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Aus Die Neue Zeit, 32. Jahrgang, 1. Band, Nr. 9 (28.
November 1913), S. 310–320.
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Der am 10. November beendete Kiewer Ritualmordprozess bildet eines jener wenigen Gerichtsdramen, die sich trotz der relativen Geringfügigkeit ihres Ausgangspunktes zu historischen Begebenheiten gestalten, für lange Zeit hinaus das Bewusstsein des Landes beeinflussen und nicht selten eine Scheidelinie zwischen zwei politischen Epochen bilden.
Das ganze Russland, wie es ist, mit allen seinen sozialen und nationalen Widersprüchen und ungeheuerlichen Kulturkontrasten spiegelt sich direkt oder indirekt in dem leidenschaftlichen Kampfe, der, durch die Ermordung eines aufsichtslosen Knaben heraufbeschworen, um das Schicksal eines unbekannten jüdischen Fabrikangestellten tobte.
Die schwarzen Regisseure des gegen das jüdische Volk gerichteten Feldzugs wagten es, eine aus der Zeit der Hexenverbrennung stammende unsinnige Beschuldigung im zwanzigsten Jahrhundert nur deshalb zu erheben, weil sie eine mächtige Stütze hinter sich fühlten. Zar Nikolaus II. der unter dem Einfluss dunkler Abenteurer steht, die den Beruf eines Pferdediebes mit dem eines „Wundertäters“ bei Hofe vertauscht haben, wollte um jeden Preis den Nachweis für das Bestehen jüdischer Ritualmorde erbracht wissen. Fanden sich auch, wie in der Presse angedeutet: wurde, unter den zarischen Ministern solche, die sich gegen diese Bloßstellung des offiziellen Russland vor der ganzen Welt sträubten – und Herr Kokowzew zitterte sicherlich bei dein Gedanken, wie er Rothschild ins Gesicht blicken sollte [1] –, so gewannen doch die servilsten unter den Ministern die Oberhand, und der ehrloseste von ihnen, der Justizminister Schtscheglowitow, der frühere Stolz der „liberalen“ Magistratur, übernahm die Aufgabe, einen Ritualmordprozess mit einer für den Zaren so erwünschten Verurteilung in Szene zu setzen.
Alle Kräfte der Staatsgewalt wurden in Bewegung gebracht. Man entsetzte die Untersuchungsrichter und die Geheimpolizisten, die der objektive Sachverhalt von dem Wege der Ritualmordversion abgedrängt hatte, ihres Amtes, man stellte die renitentesten von ihnen vor Gericht, man terrorisierte die örtlichen Verwaltungsbehörden und alle Personen, die der Untersuchung nahe standen, man wechselte die Staatsanwälte, man wählte „Sachverständige“ aus den Reihen gebrandmarkter Betrüger und toller Narren, man stützte sich mit verzehnfachter Energie aus die oppositionelle Presse und krönte das ganze Werk durch eine sorgfältige Auslese der Geschworenen.
Dafür nahm aber auch der Widerstand einen unerwarteten Umfang an. Die Vorgeschichte dieses rituellen Gerichtsdramas beginnt am Anfang des Jahres 1911, wo die einsetzende politische Belebung zunächst nur schwache Keime zeigte, während die Reaktion nach Verausgabung aller ihr zu Gebote stehenden Mittel bereits anfing, sich nach neuen äußeren Antrieben für ihre Heldentaten umzusehen. Die Handlung selbst jedoch fällt mindestens in dem Teil, der mit der Beilis-Affäre verknüpft ist, in eine Epoche, die, von dem Ausgangspunkt um fast drei Jahre abstehend, gekennzeichnet wird durch eine stürmische Gärung in den Städten, durch politische Massenstreiks, Universitätsunruhen, Proteste verschiedener Korporationen, das Anwachsen der oppositionellen Presse und zunehmende Bedeutung der Arbeiterblätter. An und für sich konnte die von der aggressiven Reaktion auf die Tagesordnung gestellte Frage, ob das Judentum zur Zeit der Flugschilfe und Aeroplane Christenblut verwendet, eine Frage, die in ihrer Ungeheuerlichkeit auf die Psychologie der rückständigsten Bauernmassen berechnet ist, in den Städten nur ein Gefühl der Empörung und der grenzenlosen Scham hervorrufen. Selbst sehr gemäßigte Elemente erschraken vor der kriminellen Zügellosigkeit der Reaktion, die endgültig die Fähigkeit verloren hatte, sich in den Zeitverhältnissen zu orientieren. Außer der in den oberen Kreisen einflussreichen Nowoje Wremja, sicherlich der niederträchtigsten, schmutzigsten Zeitung auf unserem im allgemeinen keineswegs sauberen Planeten, nahmen nur etwa ein Dutzend wenig gelesener Pogromblätter die Losung des Ritualmordes auf. Der in Kiew erscheinende Kijewljanin, das leitende Organ der Nationalisten, die sich vorzugsweise aus dem Südwestgebiet rekrutieren, beeilte sich, noch rechtzeitig das unsichere Schifflein der Ritualmordanschuldigung zu verlassen. Die gesamte übrige Presse begann eifrig die öffentliche Meinung gegen die Anstifter des mittelalterlichen Prozesses zu mobilisieren. Da aber die Bande der „Ritualisten“, bestehend aus professionellen Kiewer Dieben, den wirklichen Mördern des Knaben, und aus Beamten der Polizei und der Gerichte, von dem Zaren aller Reußen ermutigt wurde, nahm die Agitation gegen die Blutanschuldigung, unabhängig von dem Willen der liberalen Zeitungsschreiber und Politiker, den Charakter einer revolutionären antimonarchischen Bewegung an. Diese Tatsache wurde am deutlichsten von der Polizei selbst unterstrichen, die die Zeitungen wegen der Entlarvung der Diebesbande der Frau Tscheberjak mit einem Eifer konfiszierte, als handelte es sich um die fürchterlichsten Beleidigungen Seiner Majestät des Zaren. [A] Die Agitation der Presse wurde durch Kollektivaufrufe der populärsten Schriftsteller und Politiker, durch Resolutionen der gelehrten Gesellschaften und der Korporationen der liberalen Berufe ergänzt. Und als die entschiedenste und imposanteste Demonstration gegen die organisierte Fälschung des Gerichtes traten die Massenstreiks der Arbeiter in die Erscheinung, die dem Märchen über den „volkstümlichen“ Charakter des antisemitischen Feldzugs den Todesstoß versetzten.
