultur als „einen der einflussreichsten Vertreter der so genannten Neuen Linken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. [2] Die SED wiederum hielt Ernest Mandel für so gefährlich, dass sie ihm 1980 ein Buch mit dem Titel Der wahre Marxismus des Ernest Mandel widmete. 1990 stellte Ernest Mandel auf einer Veranstaltung, auf der er zusammen mit Jürgen Kuczynski sprach, fest: „Ich gehöre wohl zu den wenigen in Europa, die gleichzeitig in der BRD und in der DDR Einreiseverbot hatten.“ [3] Das war noch untertrieben: Mandel war die Einreise zeitweilig in rund einem Dutzend Ländern untersagt, so auch in Frankreich, in der Schweiz und in den USA. Der damalige Bundesminister des Inneren, Hans-Dietrich Genscher, argumentierte am 1. März 1972 im Bundestag, daß „mit der Einreise des belgischen Staatsangehörigen Ernest Mandel ... eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung entstehen“ konnte. Im übrigen habe Mandel „zum Kreis der Hintermänner der Pariser Mai-Unruhen des Jahres 1968 gehört.“ Auf die Frage des Abgeordneten Zander (SPD) „Kann ich Ihrer Antwort entnehmen, dass das ... eine zeitlich befristete Maßnahme ist?“, antwortete Genscher: „Es liegt an Herrn Mandel, die im Zusammenhang mit ihm entstandenen Befürchtungen dadurch auszuräumen, dass er von seinen revolutionären Zielen abrückt.“ Dieser Aufforderung des famosen freien Demokraten leistete Mandel offensichtlich nicht Folge; das Einreiseverbot wurde sechs Jahre lang, bis 1978, aufrecht erhalten. [4]
Mandels Analysen und Schriften beeinflussten Hunderttausende Menschen – allein die deutsche Ausgabe seiner Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie erlebte eine Gesamtauflage von mehr als 100.000 Exemplaren. [5] Viele seiner Arbeiten sind erfrischend aktuell, so seine Analysen des späten Kapitalismus und dessen Krisenerscheinungen, die sich heute wie Beiträge zu einer frühen Globalisierungsdebatte lesen. Anlässlich seines Todes gab sich die real existierende marxistische und liberale Prominenz die Ehre und publizierte Nachrufe – Elmar Altvater in der Süddeutschen Zeitung (Warten auf die Weltrevolution, 22.7.1995), Robert Kurz in der jungen Welt (Der letzte Klassenkämpfer – 22.7.1995), Joachim Bischoff im Neuen Deutschland (Symbolgestalt der 68er Bewegung, 24.7.1995), Rudolf Hickel in der Taz (Gegen das Chamäleon Kapitalismus, 22.7.1995) und Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau (Scharfsinnige Analysen, 22.7.1995).
Am zehnten Todestag von Ernest Mandel war weitgehend Schweigen angesagt. Die Bücher von Mandel – auch die genannten Standardwerke – sind kaum mehr verfügbar. Die Herausgabe von Gesammelten Werken von Ernest Mandel, die der Neue ISP-Verlag ab Herbst 2005 beginnt, ist ebenso erfreulich wie kühn.
Für mich, der ich 20 Jahre lang mit Ernest Mandel in persönlicher Freundschaft verbunden war und gemeinsam mit ihm drei Bücher veröffentlichte [6], gab es in der Person Mandel eine dreifache Einheit: Erstens leistete Mandel einen bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus. Anders als viele eher abgehobene Marxisten war – zweitens – sein Engagement immer mit der Tagespolitik verknüpft. Drittens verfügte Ernest Mandel über eine außerordentliche Überzeugungskraft, die vor allem junge Menschen begeisterte und die sich aus dem persönlichen Beispiel speiste.
Ernest Mandels Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie haben jenen Charakter, der das Werk von Karl Marx auszeichnet. Er selbst beschrieb diese Methode in der Marxistischen Wirtschaftstheorie folgendermaßen:
„Wir stützen uns ... auf die namhaftesten Wirtschaftstheoretiker, Ethnologen, Anthropologen, Soziologen und Psychologen unseres Zeitalters, soweit sie Erscheinungen der wirtschaftlichen Aktivität menschlicher Gesellschaften in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft beurteilen. Was wir zu zeigen versuchen, ist, dass man aus den empirischen Daten der heutigen Wissenschaft das gesamte ökonomische System von Karl Marx rekonstruieren kann ... Die große Überlegenheit der Marxschen Methode im Vergleich mit anderen ökonomischen Schulen beruht in der Tat in jener dynamischen Verbindung von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie.“ [7]
Es ist wichtig, den Heißhunger des Kapitals nach Mehrwert mit nackten Zahlen zu belegen. Beeindruckend plastisch wird die Darstellung dann, wenn sie mit historischen Beispielen verbunden und zugleich der Zynismus der Herrschenden dargestellt wird:
„Als die Löhne (Ende des 18. Jahrhunderts; W. W.) so tief gefallen sind, dass jeder Feiertag ein Hungertag bedeutet, zeigt sich Napoléon großherziger als sein Minister Portalis, als er dessen Vorschlag, die Sonntagsarbeit zu verbieten, zurückweist. ‚Da das Volk jeden Tag ißt, muß ihm auch erlaubt sein, jeden Tag zu arbeiten.‘“ [8]
Die „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ in Westeuropa, die die Voraussetzung für die industrielle Revolution war und, wie Marx es beschrieb, die „Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära“ darstellt, hängt eng mit der „Entdeckung der Gold- und Silberländer, der Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der einheimischen Bevölkerung in die Bergwerke, ... der Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“ zusammen.[9] Ernest Mandel lieferte in einem seiner spannendsten Aufsätze darüber hinaus den Nachweis, dass das aus Nord- und Südamerika im Zeitraum 1503 bis 1660 geraubte Gold und Silber, die aus Indonesien von 1650 bis 1780 herausgeholte Beute, die Gewinne aus dem Sklavenhandel im 18. Jahrhundert, die Gewinne aus der Sklavenarbeit in Britisch Westindien und die Plünderung Indiens im Zeitraum 1750 bis 1800 sich „auf eine Summe von mehr als einer Milliarde Goldpfund addiert, das heißt mehr als den Wert des gesamten Anlagekapitals in allen europäischen Industrieunternehmen um das Jahr 1800.“ [10] Das Startkapital für den ersten Einsatz im Großen Spiel des Kapitalismus – Ergebnis eines Raubes bei denjenigen Völkern, die eben deshalb auch 200 Jahre danach überwiegend in Elend leben.
