Leo Trotzki

 

Zwei Wiener Ausstellungen
im Jahre 1911

(9. Juni 1911)


Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 422–431, s. auch den russischen Text.
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Eine – im alten „Künstlerhaus“, die andere – in einem reichlich sinnlosen, verschnörkelt-simplifizierten Steinwürfel mit einem kleinen, grünen Fes darüber, im Haus der Secession. Das in simplifiziert-verschnörkelten Hieroglyphen geschriebene Wort Secession, einst Symbol des Aufbegehrens, steht auf dem grauen, ebenfalls gewollt einfachen Umschlag des Kataloges, während der Katalog der Ausstellung „Künstlerhaus“ schon auf seinem Umschlag die Last der Tradition in der Gestalt der drei ehrwürdigen, aber reichlich langweilig gewordenen Musen trägt, der Malerei, der Skulptur und der Architektur.

Der Künstlerbund feiert in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Bestehen, und die Ausstellung selbst nennt sich Jubiläumsausstellung. Ein halbes Jahrhundert – das ist keine geringe Periode für die Kunst. Aber auch die Secession nähert sich der Mitte des zweiten Jahrzehnts ihres Neuerertums. Im Jahre 1897 haben neunzehn junge Maler sich gegen die alte Korporation erhoben, die in der Kunst beharrlich im Schlepptau der akademischen Routine eingespannt war und in wirtschaftlichen Dingen noch beharrlicher die Stellenjägerei, den Byzantinismus und die Vetternwirtschaft kultivierte. Im Jahre 1898 stand bereits am Karlsplatz, unweit des alten Hauses der Kunst, der Würfel aus Steir mit dem durchbrochenen Fes aus vergoldetem Blech ...

Der „Secessionismus“ war keine lokale Wiener Erscheinung – Wien gehörte darin noch nicht einmal die Initiative – sondern eine gesamteuropäische. Die Revolution in der Malerei spiegelte nur die Revolution im Alltag wider. Gigantische Städte sind emporgewachsen und haben das Dorf blutleer gemacht, indem sie alles Begabte, Energische und Kühne in sich aufsogen. Das Leben wurde zu einem rastlosen Wirbel. Das Beständige, Unveränderliche, Dauerhafte hat sich spurlos aufgelöst. Die Bewegung triumphierte über die „Materie“, die sich in tätige Energie verwandelte. Die sich ewig wandelnde Form verdeckte den Inhalt, während im subjektiven Strom der Eindrücke auch die Form ertrank. Es bildete sich ein neuer Menschentyp heraus und fand seinen neuen Ausdruck in der Kunst des Impressionismus. Über die neue Kunst und die „neue Seele“ sprach vor kurzem bei uns in Wien der Berliner Professor Georg Simmel in einem brillanten Vortrag über Rodin. Die „neue Seele“ ist ganz in Bewegung, und diese Bewegung ist ohne zentrales Streben und ohne Dogma. Sie ist nicht nur in zwei kurz aufeinanderfolgenden Augenblicken verschieden, sondern auch in ein und demselben Augenblick bleibt sie sich niemals gleich. Sie ist immer verschieden. Auch die Seele der Renaissance war in Bewegung. Aber das war eine fließende und gemessene Bewegung zwischen zwei extremen Momenten der Ruhe Die Menschen der Renaissance schwankten zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Christentum und „Heidentum“, zwischen Tugend und Laster, zwischen Ja und Nein. Solche Abgrenzungen kennt die moderne Seele nicht. Sie vereinigt alles in sich und löst es in sich auf. Jeder ihrer Zustände ist – nur eine Etappe des Weges aus dem Unbekannten in das Unbekannte. Sie vereint alle Gegensätze in sich, ihr Ja tönt nur ihr Nein etwas ab, sie glaubt und glaubt gleichzeitig nicht, sie liebt Ziele ohne Wege und Wege ohne Ziel. Und eben dieses Ewig-Widersprüchliche, Rastlose, sich Bewegende vermochte Rodin in allerhärtestem und sprödestem Material, in Stein darzustellen. Als ich der nervösen Rede des Berliner Philosophen der „neuen Seele“ lauschte, tauchte in meinem Bewusstsein unwillkürlich die Gestalt des verstorbenen Paul Singer [1] auf, diese so schwere, so imposante, so zuverlässige Gestalt. Oh, er kannte keine Wege ohne Ziel und keine Ziele ohne Weg! Sein Ziel stand für ihn ein für allemal im Programm seiner Partei fest, sein Weg war klar und gerade. Obwohl er in der Partei völlig aufging, blieb er immer er selbst – eine unwiederholbare Persönlichkeit, eine unbeugsame Individualität. Hatte Singer eine „neue Seele“? Oder Bebel, der so sehr einem straff gespannten Bogen glich oder einer gespannten Antriebsfeder – immer im Namen ein und desselben Ziels, ein halbes Jahrhundert lang? Ist das etwa keine moderne Seele?