In dem Maße also, wie die Beilis-Affäre ihre verschiedenen Etappen durchschritt, zogen sich ihre Fäden nach allen Richtungen hin: in die Salons des Petersburger Hofadels und in die revolutionären Arbeiterviertel, in die liberalen Zeitungsredaktionen und in die orthodoxen Klöster, in die Diebesspelunken und in das Schloss des Zaren.
„Seht, das ist der Liberalismus, die Demokratie, die Revolution!“ sprach die eine Seite. „Seht euch diese geheimnisvolle jüdisch-freimaurerische Organisation mit ihrer mächtigen internationalen Regierung an der Spitze an; sie hat sich’s zur Ausgabe gestellt, die ganze christliche Welt ihrem Willen zu unterwerfen, und aus dem Wege dahin stärken sich die an leitender Stelle stehenden Juden mit dem Blute von Christenkindern!“
„Seht,“ entgegnete die andere Seite, „wohin die herrschende Reaktion geführt hat: sie ist gezwungen, mittelalterliche Prozesse aufleben zu lassen, um ein günstiges Milieu für ihre weitere Existenz zu schaffen!“
In dieser Atmosphäre gesteigerter politischer Leidenschaften, in der die feindlichen Heerlager sich gegeneinander mobilisierten, verschwanden die Klassengegensätze natürlich keinen Augenblick. Aber die Gruppierung der feindlichen Kräfte vollzog sich auf einer sehr vereinfachten Basis: das siebzehnte Jahrhundert stand dem zwanzigsten gegenüber! Und unser russisches siebzehntes Jahrhundert, das das Erbteil des europäischen Mittelalters übernommen hat, erlitt aus der ganzen Linie eine schmähliche Niederlage.
Die Ordnung des Gerichtsverfahrens, die in der Regel um so pompöser unterstrichen wird, je mehr das Gericht selbst sich prostituiert, geht unter anderem von der Fiktion aus, das Gericht sei vollständig frei von politischen Leidenschaften und nationalen Vorurteilen. In dem Kiewer Prozess ist von dieser heuchlerischen Lüge keine Spur übrig geblieben: es war für alle und jeden klar, dass der Mechanismus des Gerichtes durch Treibriemen in Bewegung gesetzt wurde, die über die Schwungräder der junkerlich-monarchischen Reaktion und des Pogromchauvinismus liefen.
Das ganze russische Reich ging vor den Augen des Gerichtes vorüber: der Schuhmacher aus dem städtischen Vorort, der jüdische Kapitalist, der bäuerliche Fuhrknecht, der Polizeispitzel, Straßenkinder, liberale Journalisten, Diebe, der getaufte Jude in der Rolle des orthodoxen Mönches, der Zuchthäusler, Straßendirnen, der Priester, der Gendarmerieoffizier, der bankrotte Inhaber einer Leihkasse in der Rolle eines führenden „Patrioten“, ein früherer Revolutionär als freiwilliger Detektiv, ein Rechtsanwalt als Zeuge, Professoren der Medizin, ein katholischer Priester, Professoren der geistlichen Akademie und ein jüdischer Rabbiner – Diebe und „anständige“ Leute, Spezialgelehrte und fanatische Narren, die Hefe der Pogromreaktion und Absplitterungen der Revolution – alle diese Elemente gingen vor den erstaunten Augen von zwölf unaufgeklärten Leuten, vorzugsweise Bauern, vorüber, die von dem Justizministerium als die bequemsten Richter in dem mittelalterlichen Prozess absichtlich herangezogen worden waren.
Der tatsächliche Verlauf und die grellsten Episoden des Prozesses sind dem Leser sicherlich aus den Zeitungsberichten bekannt. Wir wollen hier diese zerstreuten Einzelheiten zu einem großen Bilde bereinigen, das an sich weit beredsamer spricht als alle politischen Erwägungen, die hieran geknüpft werden können.