Es fällt schwer zu entscheiden, was der wichtigste Beitrag Mandels für die Weiterentwicklung der marxistischen ökonomische Theorie ist. Topaktuell bleibt z. B. seine Analyse der Weltwährung Dollar – und des für ihn 1968 absehbaren „Sturzes des Dollar“ mit der Möglichkeit der Herausbildung „einer Reservewährung eines vereinigten Europas“. [11] Seine Analyse zur „Konkurrenz Europa – Amerika“ ist auch in der aktuellen Debatte zur Zukunft der EU von Bedeutung. Mandel betonte, dass die EWG sich nur zu einem neuen Staat und damit erst zur Herausforderung für die USA entwickeln könnte, wenn es zu einer „wachsenden internationalen Kapitalverflechtung innerhalb der EWG“, die letzten Endes die national geprägten Konzerne ersetzen würde, kommt.[12]
Spannend zur Begründung des nur theoretischen zeitweiligen Funktionierens und der grundsätzlichen Krisenanfälligkeit jeglicher kapitalistischer Produktion sind Mandels Analysen zur einfachen und erweiterten Reproduktion. Er fügte zu den zwei „Produktionsabteilungen“, die Karl Marx vorsah (die Konsumgüter und die Produktionsgüter herstellende Abteilung), eine dritte Produktionsabteilung, die Rüstungsproduktion, hinzu. Dieses ausführlich in „Der Spätkapitalismus“ entwickelte Thema ist für die aktuelle Debatte zur US-Hochrüstung interessant. Mandel betont dabei einerseits, dass „der Ausdehnung der permanenten Rüstungswirtschaft innere, objektive gesellschaftliche Grenzen gesetzt“ sind. Gleichzeitig unterstreicht er – wie bereits Rosa Luxemburg – die spezifischen Vorteile der Kapitalanlage in der Rüstungswirtschaft im „Spätkapitalismus“ und die Eigendynamik, die ein „militärisch-industrieller Komplex“ entwickeln kann. [13]
Ernest Mandel war als Ökonom auch Pädagoge. Er hielt Hunderte Seminare zum Thema Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie. Ein schmales Bändchen mit 76 Seiten Umfang resultierte daraus; es dürfte weltweit mehr als 500.000 mal gedruckt worden sein. [14] Einen ähnlichen Charakter hat Mandels Einführung in den Marxismus, die auch in dem kleinen, engagierten ISP-Verlag eine Gesamtauflage von bisher 19.000 Exemplaren erreichte. [15]
Viele Beiträge zu Ernest Mandel, die seine außerhalb der politischen Lökonomie liegenden Engagements nicht ausblendeten, streifen kurz die „trotzkistische IV. Internationale“, um sich dann anscheinend Interessanterem – zum Beispiel seinem Buch Ein schöner Mord. Die Sozialgeschichte des Kriminalromans – zuzuwenden. [16] Ohne Zweifel widmete Ernest Mandel einen großen Teil seiner Arbeitszeit dem Aufbau einer revolutionären Organisation – wie dies vor ihm Karl Marx, Friedrich Engels, W. I. Lenin und Leo Trotzki taten. Und zweifellos hatte die von Mandel maßgeblich bestimmte IV. Internationale (mit dem „Vereinigten Sekretariat“) keine große gesellschaftliche Relevanz. Ernest Mandel nahm die Organisationsarbeit so ernst, dass die Erstellung und Veröffentlichung seines ersten, grundlegenden Werkes, der Marxistische Wirtschaftstheorie, um viele Jahre hinausgezögert wurde. [17]
Doch Mandel war kein Sektierer. Und sein praktisches tagespolitisches Engagement beschränkte sich eben nicht auf kleinteilige Organisationsarbeit. Bei fast allen bedeutenden gesellschaftlichen Ereignissen in seiner politisch aktiven Zeit – beispielsweise im Generalstreik der wallonischen Arbeiterinnen und Arbeiter 1960/61 – war Mandel beteiligt.