Und auf der anderen Seite – der Amerikaner Carnegie oder der Berliner Aschinger, der im Zentrum eines ungeheuren Telegrafen-, Telefon- und Börsenspinnennetzes sitzt und mal an dem einen, mal an dem anderen Draht ziehend, den Umsatz von Millionen lenkt, die sich in Milliarden verwandeln. Diesen neuen Seelen ist, wie man annehmen muss, der sittlich-ästhetische Platonismus mit seinen wegen ohne Ziel und seinen Zielen ohne Weg ganz und gar fremd.

Die Simmelsche Charakterisierung lässt sowohl Bebel wie Aschinger, die polaren Erscheinungen der modernen Kultur, außer Acht und läuft damit auf die Selbstcharakteristik einer Gruppe hinaus. Die „neue Seele“ Simmels ist in Wirklichkeit die Seele der Intelligenzler großer Städte. Der Impressionismus ist ihre Kunst und die ästhetisch maskierte Indifferenz ihre soziale Moral, Nietzsche ihr Prophet, der Simplicissimus ihre Satire, Simmel ihr philosophischer Feuilletonist wie Sombart ihr volkswirtschaftlicher Feuilletonist. In der ersten Periode ihrer Selbstbestimmung haben die neuen Intelligenzler, die damals stürmisch mit der Tradition auf allen Gebieten der Philosophie, der Moral und der Kunst gebrochen hatten, ihre Stütze in der Gemeinschaft gesucht. Aber sehr bald schon überwanden sie in sich die sozialen Tendenzen durch verfeinerten Individualismus. „Ich verstehe alles“ – könnte der Träger einer „neuen Seele“ von sich selbst sagen – „aber ich schätze dieses Verstehen an sich viel höher als die praktischen Konsequenzen, zu denen es mich verpflichtet. Die Geschichte der Menschheit ist für mich nur insoweit interessant, als sie in meinen beiden Gehirnhälften geregelt wird; jene Geschichte, die heutzutage auf der Straße gemacht wird, ist viel zu sehr eine Massenerscheinung und mir deshalb fremd. Denken Sie nicht, dass ich seelische Ruhe Liebe oder nach der alten Vollendung der Formen Sehnsucht habe (gelegentlich vielleicht vorübergehend!), im Gegenteil, die ewige Bewegung und die seelische Rastlosigkeit sind mein Element; aber neben allem anderen schätze ich sehr ... die Ruhe des Körpers“.

Als die neue Kunst ihre kurzfristige und oberflächliche Verbindung mit der Gemeinschaft abgebrochen hatte, blieb sie auf den Wegen ohne Ziel stehen. Sie hat sehr schnell die Periode ihres Wagemuts hinter sich gelassen, hat ihre Technik zu einer in der Vielfalt der Methoden erstaunlichen Höhe geführt und sich erschöpft. Das Gold auf der Kuppel der „Secession“ blätterte ab, das Blech verrostete, und auf dem Wege von der Ausstellung der „Aufbegehrenden“ zur Ausstellung der Routiniers können sie nur noch mit Mühe unterscheiden, was eigentlich diese beiden Lager heute noch trennt.