Am 20. März 1911 wurde in einer Höhle, in der Nähe eines Kiewer Vorortes der grausam zerstochene Leichnam eines Knaben gefunden. Noch bevor die Untersuchung irgend etwas festzustellen vermocht hatte, erhielt die Mutter des getöteten Knaben von irgendwoher einen anonymen Brief, der ihr mitteilte, ihr Sohn sei von den Juden zu rituellen Zwecken ermordet worden. Der Stadtarzt, der die Obduktion ausführte, erhielt schon vor der Obduktion einen anonymen Brief aus der Stadt, der behauptete, der Knabe Juschtschinski sei dem jüdischen Fanatismus zum Opfer gefallen. Während der Beerdigung des Knaben wurden auf dem Friedhof Flugblätter verteilt, in denen die Christen aufgefordert wurden, den Tod des Knaben an den Juden zu rächen. Ein bei der Flugblattverbreitung verhaftetes Subjekt stellte sich als ein bei der Polizei wohlbekannter Verbrecher und Mitglied des Patriotenbundes „Der Doppeladler“ heraus – zwei Eigenschaften, die der Natur der Dinge nach wohl zusammenstimmen.
Die Presse der Schwarzen Hundert erhob gleichsam auf Kommando ein Geschrei über den rituell-jüdischen Charakter der Kiewer Mordtat. Der Verband des vereinigten Adels – die Kampforganisation der russischen Junker, von der die Initiative zu sämtlichen Maßnahmen der Gegenrevolution ausgeht – gab eine Sammlung der Berichte über alle Ritualmordprozesse heraus und regte die weitere Einschränkung der Rechte der Juden in Russland an. Der ehemalige Staatsanwalt und jetzige Führer der extremen Rechten in der Duma, der Abgeordnete Samyslowski, verfasste eine Agitationsbroschüre über die „von den Juden zu Tode Gemarterten“, zu denen er auch den Andreas Juschtschinski zählte. Zugleich regte der „Verband des russischen Volkes“, um der ganzen Hetze einen volkstümlichen Charakter zu verleihen, vor dem Synod die Heiligsprechung des ermordeten Knaben an. Dieser Vorschlag musste indessen wieder fallen gelassen werden, da die Prozessakten indirekte Hinweise darauf enthielten, dass der Knabe einer Diebesbande nahe stand, die eine der Kiewer Kathedralen zu berauben beabsichtigte.
Da die Kiewer Detektivpolizei, den Ergebnissen der gerichtlichen Untersuchung folgend, die Spuren des Verbrechens auf einem ganz anderen Gebiet zu verfolgen begann, erhoben die Pogromblätter abermals ein wüstes Geschrei über die angebliche Bestechung der Untersuchungsbehörden durch den internationalen jüdischen „Kahal“. [2] Die Regierung schwankte, da sie sich doch nicht zu der Kapitulation vor den offenkundig verbrecherischen Bestrebungen der schwarzen Bande zu entschließen vermochte. Nun brachte die extreme Rechte, unter der Führung des obengenannten Samyslowski, sechs Wochen nach dem Auffinden des Leichnams eine Interpellation in der Duma ein, in der die Regierung aufgefordert wurde, aus ihrer schwächlichen Zurückhaltung herauszugehen und die Ritualmordverschwörung der Judenschaft aufzudecken. Es wurde bekannt, dass Nikolaus II. sich auch diesmal an die Spitze der Pogromisten gesteht hatte. Die Regierung kapitulierte vor dieser Tatsache. Die Voruntersuchung ging nun von der einen Hand in die andere über, bis eine geeignete Person gesunden wurde, die es verstand, den hohen Auftrag auszuführen. Der Chef der Kiewer Detektivabteilung, Mischtschuk, der sich als unfähig erwies, die jüdischen „Rabbiner“ zu entdecken, denen man den Mord an dem Knaben Juschtschinski zuschrieb, wurde zunächst seines Amtes enthoben und dann mit ungewohnter Strenge wegen einer jener Fälschungen gerichtlich verurteilt, von denen es in der Amtstätigkeit der russischen Polizeiagenten überall wimmelt, ohne dass Aufhebens davon gemacht wird, und die überdies im gegebenen Falle kaum auf das Konto Mischtschuks geschrieben werden konnte. Selbst der Petersburger Polizeispitzel Kuntzewitsch, der Stolz der hauptstädtischen Polizei, erwies sich nach kurzer Zeit als unfähig, Beweise für einen Ritualmord zu entdecken. Auch er wurde in dem Augenblick kaltgestellt, wo die Gefahr auftauchte, dass er die wirklichen Spuren des Verbrechens aufdecken würde. Auf die Forderung der Kiewer „patriotischen“ Organisationen hin wurde nun die Untersuchung dem in Südrussland wohlbekannten Detektiv Krassowski überwiesen, und zwar wurde ihm in feierlicher Sitzung die Anweisung erteilt, nicht in den Spuren seiner Vorgänger zu wandeln, sondern die Untersuchung vom ersten Augenblick an in „richtige“ Bahnen zu lenken. Jeder Schritt Krassowskis wurde von der Organisation der Pogromisten überwacht, an deren Spitze der echt russische Tscheche Rosmitalski, der bankrotte Inhaber einer Leihkasse, stand. Nach einer Reihe fruchtloser Versuche, Material gegen die jüdischen Rabbiner und Schächter [3] und die jüdischen Angestellten der benachbarten Ziegelfabrik herbeizuschaffen, gelangte Krassowski auf die Spur der wirklichen Mörder – einer Diebesbande, die, mit oder ohne Grund, den Knaben Juschtschinski als Verräter betrachtet hatte. Um nicht vor dem Abschluss der Untersuchung seines Amtes enthoben zu werden, suchte Krassowski seinen inoffiziellen Vorgesetzten, den Echtrussen Rosmitalski, dadurch über die Sachlage hinwegzutäuschen, dass et ihm versprach, baldigst den Beweis für den Ritualmord zu erbringen. Zu dieser Zeit jedoch verhaftete die Gendarmeriepolizei [4], die zu dieser Angelegenheit in keiner Beziehung stand, über den Kopf Krassowskis hinweg den jüdischen Angestellten der Ziegelfabrik Mendel Beilis, und zwar erfolgte diese Verhaftung auf Grund des Reglements über den verstärkten Schutz, das gewöhnlich in Fällen herangezogen wird, wo selbst vom Standpunkt der Gendarmeriepolizei keine Schuldbeweise gegen den vermeintlichen „politischen Verbrecher“ vorhanden sind. Die Verhaftung des Beilis, als des dem Fundort des Leichnams am nächsten wohnenden Juden, gibt endlich den Ritualmordhetzern jeden Ranges die heißersehnte Gelegenheit, alle Fälschungen und lügnerischen Bezichtigungen gegen eine bestimmte Person zu konzentrieren.
