Leo Trotzki

 

Am Sarge Franz Schuhmeiers

(8./21. Februar 1913)


Aus Ljutsch, Nr. 32, 8./21. Februar 1913.
Übersetzung von Sozialistische Klassiker nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen Übersetzung.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Natur gab ihm ein brennendes, niemals erlöschtes Temperament, eine heilige Fähigkeit, sich erneut und erneut zu empören, zu lieben, zu hassen und zu verfluchen. Die Herkunft gab ihm eine leibliche, niemals erschlaffte Verbindung zu den leidenden und kämpfenden Massen. Die Partei gab ihm Verständnis der Bedingungen der Befreiung des Proletariat. Alle zusammen schufen diese wunderschöne Persönlichkeit, bekannt und geschätzt, aber nun beweint weit über die Grenzen Wiens und Österreichs hinaus.

Die Arbeiterklasse benötigt Führer aus verschiedenartigsten Depots [1], Auswanderer [2] aus den bürgerlichen Klassen, welche die alten gesellschaftlichen Bande zerrissen, welche sich innerlich umgestalteten, welche die Bedeutung ihrer Leben mit der Bewegung und dem Wachsen der Arbeiterklasse identifizierten, – solche Führer spielen eine große Rolle in der Geschichte der Arbeiterklasse. Zunächst die großen Utopisten – Saint-Simon. Fourier, Owen, – danach die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus – Marx, Engels, Lassalle – gingen aus den bürgerlichen Klassen hervor. Kann man sich etwa unsere deutsche Partei – in ihrer Entwicklung – ohne Liebknecht, ohne Singer [A] vorstellen? Oder ohne Kautsky? Die österreichische Sozialdemokratie ohne Viktor Adler? Den französischen Sozialismus ohne Lafargue, Jaurès und Guesde? Die russische Sozialdemokratie ohne Plechanow.

Über diese glänzenden Dissidenten erstatten die besitzenden Klassen – gegen ihren Willen – dem Proletariat Teilchen jener wissenschaftlichen Kultur zurück, die sie in jahrhundertelangen Anstrengungen in der Finsternis der versunkenen Volksmassen ansammelten. Und das Proletariat kann stolz darauf sein, dass seine historische Mission wie ein mächtiger Magnet an sich vornehme Geister und kräftige Charaktere aus den besitzenden Klassen anzieht. Aber solange sich die Führung des politischen Kampfes in den Händen nur dieser Führer befindet, können sich die Arbeiter nicht von dem Gefühl befreien, dass sie sich alle noch unter politischer Vormundschaft befinden. Zuversichtliches Selbstbewusstsein und Klassenstolz durchdringen sie in vollem Maße erst dann, wenn sie von unten in die erste Reihe ihre eigenen Leute leitend nach vorne stellen, mit ihnen zusammen gewachsen sind und mit ihrer Persönlichkeit alle politischen und geistigen Eroberungen der Arbeiterklasse verkörpern. In solchen Führern betrachtet sich das Proletariat wie in einem Spiegel, im welchem es die besten Seiten des eigenen Klassen-Ichs sieht.

Für das Wiener Proletariat war – insofern ich über es nach fünfjährigen Beobachtungen beurteilen kann – ein solcher Klassenspiegel zuallererst Franz Schuhmeier. [3]

Ich konnte mich sehr wenig mit Schuhmeier auf persönlichem Boden treffen. Aber ich hörte ihn nicht nur einmal in Volksversammlungen, im Parlament und auf Parteitagen. Und es genügte vollauf, Schuhmeier einige Male zu sehen und zu hören, um ihn zu kennen. Denn er ähnelte am allerwenigsten einer in sich verschlossenen „rätselhaften“ Natur. [4] Er war ein Mensch des Handelns, des Handgemenges, des Aufrufs, der Straße, des Ansturms, – er verkörperte sich im Handeln und ging im Handeln auf. Über ihn kann man die Worte des griechischen Philosophen sagen, dass er alles Seine in sich trug. Deswegen nahmen wir, ihm zuhörend, nicht nur sein Denken im Gewande lebender Wörter wahr, immer treffsicher, immer die seinen, – wir sahen den ganzen Schuhmeier im Handeln, im athletischen Kampf um die Seele seiner Zuhörerschaft.

Wenn du dir hinter dem Rücken dieser wunderschönen, aus Energie und Kühnheit geschaffenen Figuren sich die andere, finstere und jämmerliche Figur des „christlich-sozialen“ Mörders mit der Browning in der Hand vorstellst, erschüttert die tragische Bedeutung des Geschehenen von den Füßen bis zum Kopf.

Welches unmittelbare Motiv den Mörder leitete, diese Frage lassen wir beiseite. Aber wer dieser Unglückliche – nicht als Persönlichkeit, aber als Typ – war, wissen wir: er ist gleichfalls Proletarier, aber ein Abtrünniger, ein Klassenüberläufer. Er wollte nicht zusammen mit seiner Klasse auf ihrem großen historischen Wege gehen. In feindseligen historischen Kräften – Staat, Kirche und Kapital, – deren Existenz auf physischer Versklavung und geistigem Stumpfsinn der Massen beruht, – suchte der Mörder Alliierte gegen die eigene Klasse, als jene strebte, ihm ihre kollektive Disziplin aufzuerlegen. Baufällige [5] Vorurteile, welche die Wiege des Proletariats umringen, Instinkte der Sklaverei, jämmerlicher Egoismus verbanden sich in diesem Abtrünnigen – er verkörperte in sich alles Schlimme in der Vergangenheit der werktätigen Massen, wie Schuhmeier die besten Züge ihrer Zukunft verkörperte. Und hier steht die finstere sklavische Vergangenheit in rasendem Krampf gegen die Zukunft auf.

Wer weiß? Vielleicht lebte auch in diesem Abtrünnigen eine innerliche eiternde Wunde, das Bewusstsein seines Ausgestoßenseins – und die Verachtung gegen sich selbst verwandelte sich in blinden Hass, in tödlichen Neid auf all jenes, was es in der sozialistischen Bewegung an Hohem und Wunderschönem gibt – auf ihre Verachtung für den ganzen ererbten Aberglauben, auf ihre Freiheit von allen Instinkten der Sklaverei, auf ihre sittliche Kühnheit, auf ihre lebensfrohe Zuversicht in ihren Sieg. Und der wilde Hass entlud die Browning.

Was sie, die Wachen der Ordnung und des Gesetzes, nun mit dem Mörder machen werden, welcher sich doch gleichfalls als Menschen der Ordnung und Gesetzes erachtete, das ist uns schließlich ganz gleich. Auf diesem Wege werden wir sittliche Befriedigung nicht finden. Uns bleibt, die Toten ihre Toten begraben zu lassen.

Und Franz Schuhmeier bleibt bei uns. Wir werden bloß das beerdigen, was an ihm sterblich war. Aber sein Geist lebt in unseren Herzen – der unversöhnliche Geist eines revolutionären Tribuns.

* * *

Anmerkungen

1. In der englischen Übersetzung: „Rollenbesetzungen“.

2. In der englischen Übersetzung: „Söhne“.

A. L. Trotzki, Paul Singer, 1911.

3. In der englischen Übersetzung: „Franz Schuhmeier zuallererst ein solcher Klassenspiegel“.

4. In der englischen Übersetzung: „einem ‚Rätsel‘, einer in sich verschlossenen Person“.

5. In der englischen Übersetzung: „Archaische“.


Zuletzt aktualiziert am 3. Januar 2025