Was einem in beiden Ausstellungen als erstes in die Augen fällt, ist die erdrückende Vorherrschaft der Landschaft und des Porträts, das heißt die individualistischsten Arten der Kunst. Im Porträt wie in der Landschaft findet die vereinsamte Seele ihren Ausdruck. Und man muss zugeben, dass die heutigen Maler es gelernt haben, ihren Porträts jenen letzten Strich von Intimität mitzuteilen, der den Arbeiten selbst der allergrößten alten Meister fehlt. Besonders gut sind die Frauenbildnisse, die den alten Künstlern nicht so gut gelangen wie die Männerporträts. Die äußere, mit der sozialen Rolle des Mannes verbundene Aktivität (Krieger, Priester, Richter, Bürgermeister) warf ihren Abglanz auf das Porträt und gab dem Gesicht Bedeutsamkeit. Bei den Frauen war dies nicht der Fall, und deswegen sind die alten Frauenbildnisse so flach. Die heutigen Maler dagegen, die intimsten, die nach einem Wort Dostojewskis „untergründigen“ Menschen haben es gelernt, nicht die äußere Aktivität des Kriegers oder Bürgermeisters zu zeigen – im Gegenteil, das haben sie verlernt – sondern die innere Konzentration des Gesichts, seine Zusammenfassung aufgrund der eigenen seelischen Erlebnisse und Modulationen der Gefühle. Das Gesicht löst sich fast in der Stimmung auf, so dass der Betrachter beinahe eine schöpferische Leistung aufbringen muss, um das Gesicht wieder zu einer Einheit zusammenzufügen – und schon allein diese schöpferische Leistung des Genießenden wird zur Quelle des Genusses. Herrlich ist diese Frau mit Mohnblüten von Alfred Roll aus Paris, und das nicht durch die dünnen Lippen und empfindsamen Nasenflügel ihres schmächtigen Gesichts oder durch den zarten Schwung ihres Kinns und Halses, sondern durch jene unsichtbaren Ströme einer melancholischen Lebensfreude, die ihr Gesicht nicht nur beseelt, sondern es sogar zwingt, vor unseren Augen seine Stimmung zu wechseln. Noch weiter in der gleichen Richtung – und vor uns steht die Frau mit Blumen von Schmoll von Eisenwerth – auf den Stufen einer Steintreppe. Durch einen Flor von Nachdenklichkeit treten die Gesichtszüge gerade eben noch hervor. Die Schwermut der Nachdenklichkeit hüllt die ganze Gestalt ein und ist sogar in der Haltung des Armes, sogar in den Falten des Kleides, sogar in den Treppenstufen noch spürbar. Und in denselben intimen Tönen sind noch zwei andere Gemälde Eisenwerths gehalten: ein schmächtiges Mädchen in der Morgendämmerung auf der Veranda, ganz in einer fast erschrockenen Erwartung; eine in grüne Halbtöne getauchte Frau in erstarrter Erregung („in Erwartung des Frühlings“ und „in der Laube“). Beide, Roll wie Eisenwerth, sind – in der Secession.

Der Umstand, dass die neuen Meister des Porträts es verstehen, ihren Modellen durch die äußere Hülle der Erhabenheit, der Kampfeslust, der Gelehrsamkeit oder des „Adels der Seele“ hindurch die verborgensten Erlebnisse zu entlocken, lässt viele Porträts von Kardinälen, Richtern, Professoren und Ministern zu versteckten Karikaturen von außerordentlicher Ähnlichkeit werden. Zum Glück der hochgestellten Auftraggeber ist noch eine beträchtliche Menge solcher Porträtmalermeister erhalten geblieben, die es verstehen, einen General mit kühnem Schwung auf einen Rappen zu setzen, den Umhang eines Admirals sich großartig blähen zu lassen, einen Juristen mit einer römischen Falte auf der Stirn zu versehen und sämtliche Brillanten einer Kommerzienrätin mit der professionellen Gründlichkeit eines Taxators der Pfandleihe zu verewigen. Hierzu muss bemerkt werden, dass solche Porträtisten sich nach wie vor vorwiegend in der Begünstigten alten Korporation konzentrieren ...