Da Krassowskis Untersuchung einen die Ritualmordfälschung bedrohenden Charakter annimmt, wird auch er wie seine Vorgänger kaltgestellt und aus dem Amte gejagt. Damit nicht genug, wird er, da er zu seiner Rehabilitierung die Untersuchung aus eigene Faust fortsetzt, dem Gericht übergeben, und zwar wegen Vergehen, die er während seiner Amtsdauer begangen haben soll, darunter wegen einer zehn Jahre zurückliegenden angeblichen Fälschung. Krassowski wird verhaftet, aber das Gericht spricht ihn frei.
Um diese skandalösen Vorgänge zu vertuschen, schimpft die Pogrompresse über die systematische Bestechung und Verführung der engelreinen Beamten der russischen Geheimpolizei durch den jüdischen „Kahal“. Die Leiter der schwarzen Bande jedoch sind wegen der Langsamkeit und Unschlüssigkeit der Behörden im höchsten Grade empört. Im November 1911 wird eine zweite Interpellation in der Duma eingebracht, die von dem Justizminister mit dem Versprechen energischer Maßnahmen beantwortet wird.
Der Untersuchungsrichter Fenenko der bis dahin die Untersuchung geleitet hatte, wird nun durch den aus Petersburg gesandten Untersuchungsrichter für besonders wichtige Angelegenheiten, Maschkewitsch, ersetzt, der, durch das Schicksal seiner Vorgänger gewarnt, weder nach rechts noch nach links abweicht, sondern dem ersehnten Ziele ohne Umwege zustrebt. Maschkewitsch sammelt allen Klatsch, alle falschen Bezichtigungen, alle Fälschungen, die wegen ihre völligen Untauglichkeit von seinen Vorgängern abgelehnt worden waren, er konzentriert das ganze Material gegen Beilis und bemüht sich, den endlich in die Bahnen der Ritualmordanschuldigung gelenkten Prozess durch Aussagen „wissenschaftlicher Sachverständiger“ angemessen aufzuputzen. Nach langem Suchen und einer Reihe von Misserfolgen findet er endlich den schwachsinnigen Psychiater Sikorski und den katholischen Pater Pranaitis, der, als Betrüger und Erpresser entlarvt, seinerzeit aus Petersburg verschwinden und in Zentralasien untertauchen musste.
Von diesem Augenblick an ist die Richtung der Anklage entschieden. Die Ankläger verfügen über „wissenschaftliche“ Gutachten, die auf Ritualmord lauten, über Dutzende dicker Aktenbände, mit denen die Geschworenen erdrückt werden können, vor allem aber verfügen sie über einen leibhaftigen Juden mit gebogener Nase und schwarzem Barte, der auf die Anklagebank geschleppt werden kann. In dieser Vorgeschichte des Prozesses ist bereits die gange Prozedur des Kiewer Gerichtsdramas vorgezeichnet.
Noch drohten aber aus der Zusammensetzung der Geschworenen große Gefahren für die Anklage. Indes auch hier wurden Mittel und Wege gefunden, um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Der Hauptmacher des Prozesses, der Dumaabgeordnete Samyslowski. die niederträchtigste, schändlichste Figur in der Verbrechergalerie des konterrevolutionären Russland, wurde nicht müde, die Gerichtsbehörden in einem fort zu erinnern, dass städtische Bürger als Geschworene ein völlig unzulängliches Element darstellten. Seine Bemühungen wurden von Erfolg gekrönt: für den Beilis-Prozess, in dem eine komplizierte medizinische, historische und rituell-talmudistische Expertise bevorstand, wurde eine Geschworenenbank zusammengestoppelt, die in den Annalen des Kiewer Schwurgerichtes ohnegleichen dasteht; als Geschworene fungierten in dem Prozess zum größten Teil unwissende, von der antisemitischen Hetze vergiftete Bauern aus dem Kiewer Gouvernement und als Obmann – ein Subalternbeamter, der während der ganzen Dauer des Prozesses seine Liebedienerei vor den Anklägern offen zur Schau trug. Als Ankläger figurierte der aus Petersburg herbei gesandte junge Staatsanwalt Wipper, ein echt russischer Deutscher, der, völlig dem rücksichtslosesten Strebertum ergeben, eine der schlimmsten Abarten des russisch-baltischen Typus repräsentiert.