Beispiel Kuba: In den Jahren 1963 bis 1965 gab es auf Kuba eine Debatte über die sozialistische Organisation der Ökonomie. Den Ausgangspunkt stellten die Positionen von Ernesto Che Guevara und dem maoistisch geprägten Ökonom Charles Bettelheim dar. Letzterer behauptete, in Kuba habe „das Wertgesetz weiter Gültigkeit“; es existiere „ein sozialistischer Markt, der berücksichtigt werden“ müsse. Guevara dagegen verteidigte das Primat einer gesellschaftlichen Planung. Ernest Mandel griff 1964 in die Debatte ein; seine Beiträge wurden in den kubanischen Blättern wiedergegeben. Er ergriff Partei für die Position von Guevara und argumentierte, dass die Gültigkeit des Wertgesetzes zwar „nicht bestritten“ werden könnte, es jedoch darum ginge, einen „zähen und langfristigen Kampf zwischen dem Prinzip des bewussten Plans und dem blinden Spiel der Wertgesetzes“ zu führen. [18] Che argumentierte gemeinsam mit Mandel:
„Der ökonomische Sozialismus ohne kommunistische Moral interessiert mich nicht. Wir kämpfen gegen das Elend, aber gleichzeitig kämpfen wir gegen die Entäußerung. Eines der wichtigsten Ziele des Marxismus ist es, das ... Gewinnstreben als psychologische Motivation aus der Welt zu schaffen ... Der Marxismus wird, wenn er sich nicht um das Bewusstsein kümmert, zu einer bloßen Methode der Verteilung werden, er wird sich dann aber nie zu einer revolutionären Moral entwickeln.“ [19]
Beispiel erste westdeutsche Krise: 1966/67 kam es in der BRD zu einer ersten Rezession. Obgleich der sprunghafte Anstieg der offiziellen Arbeitslosenzahl auf 750.000 beim heutigen Rückblick lächerlich erscheint, stellte diese Krise einen tiefen Einschnitt in der BRD-Geschichte dar. Die deutsche Studentenrevolte 1967–1969 und die „wilden Streiks“ 1969 und 1973 wurden durch sie beeinflusst. Auf der politischen Ebene war die Antwort eine Große Koalition (1966–1969) bzw. die sozialliberalen Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt (1969–1982). Wenige Monate nach dieser Rezession erschien eine Büchlein von Mandel zu diesem Thema. Es erlebte binnen weniger Monate acht Auflagen und hatte den Charakter einer Art angewandter marxistischer Wirtschaftstheorie. Ernest Mandel skizzierte am Ende dieser 60-Seiten-Schrift, wie eine sozialistische Alternative zum aktuellen Kapitalismus aussehen müsste und endete dann mit den Sätzen:
„Ist das eine Utopie? Es ist genauso utopisch wie die Proklamierung der Gleichheit der Menschen ... vor den Adligen des 15. oder 16. Jahrhunderts. Die materiellen Vorbedingungen zur Verwirklichung dieser freien sozialistischen Gesellschaft bestehen im Westen bereits heute. Die Alternative ist deutlich: Entweder erscheint der Gevatter Trend ... mit wachsender Erwerbslosigkeit, wachsender Ungleichheit, wachsender Unfreiheit und immer autoritärer ausgerichtetem Staat, oder wir erreichten die sozialistische Umgestaltung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse.“ [20]
Da es nicht zur Umgestaltung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse kam, marschierte seither der „Gevatter Trend“. Und dies in einem Maß – mit im Frühjahr 2005 mehr als fünf Millionen offiziell Registrierten Erwerbslosen – wie dies Ende der sechziger Jahre kaum vorstellbar war.
Beispiel BRD 1968: Der Internationale Vietnam-Kongreß, der im Februar 1968 in Westberlin stattfand, stellte den Höhepunkt der westdeutschen Studentenrevolte dar. Liest man heute die dort gehaltenen Referate und Debattenbeiträge – von Tariq Ali (London), Rudi Dutschke (Berlin), Erich Fried (London) oder Alain Krivine (Paris) – und vergleicht man diese mit dem Beitrag von Ernest Mandel, so springt bei letzterem sofort die enorme Spannkraft zwischen (Politischer) Ökonomie und (ökonomisch abgeleiteter) Politik ins Auge. Mandel stellte am Beginn seiner Rede fest: „Die Aggression des amerikanischen Imperialismus und die konterrevolutionäre Rolle Washingtons sind kein geschichtlicher Zufall.“ Er sah darin nüchtern ein Resultat des „Prozesses der internationalen Konzentration und Zentralisation des Kapitals.“ Dieser Prozess führe „zu einer Polarisierung der Kräfte auf weltweiter Ebene, bei der der amerikanische Imperialismus notwendig die globalen Interessen der stärksten, konsequentesten und aggressivsten Strömungen des Kapitals zum Ausdruck“ bringe. Mandel argumentierte in den folgenden Abschnitten ökonomisch (neue Abhängigkeit der USA von den Rohstoffen Eisenerz und Rohöl, Überkapazitäten in den USA, die im Ausland Anlage suchen), um dann strikt politisch zu schlussfolgern: „Das ist der rationale Sinn und das ist die Erklärung des Kriegs in Vietnam: die Warnung an alle Völker der Welt. Wenn sie es wagen sollten, für ihre Emanzipation zu kämpfen, werden sie dafür durch unzählige Ruinen und Tote bezahlen müssen – wie in Vietnam.“ [21]