Einer Seele, die Wege ohne Ziel liebt, ist weder Leidenschaft noch Kraft eigen. Dafür aber erfährt sie oft die Sehnsucht nach Kraft, nach ursprünglicher Integrität, ja sogar nach Grobheit. Darstellungen von mächtigen Körpern und elementaren Leidenschaften gibt es in der Ausstellung der Secession nicht wenige – aber den Mustern der Leidenschaft fehlt es in fataler Weise an Leidenschaft und den Mustern der Kraft fehlt es an Kraft. Als Zirkusathlet erscheint einem der „Herkules“ von Rudolf Jettmar, und der mächtige Drache gleicht einem mit Stroh ausgestopften Balg. Heinrich Zittel stellt „die ungebändigte Kraft“ in Gestalt eines jungen Zentauren dar. Die Manier ist die gleiche wie bei Rodin: ein Teil der Gestalt ist in unbearbeitetem Material verborgen, sozusagen im Schoße der Mutter Natur. Rodin überwindet auf diese Weise die Sprödigkeit des Steins. Seine Gestalten erstehen vor unseren Augen. Man sieht den Block, aus dem der Meißel die herrliche Gestalt befreite, indem er das Überflüssige entfernte, und da die Gestalt unvollendet ist, vollzieht man in Gedanken den schöpferischen Prozess nach und vollendet ihn dadurch selbst. Aber in dem Majolikazentauren des Wiener Bildhauers, der die ungebändigte Kraft verkörpert, erkennt man hinter der guten Muskulatur weder Zügellosigkeit noch Kraft, sondern nur die Bemühung des Künstlers, sowohl das eine als auch das andere zu geben. Grom-Rottmayer hat ein dekoratives Gemälde Kraft und List ausgestellt. Die List wird durch eine nackte Frau dargestellt, während ein Ritter von recht traurige Gestalt die Kraft repräsentiert, einer von denen, die vor den Toren der Panoptiken und Zauberbuden herumstehen. Im „Künstlerhaus“ steht es um die „Kraft“ auch nicht besser. Die durch ihre Ausmaße erdrückende Gestalt Wielands des Schmieds, die von Wollek ausgestellt wird, zeugt wesentlich mehr von viehischer Grobheit als von Kraft.

Landschaften (Wald, Berge, Meer, Parks, alte Burgen), Porträts und Studien, lauschige Winkel, alte Städte, Interieurs, Stillleben – bilden die erdrückende Mehrzahl der ausgestellten Werke, besonders bei den Secessionisten. Die Landschaft ist hin und wieder durch eine Gestalt belebt, aber dies ist gewöhnlich ein Bauer, ein Bestandteil der Landschaft. Die Interieurs geben den Winkel einer Wohnung wieder, ein Sofa, einen mit Tand behängten Tannenbaum auf einem Teppich, den Alkoven eines niederösterreichischen Bauernhauses, den Teil eines Rokokosaals – hier waren eben noch Menschen – auf allem ruht noch der Stempel ihres Lebens, aber sie selbst sind schon nicht mehr da. Wenn aber einmal die Straße einer Stadt gezeigt wird, dann unbedingt eine alte, enge, halbdunkle und ohne Menschen; die dunkel gewordenen Steine zeugen hier von durchlebten Jahrhunderten. Wenn es ein Hafen ist, dann ein sonntäglicher, mit ruhenden Schiffen ohne Menschen. Viel düstere Kirchen, in denen die betenden Gestalten nur den Eindruck der Weltabgeschiedenheit, der Ruhe, der Vereinsamung vervollständigen. Da steht eine Schmiede: Esse, Blasebalg, Amboss, Hämmer, aber die Schmiede fehlen. Wenn Menschen dargestellt werden, dann nicht in ihrer Arbeitsumgebung, nicht in ihrer sozialen Funktion, sondern in ihren Mußestunden am Feiertag, bei Vergnügungen. Ein Dorfplatz am Sonntag oder der Markt eines kleinen Städtchens, auf dem die Menschen sich sinnlos drängeln, schwatzen und gemächlich einkaufen. Aber über all dem dominiert die Landschaft, das Porträt, das Interieur und das „Stillleben“ auf dem liebevoll und tief empfunden eine Gurke auf einem Glasteller, eine japanische Puppe und eine durchgeschnittene Zitrone abgebildet werden.