Die deutsch-baltischen Junker, in knechtischer Ergebenheit für den Zarismus erzogen, von Hass und Verachtung gegen die lettische Bauernbevölkerung erfüllt, spielen bekanntlich in der russischen Diplomatie, in der Staatsanwaltschaft und in der Gendarmerie eine große Rolle und züchten den bürokratischen Nihilismus in Reinkultur – ohne nationales Bewusstsein, ohne Zusammengehörigkeitsgefühl mit der einheimischen Bevölkerung, ohne Gewissen und ohne Ehre. Übrigens sei bemerkt, dass die Bescheidenheit der geistigen Fähigkeiten des offiziellen Anklägers nicht minder groß war wie sein böser Wille. Während des ganzen Prozesses wurde er von Samyslowski gegängelt, der als Zivilkläger in Wirklichkeit die Leitung des Prozesses an sich riss. Als zweiter Zivilkläger trat ferner der Rechtsanwalt Schmakow auf, ein erfahrener „Judenfresser“, der unter anderem dadurch bekannt geworden ist, dass er in einer seiner Schriften den altgriechischen Paris, den Entführer der schönen Helena, wegen seiner schlimmen sittlichen Qualitäten für einen Juden erklärte. Als Helfer des Staatsanwalts trat endlich ein zweiter Deutscher mit echt russischer Seele und einem symbolischen Namen auf – er hieß Mörder –, Beamter für besondere Aufträge bei dem Kiewer Generalgouverneur. Unter der Maske eines Zeugen suchte er durch vielsagende Andeutungen den Geschworenen den Gedanken beizubringen, die Juden hätten das Blut des ermordeten Knaben für die Einweihung des in jener Zeit im Bau begriffenen jüdischen Gebethauses gebraucht.
Der ganze Prozess, der sich über einen Monat hinzog, ist glücklicherweise in den stenographischen Berichten eines Kiewer Blattes verewigt worden – als ein furchtbares kulturhistorisches Dokument unserer Zeit. Trotz der frivolen Voreingenommenheit des Vorsitzenden und der mitunter Staunen erweckenden Unschlüssigkeit und Nachgiebigkeit der liberalen Verteidiger, die fürchteten, die Geschworenen zu erbittern, in denen sie Angehörige der Schwarzen Hundert vermuteten, hat der Kiewer Prozess ein ganz einzig dastehendes Bild einer Verschwörung von Polizei, Staatsverwaltung und Gericht entrollt. Im Interesse ihrer antisemitischen Pogromhetze beschloss diese Bande uniformierter Zuchthäusler, den zufällig in ihre Hände geratenen jüdischen Arbeiter, dessen Leben von ehrlicher Arbeit und harten Entbehrungen erfüllt war, auf die Gerichtsfolter zu spannen.
Man hat die Beilis-Affäre vielfach mit dem Dreyfus-Prozess verglichen. Eine gewisse Analogie ist hier zweifellos vorhanden. Aber der Abstand zwischen diesen beiden Begebenheiten ist ebenso groß wie der zwischen dem jesuitischen Salonantisemitismus in Frankreich und dem kriminellen Pogromistentum in Russland, wie zwischen dem gebildeten Zyniker Poincaré, der weder an Gott noch an den Teufel glaubt, und dem Zaren Nikolaus, der heute noch überzeugt ist, dass die Hexen auf einem Besenstiel durch den Schornstein in die Luft fahren. Der Offizier Dreyfus wurde des militärischen Verrats beschuldigt; die Beschuldigung selbst enthielt nichts Ungeheuerliches, ungeheuerlich war nur die wissentlich falsche Anschuldigung. Aber wenn ein simpler jüdischer Arbeiter, der den Dogmen der Religion ziemlich gleichgültig gegenübersteht, dafür aber die Schule der Kiewer Pogrome und der allgemeinen jüdischen Rechtlosigkeit durchgemacht hat, plötzlich dem Kreise seiner Familie entrissen und beschuldigt wird, er, Beilis, habe ein lebendiges Kind zur Entblutung, gebracht, um das Blut zu Ehren seines Jehova zu konsumieren, so braucht man sich nur für einen Augenblick in die Lage dieses Unglücklichen hineinzuversetzen, der 26 Monate im Gefängnis zu schmachten hatte, und vor Grauen und Entsetzen stehen einem die Haare zu Berge!
In Anbetracht des völligen Mangels irgendwelcher Schuldbeweise gegen Beilis stellte sich das Gericht, das in allen Dingen der Anklage entgegenkam, die Aufgabe, den Geschworenen ein Gefühl des Hasses gegen den Juden Beilis einzuimpfen. Kein Aberglaube, keine Vorurteile wurden zu diesem Zwecke verschmäht.