Mandel orientierte als einer der wenigen Redner auf dem Kongress auf den Feind in der eigenen Region: Notwendig sei „eine allgemeine, einheitliche Aktion gegen die Nato in Europa.“ Er verwies dabei auf den „Plan Prometheus“, einen Nato-Plan, der 1967 in Griechenland umgesetzt worden war und zu dem faschistische Regime unter Patakos und Papadopoulos geführte hatte. In der Schlußerklärung des Kongresses hieß es dann in Punkt 3: „Gegen Nato-Basen in westeuropäischen Ländern wird in Aktionen und Demonstrationen eine Kampagne ´Zerschlagt die Nato´ geführt. In allen Ländern wird der Austritt aus der Nato ... gefordert.“ [22]
Die letzten Sätze von Ernest Mandel auf dem Vietnam-Kongress sind beispielhaft für die Kombination von Analyse und Vision, auch für die Verbindung zwischen Stringenz einer „pessimistischen“, rationalen Analyse und dem Optimismus des revolutionären Engagements. Mandel bilanzierte wie folgt:
„Ihr kennt alle die scharfen Worte von Karl Marx, dass das Kapital auf die Welt gekommen ist beschmutzt und befleckt mit Blut und Dreck, und wenn ihr die Geschichte des Ursprungs des Kapitals kennt, wenn ihr wisst, wie eine gerade Linie geht von den Sklavenhaltern und den Sklaventransporten bis zu den Finanziers der ersten großen Textilfabriken in Frankreich und England, dann wisst ihr, dass diese Worte von Karl Marx keine Übertreibung und keine romantische Verunglimpfung, sondern den Ausdruck der historischen Wahrheit darstellen. Heute erleben wir, wie das Kapital auch untergeht in derselben Form, wie es entstanden ist, das heißt, beschmutzt von Blut und Dreck, indem es versucht, größte Greuel in weltweitem Ausmaß gegen all diejenigen Völker zu begehen, die den Kampf gegen das Kapital aufgenommen haben. Aber diese Greuel sind nutzlos, das Kapital ist zum Tode verurteilt. Unsere Pflicht ist es, nicht passive Beobachter dieses historischen Prozesses zu sein, sondern uns darin einzuschalten.“ [23]
Meine erste persönliche Begegnung mit Mandel hatte ich 1971 als 22jähriger in der Garderobe des Otto-Suhr-Instituts in Westberlin. Nach einem Seminar mit Mandel zur „Übergangsgesellschaft“, an dem zweihundert Studierende teilgenommen hatten, wollten meine Freundin und ich, noch tief beeindruckt von Vortrag und Diskussion, unsere Mäntel in der Garderobe abholen. In dem ansonsten leeren Raum stand nur noch – Ernest Mandel. Wir waren einigermaßen verunsichert. Mandel ging auf uns zu, stellte sich vor und gab uns die Hand.
Am 23. September 1978 trafen sich in Oostende konspirativ Ernest Mandel und der zukünftige Multimillionenerbe eines Zigarettenimperiums, der damals mit der Vierten Internationale sympathisierte. Ein befreundeter Berliner Anwalt und ich waren mit von der Partie. Besprochen werden sollte, wie der jugendliche Erbe mit dem ihm bald anvertrauten Industriekonzern umgehen sollte und welche Ideen für erste zu finanzierende revolutionäre Projekte es geben würde. [24] Beim ersten Thema plädierte Mandel für den sofortigen Verkauf des Unternehmens. Er begründete dies damit, dass ein Linker an der Spitze eines solchen Konzerns seines Lebens nicht sicher sein könnte. Kurz darauf verfuhr der Erbe so. Bei den zu finanzierenden Projekten hatte ich die zugegebenermaßen kleinkrämerische Idee des Kaufs einer Druckerei für revolutionäre Pamphlete. Ernest Mandels Vorschlag lautete: Aufkauf einer internationalen Fluglinie. Bei dieser sollte dann einerseits business as usual gelten, andererseits sollten die in Sachen Weltrevolution wichtigen Flugreisen „für unsere Genossen“ gratis sein. Der Vorschlag für ein frühes miles & more-Programm wurde – soweit ich weiß – nicht realisiert.
Diese Debatten über große „Investitionen“ in die revolutionäre Sache fanden in einer Zeit statt, in der sich Ernest Mandel in außerordentlich prekären finanziellen Verhältnissen befand. Ähnlich wie im Fall des Widerspruchs zwischen persönlichen Publikationswünschen und der Organisationsarbeit sah Mandel jedoch seine eigene materielle Reproduktion als sekundär und der „revolutionären Sache untergeordnet“ an. [25]
Ernest Mandel sagte von sich selbst, er sehe viel durch „die rosarote Brille“. Sein Glaube an den Menschen und an dessen Fähigkeit zu sozialem Verhalten und zu emanzipativer Revolte bestimmte sein Engagement. Eine solche Einstellung dürfte charakteristisch sein für Revolutionäre. Es war ausgerechnet der „pragmatische“ W. I. Lenin, der postulierte: „Ein Revolutionär muß träumen können“. Doch Mandels „rosarote Brille“ trug auch zu „blinden Flecken“ und gravierenden Fehleinschätzungen bei.