Die Plastik kann weder in die Landschaft noch in das Interieur ausweichen: ob sie will oder nicht, sie ist gezwungen, sich mit dem Menschen zu befassen, über die Porträtplastik muss man dasselbe sagen wie über die Porträtmalerei: sie ist oft wunderschön in der Wiedergabe der intimsten Regungen der Seele. Die Körper sind nicht so vollkommen und göttlich harmonisch wie bei den antiken Plastiken, aber sie sind uns unvergleichlich näher, sind weicher, zarter, menschlicher. Das, was von dem größten Impressionisten Rodin errungen wurde: den ganzen Körper bis in die kleine Zehe hinein der Regung der Seele unterzuordnen, ist Bestandteil der Plastik geworden und hat sie bereichert. Aber die Plastik hält gleichsam hilflos Ausschau, als wisse sie nicht, was sie mit diesem Reichtum anfangen soll. In der Secession ist die Plastik dürftig bis zum Äußersten, auf der Jubiläumsausstellung der Künstler ist sie etwas besser vertreten, aber hier wie dort überrascht sie durch die Dürftigkeit der schöpferischen Idee. Der „Gratulant“ in Bronze in langem Frack, langen Strümpfen und in Halbschuhen mit Bändern verbeugt sich geziert. Ein Satyr schenkt Wein ein. Ein Kegelspieler setzt zum Schub an. Siegfried bewundert das fertiggeschmiedete Schwert. Ein Werfer ist im Begriff, einen Stein zu schleudern. Die „Nacht“ mit einem Reifen aus Draht, der mit Sternen aus Flittergold verziert ist. Eine Märchenerzählerin. Ein Kind mit Katze. Perseus. Das unvermeidliche „Füllhorn“ in Gestalt eines Mädchens mit Früchten. Natürlich Badende. Ein fahrender Musikant, der sich nach einer zischenden Gans umsieht. Ein kampfbereiter Faustkämpfer. Ganymed, Diana ...

So viel auch immer die Ästheten unserer heimatlichen Zeitlosigkeit behaupten mögen, dass die Kunst sich in der Form erschöpft, wir werden es nie glauben. In der Plastik werden wir nicht nur Rodin schätzen, der in der sprödesten der Künste völlig neue Formen zu finden wusste, sondern auch den Belgier Meunier, der – ohne mit der alten Form zu brechen – für die Plastik einen neuen Inhalt erobert hat.

Die antike Plastik stellte den menschlichen Körper im Zustand harmonischer Ruhe dar, die Plastik der Renaissance beherrschte die Kunst der Bewegung. Aber Michelangelo diente die Bewegung als Mittel, die Harmonie des Körpers deutlicher auszudrücken. Rodin hat die Bewegung an sich zum Thema der Plastik erhoben. Wenn aber bei Michelangelo der Körper seine eigene, das heißt die ihm gemäße Bewegung erzeugt, so findet sie bei Rodin umgekehrt den ihr gemäßen Körper Damit hat Rodin aber den Schaffensbereich der Plastik nicht erweitert. Das hat erst Meunier getan, der den Arbeiter bei der Arbeit in den Bereich der Plastik einführte. Vor ihm kannte die Plastik nur die stehenden, sitzenden, liegenden, schlafenden, tanzenden, spielenden, kämpfenden, ruhenden, betenden oder liebenden Menschen, sie kannte aber nicht den werktätigen. Wenn der Mensch sich im Ruhestand befindet, wenn er tanzt, liebt oder betet, dann genügt sein Körper sich selbst, Rodin hat den Körper der Bewegung untergeordnet, aber einer inneren Bewegung, der Bewegung der Seele, die in dem Körper lebt. Liebe, Gedanke, Trauer – das sind die Themen Rodins. Während der Arbeit ist der Körper einem Ziel untergeordnet, das sich außerhalb des Körpers befindet, damit hört er auf sich selbst zu genügen und wird zu einem Werkzeug. Darüber hinaus erweitern künstliche Arbeitsgeräte den dem Körper angeborenen Bereich Alles das schloss die körperliche Arbeit aus dem Bereich der Plastik aus. Meunier vermochte zu zeigen, dass die Anstrengungen bei der Arbeit an einem sich widersetzenden Material die Geschlossenheit eines Körpers nicht zerstören, sondern ihr einen neuen Ausdruck verleihen; die Peripherie des Körpers erweiternd, zerstört die Arbeit seine Geschlossenheit nicht. Durch die Verwandlung des Körpers in ein Werkzeug wird auch das Hilfswerkzeug zu einem beseelten Teil des Körpers. Mit Simmels Worten ausgedrückt, hat Meunier den ästhetischen Wert der Arbeit entdeckt. Vor der Plastik hat sich damit ein unermessliches, noch unberührtes Gebiet aufgetan.