Als „wissenschaftliches“ Material wurde zudem noch das Buch des getauften moldauischen Juden Neophit verlesen, ein Sammelsurium der Tollheit und der teuflischsten Verleumdung, in dem beispielsweise behauptet wird, auf jüdische Speisen setze sich aus der Luft Blut an, von dem die Juden stürben, und nur eine mit Christenblut beschmierte Gabel rette die Juden vor dem Tode. Ferner wurden Auszüge aus der „gelehrten“ Schrift eines anderen jüdischen Renegaten namens Serafimowitsch verlesen, in der der Verfasser erklärt, er selbst habe ein Christenkind abgeschlachtet, wobei das Blut des Kindes weiß wie Milch gewesen sei. Mit allem Eifer wurde endlich die Grausamkeit der Juden in ihren Kriegen gegen die Amalekiter erörtert, und diese ganze trübe Schlammflut wurde auf die Person des angeklagten Beilis. ausgeschüttet.
Mit einer Beharrlichkeit sondergleichen befragten die Ankläger sämtliche Zeugen über die beiden furchtbaren „Zadiks“ Ettinger und Landau, die angeblich zur Abschlachtung des Knaben Juschtschinski zu Beilis gekommen waren; eine mystische Wolke ballte sich um diese beiden Namen zusammen, bis die angeblichen „Heiligen“ auf den Ruf der Verteidigung selbst aus dem Ausland herbeieilten. Der eine erwies sich als ein junger österreichischer Grundbesitzer, der mit dem Ritual der Wiener Nachtlokale ungleich besser vertraut ist als mit dem Ritual der jüdischen Religion; der andere, der aus Paris eintraf, erwies sich als der Verfasser einiger Operetten, in denen kein einziger Tropfen christlichen Blutes vergossen wird, obgleich es hinsichtlich des siebten Gebots äußerst schlicht um sie besteht ist. Beide „Zadiks“ erschienen in eleganten Anzügen vor Gericht, und einer von ihnen erwies sich sogar, wie der Staatsanwalt den Geschworenen warnend auseinandersetzte, als ein Doktor der Chemie, die ja bekanntlich sehr wertvolle Hinweise über die Bearbeitung und Konservierung des christlichen Blutes im Haushalt der frommen Juden liefert. So kamen neben dem überwältigend Niederdrückenden und Furchtbaren auch komische Noten in der allgemeinen Symphonie des Prozesses zum Durchbruch, in der die zügelloseste Schurkerei den Ton angab.
Seine höchste Spannung erreichte der Prozess bei dem Verhör der wirklichen Mörder des Knaben, zweier professioneller Diebe, die von freiwilligen Detektivs entdeckt als ehrenwerte Zeugen vor demselben Gericht erschienen, vor dem Beilis, wohl nur kraft des Alphabets, die Anklagebank einnahm. Es waren dies schwere Minuten für die Ankläger, Denn es war doch klar, welch eine Gefahr für die Anklage das Erscheinen zweier Pogromisten bedeutete, gegen die außer vielen anderen Schuldbeweisen ihr eigenes Eingeständnis des Mordes vorlag.
Um dieser Gefahr zu begegnen, nahm der Staatsanwalt im Verein mit den Zivilklägern und unter eifriger Mitwirkung des Gerichtspräsidenten die Mörder des Knaben in seinen Schutz. Um für alle Fälle ein Alibi zu haben, hatten die Mörder dem Untersuchungsrichter erklärt, sie seien in der Nacht der Mordtat mit der Plünderung eines Optikermagazins beschäftigt gewesen. (Der dritte Mörder stürzte sich, als er aus den Worten des Untersuchungsrichters ersah, dass er wegen der Ermordung des Knaben Juschtschinski zur Verantwortung gezogen werden konnte, aus dem Fenster und brach sich den Hals.) Das Einbruchsgeständnis war so wenig glaubwürdig, dass der Untersuchungsrichter nicht einmal die Untersuchung wegen dieser Selbstbezichtigung einleitete. Trotzdem hielt die Staatsanwaltschaft an der Glaubwürdigkeit des Alibis fest. Die Verteidiger verwiesen darauf, dass der Einbruch um 12 Uhr nachts, der Mord jedoch um 9 oder 10 Uhr früh stattgefunden hatte, so dass von einem Alibi überhaupt keine Rede fein könne. Auf diesen unter allgemeiner Spannung dreimal wiederholten Einwand entgegneten die als Zeugen erschienenen Mörder kein einziges Wort. Hier traten aber die Ankläger in Aktion, Durch eine Reihe von Fragen, die nur auf die geistige Unbeholfenheit der bäuerlichen Geschworenen berechnet waren, entwickelten sie den Standpunkt, dass so tüchtige und erprobte Diebe wie die Zeugen den Einbruch (den sie übrigens gar nicht ausgeführt hatten) nicht hätten verüben können, ohne das Terrain vorher gründlich studiert zu haben, und dass sie also infolgedessen 14 Stunden vorher den Knabenmord nicht hätten verüben können! Den Mördern blieb nun nichts mehr zu tun übrig, als diesen Argumenten der Ankläger einmütig zuzustimmen. Nach einigen Minuten der Angst und der Verwirrung spürten sie wieder festen Boden unter ihren Füßen: sie sahen, dass die Richter und der Staatsanwalt, sonst so furchtbar für sie, im gegebenen Falle als ihre Mitschuldigen auftraten und dass sie durch ihr Leugnen gleichsam eine wichtige staatliche Mission erfüllten, die auf entsprechende Anerkennung rechnen konnte. Diese ganze Szene erscheint, wenn man sie Wort für Wort nach dem stenographischen Prozessbericht verfolgt, wie ein irrer Fiebertraum. Und diese offene Verhöhnung des Gerichtes, dieses von dem Staatsanwalt und dem Präsidenten geleitete Werk der Entlastung der wirklichen Mörder und der wissentlich falschen Bezichtigung eines Unschuldigen spielte sich vor den Augen des ganzen Landes, der ganzen Welt ab, und der freche Schurke in staatsanwaltlicher Uniform fürchtete nicht nur keine Strafe für sein verbrecherisches Vorgehen, er war vielmehr überzeugt, dass gerade der zynisch-herausfordernde Charakter seines Schurkenstreichs ihm die Protektion des Justizministers und die Anerkennung des Zarenhofs am ehesten zusicherte.