Die von Trotzki übernommene Charakterisierung der Sowjetunion als „degenerierter Arbeiterstaat“ und die Bezeichnung anderer nichtkapitalistischer Gesellschaften wie China und DDR als „bürokratisierte Arbeiterstaaten“ oder als „Übergangsgesellschaften“ beinhaltete zwar formal, dass eine politische Revolution mit der Durchsetzung eines demokratischen Sozialismus ebenso möglich sei wie eine kapitalistische Restauration. Indem der grundlegende Charakter dieser Gesellschaften jedoch positiv besetzt war und als fortschrittlich charakterisiert wurde, und indem das Moment der jahrzehntelangen Erstarrung dieser Gesellschaften und der durch und durch konterrevolutionären Politik der jeweils herrschenden Nomenklatur unterbelichtet wurde, wurden politische Fehleinschätzungen begünstigt. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 wurde von Mandel kaum und von der IV. Internationale nicht kritisiert bzw. die Forderung nach einem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan wurde von beiden abgelehnt. Dies trug im übrigen zum Austritt von Tariq Ali aus der IV. Internationale bei. [26]
Die Einzigartigkeit der Vernichtung des jüdischen Volkes und die besondere Bedeutung des deutschen Nationalsozialismus hat Mandel lange Zeit nicht wahrgenommen. Sein 1986 in London erschienenes Buch Der Zweite Weltkrieg erwähnt den Holocaust eher am Rande. Erst in der deutschen Fassung von 1991 gab es – auch auf mein Drängen hin – ein ergänzendes Kapitel zum „Historikerstreit“, in dem erstmals die Singularität von Auschwitz umfassend hervorgehoben wurde. [27]
Die damit verbundene unterschiedliche Sichtweise verstärkte sich mit der „Wende“. Sie war überlagert von der bereits skizzierten Einschätzung, die Sowjetunion, DDR und China seien „deformierte“ oder „degenerierte Arbeiterstaaten“, in denen eine „politische Revolution“ zur Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaft auf der Tagesordnung stünde. Mandel sah in den Ereignissen 1989 bis 1991 in der UdSSR, DDR und Mittel- und Osteuropa fast ausschließlich die Chance zur Durchsetzung eines authentischen Sozialismus. Die Gefahren, die mit einer „deutschen Einheit“ verbunden waren, ignorierte er weitgehend. Die Parole „Nie wieder Deutschland“, der ich mich 1990 verbunden fühlte und mit der im Juni 1990 für eine Demonstration von 20.000 Menschen geworben und vor einem erstarkenden, imperialistischen Deutschland gewarnt wurde, lehnte Mandel strikt ab. Noch 1993 schrieb er mit Blick auf die Debatte zur „deutschen Einheit“: „Hinter unserer Differenz steckt ein interessantes Problem: der Unterschied zwischen Nationalismus (den wir als reaktionär bekämpfen) und Nationalgefühl, Identifizierung mit der Nation, das fortschrittlich ist.“ [28]
In Mandels Buch über Gorbatschow heißt es kategorisch:
„Man sollte die Hypothese der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion ausklammern. Wer annimmt, dass der liberale Flügel der Bürokratie aus einer Restauration des Kapitalismus Nutzen ziehen könnte, verkennt ... die weitreichenden Privilegien der sowjetischen Bürokratie, die bei einer solchen Entwicklung viel mehr verlieren als gewinnen würde.“ [29]
Inzwischen kann nicht bestritten werden, dass die führende Kraft bei der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion bzw. in Russland, in den mittel- und osteuropäischen Staaten, in China und in Vietnam jeweils aus dem Zentrum der vormals Kommunistischen Parteien kommt. Die Privilegien, die diese Schicht in den nichtkapitalistischen Gesellschaften genossen, konnten nicht nur in die kapitalistische Ära hinübergerettet werden. Vielfach haben die Ex-KP-Bürokraten und heutigen „Oligarchen“ größere Privilegien als vor der Wende. Die DDR bzw. die neuen Bundesländer in der BRD stellen nur insofern einen Sonderfall dar, als es hier der ehemaligen SED-Elite zunächst verwehrt wurde, diesen Transformationsprozess mit ähnlich hohem persönlichem Einsatz mitzugestalten und an ihm teilzuhaben. Auf diese Weise kam es zu einem „Sonderweg“, der jedoch bisher zumindest auf Ebene der Bundesländer Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ähnliche Ergebnisse zeitigt wie wir diese aus Russland, Mittel- und Osteuropa und China kennen.
Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher begründete 1972 das Einreiseverbot für Mandel – das im übrigen sechs Jahre aufrecht erhalten wurde – wie folgt:
„Die Entscheidung über die Zurückweisung (Mandels beim Zwischenstopp auf dem Flughafen Frankfurt/M. und dann das Einreiseverbot; W. W.) galt nicht dem marxistischen Wissenschaftler Mandel. Sie galt vielmehr dem Revolutionär Mandel.“ [30]
Heute sind die Erkenntnisse des marxistischen Wissenschaftlers Mandel von größerer Bedeutung als die eine und andere Position des Revolutionärs Mandel. So trug Mandel zur Weiterentwicklung der „Theorie der langen Wellen“ der Konjunktur bei. Während frühere Vertreter dieser Theorie wie Parvus, N. D. Kondratieff und J. Schumpeter von einem Automatismus ausgingen, wonach auf lange (20 bis 30 Jahre währende) Wellen mit expansivem Grundton und hohen Wachstumsraten solche (ungefähr ebenso lange) mit depressivem Grundton und niedrigen Wachstumsraten folgen – und die dann wiederum erneut in eine lange Welle mit hohen Wachstumsraten übergehen würde –, betonte Mandel, dass eine neue expansive Phase keiner inneren ökonomischen Logik folgen würde. Es seien in der Regel außerökonomische, politische Aspekte gewesen, die zu einem solchen Umschlag beigetragen hätten. So nannte er u. a. die Niederlagen der Arbeiterbewegung im Faschismus (in Deutschland und Italien), den Zweiten Weltkrieg und die damit zusammenhängende massiv erhöhte Ausbeutungsrate als solche politische bedingte Faktoren am Beginn der langen Welle nach dem II. Weltkrieg und als rationale Erklärung des „Wirtschaftswunders“.
Interpretiert man die Ereignisse im Gefolge der Wende 1989–1991 als eine Restauration des Kapitalismus in Gebieten, in denen rund 1,5 Milliarden Menschen und damit ein Viertel der Weltbevölkerung leben und in denen sich gewaltige, für die kapitalistische Produktion wichtige Ressourcen befinden, dann gab es am Ende der letzten langen Welle mit depressivem Grundton erneut weitreichenden politische Veränderungen, die einen neuen Aufschwung des Kapitalismus möglich machen würden. Mitte 1991 schrieb Ernest Mandel in einem Brief:
„Die Frage, die Du bezüglich der mittelfristigen ökonomischen Perspektive stellst, ist die Gretchenfrage für die kommenden Jahre. Ich bin mit Dir einer Meinung, dass sie eng verbunden ist mit jener der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR (Osteuropa ist zu klein, um eine neue expansive lange Welle abzusichern) und deren totaler Integration in den Weltmarkt. Eine erste Tendenz in dieser Sinne hat gewiß begonnen. Aber es liegt ein weiter Weg zwischen Anfang und Ende.“ [31]
Inzwischen ist die Restauration des Kapitalismus in Russland eine Tatsache. Vor allem kam es auch zur Restauration des Kapitalismus in China, was zum Zeitpunkt der zitierten Debatte kaum Thema war. Anfang der neunziger Jahre ahnte niemand, dass der neue – bereits stark von westlichen Konzernen durchsetzte – Kapitalismus in China sich bald als expansiver als der russische erweisen würde.
Insofern spricht einiges dafür zu prüfen, inwieweit wir es heute mit einer neuen politökonomischen Weltlage zu tun haben. Ganz offensichtlich gibt es zwei sich überschneidende und widersprüchliche Prozesse: Auf der einen Seite haben wir weiterhin die niedrigen Wachstumsraten und die tiefen Krisenerscheinungen im „klassischen Kapitalismus“ in Nordamerika, Westeuropa und in den USA. Auf der anderen Seite gibt es seit rund eineinhalb Jahrzehnten hohe Wachstumsraten in den zum Kapitalismus transformierten Gesellschaften von Mittel- und Osteuropa und vor allem in China.
Mandel beendete seinen Beitrag in unserem gemeinsam verfassten und 1977 erschienenen Buch Ende der Krise oder Krise ohne Ende mit Sätzen, die in vieler Hinsicht auch heute Gültigkeit haben:
„Die Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre bestätigt, dass das kapitalistische System ... sich, historisch gesehen, im Todeskampf befindet. Doch wir wissen, dass Todeskampf noch nicht automatisch Verschwinden bedeutet ... Wenn ... nicht rechtzeitig eine revolutionäre Arbeiterpartei aufgebaut wird, eine Partei mit Masseneinfluß ..., gleichzeitig jedoch die gesellschaftlich-ökonomischen Widersprüche immer explosiver werden, dann ist es möglich, dass die imperialistische Bourgeosie ... ein zweites Mal zu ´Heilmitteln´ Zuflucht nimmt, mit denen sie die Krise der dreißiger Jahre ´löste´. Sie würde sich dann bemühen, der Arbeiterklasse weltweit schwere Niederlagen beizubringen, die Profitrate mit Hilfe der verstärkten Ausbeutung der Arbeiter und einer erneut verstärkten Rüstung langfristig anzuheben und versuchen, die gesellschaftliche Stabilität durch einen ´starken Staat´, wenn nicht durch eine blutige Diktatur zu erlangen. Sie würde wieder Kurs auf Krieg nehmen. Das wären – in der Epoche der atomaren und biologischen Waffen – noch unendlich katastrophalere ´Heilmittel´, als sie es zu Zeiten Hitlers waren. Die allgemeine Krise der internationalen kapitalistischen Wirtschaft zeigt uns immer wieder die Aktualität des historischen Dilemmas: Sozialismus oder Barbarei!“ [32]
Mit dem Namen Ernest Mandel und seinem Engagement bleibt die Überzeugung verbunden, dass es sich lohnt, der kapitalistischen Barbarei zu trotzen und sich für eine alternative, sozialistische, demokratische Gesellschaft in Wort und Tat einzusetzen.
1. Eine relativ umfassende Bibliographie mit 46 deutschsprachigen Büchern von Ernest Mandel findet sich in: Gilbert Achcar (Hg.), Gerechtigkeit und Solidarität – Ernest Mandels Beitrag zum Marxismus, Neuer ISP-Verlag Köln 2003, S. 271 ff.
2. Winfried Roth, Theoretiker der globalen Krisen – Ernest Mandel zum zehnten Todestag, DLR-Kultur, DeutschlandRadio, 20. Juli 2005, 19.30 h.
3. Zitiert in DeutschlandRadio, a.a.O., Manuskript.
4. Aktuelle Stunde Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode – 174. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 1. März 1972, Protokoll Seiten 10083 ff.
5. Ernest Mandel, Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie, Verlag Neue Kritik 1967.
6. Ernest Mandel / Winfried Wolf, Weltwirtschaftsrezession und BRD-Krise 1974/75, Frankfurt/M. 1976 (ISP-Verlag); Ernest Mandel / Winfried Wolf, Ende der Krise oder Krise ohne Ende?, Berlin 1977 (Wagenbach Verlag); Ernest Mandel / Winfried Wolf, Cash, Crash & Crisis – Profitboom – Börsenkrach und Wirtschaftskrise, Hamburg 1988 (Rasch und Röhring).
7. E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970, S. 16.
8. A. a. O., S. 141.
9. Karl Marx, Das Kapital, Band I, S. 716.
10. Ernest Mandel, Die Marxsche Theorie der ursprünglichen Akkumulation und die Industrialisierung der Dritten Welt, in: Folgen einer Theorie – Essays über Das Kapital, Frankfurt/M. 1971 (Suhrkamp), S. 77.