In den Annalen des russischen Gerichtes gibt es viele schmachbedeckte Seiten, und die Zeit der Gegenrevolution wird überhaupt durch die Schändung der russischen Justiz, durch ihre Degradierung zur Dirne der herrschenden Gewalten gekennzeichnet. Wir kennen aber keinen Prozess, in dem die lumpenbürokratische Niedertracht der Clique, die ein Volk von 160 Millionen beherrscht, sich vor aber Welt so schamlos gezeigt hätte wie in dem Kiewer Ritualmordprozess. Die Lektüre der Prozessberichte ruft zunächst ein Gefühl des unüberwindlichen physischen Ekels hervor. Und eben in dieser Eigenschaft des Prozesses liegt vielleicht die größte Bedeutung der ganzen Affäre.
Es ist schwer, die Stimmung wiederzugeben, die während dieser historischen Wochen das ganze russische Reich in ihrem Banne hielt. Und noch heute steht Russland im Zeichen der Beilis-Affäre. Schon die Tatsache, dass nicht ein Abstraktum, wie die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das jüdische Volk, sondern ein lebender Mensch als Objekt der reaktionären Verfolgungspolitik im Mittelpunkt des Gerichtsdramas stand, den man den „ideologischen“ Bedürfnissen der herrschenden Klasse zum Opfer bringen wollte, schon dieser persönlich zugespitzte Charakter des Dramas förderte, die Popularisation aller durch den Prozess aufgerollten Fragen. Die rückständigsten und gleichgültigsten Schichten sind nun aufgerüttelt worden. Zugleich aber hat das furchtbare persönliche Schicksal des Beilis, eben weil es mit seiner Person ebenso wenig verknüpft war wie mit der eines jeden anderen, die allgemeinen Triebkräfte des Regimes bloßgelegt – die junkerlich-monarchische Schandwirtschaft und den bürokratischen Banditismus. Die Beilis-Affäre nahm infolgedessen den Charakter einer von Staats wegen organisierten grandiosen Fälschung gegen einen einzelnen Menschen an, gegen einen hilflosen, schwachen jüdischen Arbeiter, die Verkörperung der politischen und bürgerlichen Rechtlosigkeit. Die Ungeheuerlichkeit dieser verbrecherischen Tat bohrte sich tagein tagaus in das Gewissen aller Leute hinein. Die Auflagen der oppositionellen Presse verdoppelten und verdreifachten sich, während der Kreis der Leser sich wahrscheinlich verzehnfachte. Viele Millionen stürzten sich täglich auf die Zeitung und lasen sie mit geballten Fäusten und mit Zähneknirschen. Politisch Indifferente sprangen erregt und erschreckt aus, als wären sie unterwegs im Eisenbahnwagen von einer Katastrophe überrascht worden. Leute, die sich als konsequente Gegner der herrschenden politischen Ordnung betrachteten, mussten sich täglich aufs Neue überzeugen, dass sie die Herrschenden niemals für so niederträchtige Schurken gehalten hatten, wie sie sich in Wirklichkeit erwiesen. Überflüssig zu sagen, dass die städtischen Arbeiter am leidenschaftlichsten auf all diese Vorgänge reagierten. Millionen Proletarierherzen stählten sich in ihrem Hass gegen die Monarchie, die ihr gefälschtes dreihunderjähriges Jubiläum mit einem solchen Pomp in diesem Jahre feierte.