11. E. M., Der Sturz des Dollars – Eine marxistische Analyse der Währungskrise, Westberlin 1973 (der zitierte Aufsatz trägt das Datum 1.12.1968) (Edition Prinkipo), S.145.
12. Ernest Mandel, Die EWG und die Konkurrenz Europa – Amerika, Frankfurt/M. 1969, S. 51. In der selben Schrift findet sich auch eine Passage, die ebenso typisch wie fatal ist für die marxistische Position in dieser Zeit:
„Aus all den Überlegungen sollte man keineswegs den Schluß ziehen, die Arbeiterbewegung Westeuropas habe ein Interesse daran, den Prozeß der internationalen Kapitalverflechtung zu bremsen ... Erstens wäre es sowieso utopisch, der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechende wirtschaftliche Veränderungen verhindern zu wollen ... Und zweitens liegt die historische Rolle der Arbeiterbewegung ... keineswegs darin, sich dieser oder jener Interessensgruppe des Großbürgertums ... zu unterwerfen ... Der internationalen Kapitalverflechtung muß die Alternative der historischen Notwendigkeit eines sozialistisch vereinten Europa entgegengesetzt werden und nicht jene des Rückfalls in bürgerliche Kleinstaaterei.“ (S. 99)
Mandel argumentiert hier wie teilweise Marx und Engels im 19. Jahrhundert, mit dem Unterschied, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zu dieser Zeit überwiegend fortschrittlich war, wohingegen sie im 20. Jahrhundert überwiegend destruktive Tendenzen zum Ausdruck bringt. In derselben Schrift von E. Mandel findet sich dann allerdings auch die folgende Passage:
„Das Fortschreiten der internationalen Kapitalverflechtung schwächt unvermeidlich das wirtschaftliche Potential der Gewerkschaften. Diese Schwächung ist nur relativ, solange die internationale Kapitalverflechtung noch in ihrem Anfangsstadium steht. Sie wird absolut, sobald diese Verflechtung einen bestimmten Punkt erreicht hat, an dem Quantität in Qualität umschlägt, d. h. an dem sich die entscheidenden Eigentumspositionen der entscheidenden Produktionsmittel über mehrere oder alle EWG-Mitgliedstaaten verteilen. Es ist offensichtlich, dass die Lütticher Stahlarbeiter die Streikwaffe kaum noch erfolgreich im Wirtschaftskampf anwenden könnten, wenn sich die Eigentümer über sechs Länder verteilen.“ (S. 100)
Darauf lässt sich nur mit einem „C’est ça!“ antworten, wie es Ernest oft tat. Wobei es dann jedoch unverständlich ist, weshalb man einen Prozess, der die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften schwächt, nicht kritisieren und sich diesem nicht entgegenstellen soll. Immerhin gab es dutzendfach Anlässe, dies konkret zu tun: so im Fall der vielen Erweiterungsrunden der EWG/EG/EU oder im Fall des Maastricht-Vertrags (von 1992). Und in einigen Ländern, so in den skandinavischen Staaten und in Österreich, gab es eine starke, auch fortschrittlich geprägte Bewegung gegen einen EWG/EG/EU-Beitritt. Zur Debatte EU-Entwicklung vgl. Winfried Wolf, Fusionsfieber – Das große Fressen, Köln 2001 (PapyRossa), S. 101 ff.
13. E. M., Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1972, S. 272 u. S 286 (Suhrkamp).
14. So entstand die Schrift Ernest Mandel, Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie aus Referaten, die Ernest Mandel 1963 auf einem Schulungslehrgang der französischen, linkssozialistischen Parti Socialist Unifié (PSU), die 1960 aus dem Zusammenschluss von drei sozialistischen Organisationen hervorgegangen war, hielt. Siehe Anmerkung [5]
15. Das Buch wurde von Lothar Boepple, einem verdienten Kommunisten und alten Freund von Ernest Mandel, übersetzt. Ich durfte 1979 als damaliger ISP-Verantwortlicher die Herausgabe der ersten Auflage betreuen und das Lektorat besorgen. Inzwischen gibt es die siebte Auflage: Ernest Mandel, Einführung in den Marxismus, Köln 2002, Neuer ISP Verlag.
16. E. M., Ein schöner Mord – Sozialgeschichte des Kriminalromans, Frankfurt/M. 1987 (Athenäum). Gisela Mandel schrieb mir dazu am 29.8.1978: „Als ich vor 15 Jahren vom SDS zur Vierten nach Belgien ging, war ich entsetzt zu sehen, dass Ernest sich nachts um 2h ... mit Krimis vor dem Schlafengehen eine halbe Stunde erholte. Ich hatte nie einen gelesen. Das tat man im Berliner SDS nicht. Inzwischen bin ich wie Ernest ... ´professioneller Krimileser´ ... Ich könnte Dir in Brüssel eine Kartei von rund 60 Krimi-Schriftstellern anbieten ... Wenn Ernest über 80 wird (denn bis dahin hat er bereits genügend Bücherpläne), so wird er ein materialistische Buch über Goya und eine Soziologie des Krimi schreiben. Goya finde ich eine dufte Idee. Aber das mit den Krimis mag ihm gerne ein anderer Marxist vorher abnehmen.“
17. Er schrieb dazu in einem Brief an mich, datiert auf den 4.3.1977:
„Ich habe mehr Verständnis für Deine Schwierigkeiten als Du das glauben könntest. Ich habe mich nämlich mit einem ganz ähnlichen Problem konfrontiert gesehen und sehr darunter gelitten. Im Jahre 1947 brach ich mein Uni-Studium abrupt ab um (23 Jahre alt) in der Führung der Internationale hauptamtlich tätig zu sein. Meine Doktorarbeit habe ich dann genau (25 (!) Jahre später fertiggestellt ... Mein erstes Buch brauchte genau 10 (!) Jahre Arbeit ‚nebenbei‘ (neben der Org.-Tätigkeit), bevor es gedruckt wurde (1952–1962), und ich habe mich oft gefragt ... ob sich die Org-Routine wohl lohnt, und ob ich nicht, auch für die Internationale, mehr hätte erreicht, wenn ich zwei oder drei Bücher wie das Traité (die Wirtschaftstheorie; W. W.), z. B. über die Übergangsgesellschaften und über die Revolutionen in der Dritten Welt geschrieben hätte. Heute ... bin ich dessen überzeugt, dass ich richtig gewählt habe.“