Die Regierung hat bei dem Kiewer Ritualmordprozess nicht nur ihre grenzenlose Niedertracht, sondern auch ihre Schwäche öffentlich enthüllt. Die Geschworenen haben Beilis freigesprochen! Dass die verwirrten Bauerngeschworenen auf die erste, heimtückisch formulierte Frage eine Antwort gegeben haben, die als eine maskierte halbe Bejahung des rituellen Charakters der Mordtat gedeutet werden kann, dürfte vielleicht nur für die Berufs-Antisemiten wesentlich sein, die von Zeit zu Zeit ihre Sammlung gefälschter Dokumente durch ein Neues zu ergänzen trachten. Aber zu dem Bewusstsein der Volksmassen spricht die deutliche, klare Tatsache, dass ein Dutzend sorgfältig zusammengesuchter Leute einen Monat lang von aller Welt abgesperrt, von Fälschungen umsponnen, von dem Gift der antisemitischen Hetze betört und von der Autorität der Monarchie und Kirche terrorisiert wurden, und es trotz alledem nicht über ihr Gewissen zu bringen vermochten, die ihnen aufgetragene Schurkerei zu vollbringen und den Angeklagten schuldig zusprechen. Die Geschworenen erwiderten aus die Schuldfrage mit dem Urteil: „Nein, er ist unschuldig!“ Der Zarismus ging also trotz seiner äußeren Machtfülle in den Augen des Volkes als ein moralischer Bankrotteur aus dem Prozess hervor!
Die Schwarzen Hundert im Lande und die Zivilkläger im Gerichtssaal drohten öffentlich mit Judenpogromen, Wenn Beilis freigesprochen würde. Die lokalen Behörden erklärten, sie würden keinerlei „Exzesse“ dulden – und Massaker fanden in der Tat nicht statt. Die Regierung war nach ihrer Niederlage in dem Prozess auf diese Weise bestrebt, ihre Machtfülle zu beweisen. Sie bewies aber nur, dass Judenmassaker bloß dann stattfinden, wenn die Regierung sie will. Alle Behauptungen, der russische Antisemitismus trage einen unüberwindlich-spontanen Charakter, erwiesen sich als eine Lüge: hinter der Regierung stehen keine Volksmassen, die ohne Mitwirkung der Polizei zu handeln imstande wären. Gegen die Regierung jedoch sind solche Massen vorhanden. Die Pogrome wurden verboten – und sie fanden nicht statt. Aber die Proteststreiks der Arbeiter gegen die Blutbeschuldigung der Juden rollten über das ganze Reich hin – trotz aller Verbote und Strafen. Meetings in den Fabriken und Werken, Straßenmanifestationen, Universitätsunruhen, Proteste der Korporationen und Vereine – all dies nahm trotz des Hagels der polizeilichen Verfolgungen seinen Gang. Moralisch zertreten und in den Staub gezerrt, erweist die Regierung sich auch als Organisation der materiellen Vergewaltigung bankrott. Immer öfter beschwören die reaktionären Publizisten deshalb das Gespenst des Revolutionsjahres1905 herauf.
Natürlich ist dies alles nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern durch komplizierte Prozesse vorbereitet worden. Die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwunges haben eine Gesundung und Erstarkung der Arbeiterklasse herbeigeführt, und diese Tatsache hat sofort auf das politische Selbstgefühl des Landes zurückgewirkt. Die Demokratie hat den Glauben au ihre Kraft wiedergewonnen. Die Beilis-Affäre hat diesem Prozess der Revolutionierung der Volksmassen lediglich einen konzentrierten und äußerlich dramatischen Charakter verliehen.
Nach achtjährigen Versuchen, sich durch scheinkonstitutionelle Einrichtungen den gesteigerten Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen, ohne hierbei seine historischen Vorrechte preiszugeben, ist der Zarismus nun als rein parasitische Organisation mit offen ausgeprägtem kriminellen Charakter vor dem Volke erschienen. Der Kiewer Prozess hat die unüberbrückbare Kluft zwischen dieser Monarchie der Schwarzen Hundert und allen historisch lebensfähigen Gesellschaftsklassen aufgedeckt und beide Seiten in die Tiefe des sie trennenden Abgrundes hineinblicken lassen. Damit hat der Prozess eine gewaltige politische Arbeit vollbracht und sich in eine geschichtliche Tatsache verwandelt, die eine neue Epoche tiefer revolutionärer Erschütterungen verkündet.
1. Wenn Herr Kokowzew zitterte, kannte er seine Pappenheimer schlecht. Als er jetzt Westeuropa durchreiste, umschmeichelte ihn das gesamte Judentum, soweit es im kapitalistischen Lager steht, auch so ethische Intellektuelle wie Herr Theodor Wolff vom Berliner Tageblatt. Der Beilisprozess, ist eine Schmach nicht nur für das offizielle Russland, sondern nicht minder für den kapitalistischen Teil des Judentums Westeuropas, ohne dessen Unterstützung die russischen Judenpeiniger längst bankrott wären. Die Redaktion.
A. Während des Prozesses und in Verbindung mit ihm wurden 66 Fälle von Presseverfolgungen registriert. Es wurden 34 Strafen in Höhe von 10.400 Rubel auferlegt und 30 Blätter konfisziert; in 4 Fällen wurden die Redakteure verhaftet, und 2 Zeitungen wurden vor Gerichtsbeschluss inhibiert. Überflüssig zu sagen, dass die Arbeiterpresse unter diesen Verfolgungen am meisten litt.
2. Gemeinschaft.
3. Personen, die das Vieh nach jüdischem Ritus schlachten. Der Übersetzer.
4. Das ist die Polizei, die in Russland ausschließlich die Untersuchung in politischen Prozessen, führt. Der Übersetzer.
Zuletzt aktualiziert am 3. Januar 2025