18. Nuestra Industria, 6/1964, Havanna.
19. Una profecia del Ché, in: Jean Daniel, Escorpion, Buenos Aires 1964.
20. Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise – Lehren der Rezession 1966/67, Frankfurt/M. 1969 (EVA), S. 56.
21. Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus, Internationaler Vietnam-Kongreß Westberlin, Westberlin 1968 (SDS Westberlin), S. 124 ff.
22. A. a. O., S. 160.
23. A. a. O., S. 134.
24. Nach: Brief von E.M. an mich vom 16.8.1978.
25. In zwei Briefen an mich beschrieb Gisela Mandel, Mandels Frau, diese Situation. Am 16.4.1977 schrieb sie:
„Wir, d. h. Ernest und ich , stehen finanziell schlecht. ... Ihr mögt das nicht glauben, aber es ist eine Tatsache, da unsere Privatfinanzen direkt mit denen der IV. liiert sind, so dass ich jetzt manchmal noch nicht einmal genügend Geld habe, um zu tanken.“
Am 10.5. 1977 hieß es:
„Ich bin nun meist in Paris und habe, ohne dass er (Ernest M.) es weiß, für morgens sehr früh und abends spät Jobs als Putzfrau angenommen mit 7 Mark die Stunde, um uns, d. h. mich ohne seine Unterstützung, einigermaßen über Wasser zu halten. Er wundert sich zwar, wie wenig ich ausgebe von dem, was er mir gibt, aber ich finde immer eine Ausrede ... Bis jetzt haut das hin, aber irgendwann wird er dahinter kommen, und ich bin sicher, dass es dann in 13 Jahren zum ersten Mal einen persönlichen Streit geben wird. Bis jetzt waren alle politisch.“
26. Am 31.10.1980 schrieb Mandel:
„Zu Afghanistan: Meine Position bleibt unverändert: gegen Einzug (Einmarsch; W. W.), gegen Abzug, wie Trotzki zu Finnland. Du unterschätzt die Bürgerkriegsdimension. Wenn heute Abzug, dann Djakarta, d. h. alle Linke, ob pro- oder anti-Moskau werden umgebracht. Das bestätigen auch die paar afghanischen Genossen, die wir gewonnen haben, obwohl sie im übrigen eher Deiner Position zuneigen.“
Vor allem Tariq Ali betonte in seiner Kritik an dieser Position der IV. Internationale, dass der sowjetische Einmarsch den islamischen Fundamentalismus steigern müsste. Ich antwortete in einem Brief an E. M. Vom 9.11.1980:
„Ich bin mir weder sicher, ob es bei einem sowjetischen Abzug tatsächlich zu einem ‚Djakarta‘ kommen muß. Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ein solches ‚Djakarta‘ nicht gerade durch Moskau herbeigeführt wird. ... Im übrigen gilt: Wenn man den Einmarsch verurteilt und seine guten Gründe dafür hat, muss man auch den Abzug fordern.“
27. E. M., Der Zweite Weltkrieg, Frankfurt/M. 1991 (ISP-Verlag). Brief W. W. an Mandel vom 5.2.1989 und Antwort von E. M. an W. W. vom 20.2.1989.
28. Brief E. M. an W. W. vom 8.3.1993. In meiner Antwort (Brief vom 13.6.1993) heißt es:
„Das stößt bei mir auf heftigen Widerspruch, soweit es ein imperialistisches Land und soweit es Deutschland betrifft ... Was soll daran fortschrittlich sein, wenn jemand in Deutschland erklärt, er ‚identifiziere sich mit der deutschen Nation‘. Ganz abstrakt ist denkbar, dass er meint, er liebe die deutsche Kultur, die Landschaft in Deutschland etc. ... Im konkreten gesellschaftlichen Kontext jedoch wird jedes Nationalgefühl in Deutschland sich als reaktionär erweisen. ... Ich gebe zu bedenken, dass bei den Folgen der Wiedervereinigung, den ökonomischen und den national-reaktionären, wir, rückblickend betrachtet, sicher nicht übertrieben haben.“
29. E. M., Das Gorbatschow-Experiment – Ziele und Widersprüche, Frankfurt/M. 1989 (Athenäum), S. 19. Dort heißt es auch:
„Eine Revolution von oben (zur Restauration des Kapitalismus) würde also bedeuten, dass sich die herrschende klasse oder Klassenfraktion selbst liquidiert. Das hart es in der Geschichte noch nie gegeben und das wird auch in Zukunft nicht eintreten.“ (Ebenda, S. 272)
30. Bundestagsprotokoll vom 1. März 1972.
31. Brief E. M. an W. W. vom 26.6.1991.
32. E. M./W. W., Ende der Krise oder Krise ohne Ende, a. a. O., S. 110 f.
Zuletzt aktualisiert am 1. Juli 2023