Der ästhetischen Entdeckung Meuniers lagen tiefe soziale Ursachen zugrunde. Solange die Arbeit das Los von Sklaven war – juristischer oder moralischer – blieb sie jenseits der Schwelle der Kunst. Nur das soziale Erwachen des „Subjekts“ der Arbeit, der Arbeiterklasse, verwandelte die Arbeit in ein Problem für die Wissenschaft, die Philosophie, die Moral, die Kunst. Meunier hat dieses Problem ästhetisch gelöst. Aber um so klarer hat die weitere Entwicklung der Plastik gezeigt, dass die ästhetische Lösung allein hier noch nicht ausreichend ist. Dadurch, dass Meunier zeigte, wie man die Anstrengung bei der Arbeit in plastischem Material darstellt, konnte er selbstverständlich nicht gesellschaftliche und sittliche Verbindungen zwischen der Welt der Kunst und der Welt der körperlichen Arbeit herstellen. Die Entfremdung blieb hier in ihrem vollen Ausmaß bestehen. Während das gesellschaftliche Leben aus sich heraus Widersprüche entwickelte, wie sie die Weltgeschichte bisher nie gekannt hat, und sich auf dieser Grundlage mächtige politische Bewegungen gruppierten, verschloss sich die Kunst immer mehr in der zerbrechlichen Schale der „neuen Seele“. Vor dem Ansturm der sozialen Leidenschaften zurückweichend, verließ sie endgültig das weite Feld des kollektiven menschlichen Lebens und zog sich in eine freiwillige Verbannung zurück – in Landschaften, Porträts, Stillleben, Interieurs, in die Idylle und die Mythologie ... Obwohl drei Viertel der modernen Künstler in großen Städten ausgebildet wurden und dort lebten, findet man in ihrer Malerei und Plastik nichts von der Großstadt mit ihren Wundern der technischen Macht, mit ihren kollektiven Leiden, Leidenschaften und Idealen. Auf beiden Ausstellungen habe ich nur zwei Werke entdeckt, in denen das neue Leben der Städte zum Ausdruck kommt. Karl Schulda hat die Arbeit am Bau eines gewaltigen Gebäudes in der Mariahilferstraße (in Wien) dargestellt. Olaf Lange brachte eine farbige Radierung mit dem Titel Aufruf. Auf dem Gemälde von Karl Schulda herrscht Dämmerung, verschwommen zeichnen sich in ihm die Umrisse von Baugerüsten ab und auf ihnen gleiten undeutliche Gestalten der Arbeiter vorbei, ohne Gesichter, lediglich Silhouetten von Menschen. So stellen sich arbeitende Menschen jenen dar, die sie nur flüchtig, ganz nebenbei betrachten. Auf der Radierung von Lange bewegt sich unter einer Brücke eine Menschenmenge, Arbeiter, Arbeiterinnen, Kinder, ein ganzer Strom von Menschen. Ein Teil der Brücke ist zerstört, von der Brücke her erschallt der Aufruf. Die ganze Komposition ist verworren, als wäre der Künstler sich selbst nicht klar bewusst gewesen, wohin sich die Masse bewegt und wozu sie aufgerufen wird. Dieses kleine Gemälde und diese kleine Radierung enthüllen den Mangel an Themen und – ich sage es gerade heraus – mehr noch die Armut der zeitgenössische bildenden Kunst – Armut, trotz allen Reichtums an Formen und Techniken. Irgend etwas Großes müsste in Bewegung geraten, irgendwo außerhalb des Bereiches der Kunst im tiefsten Inneren unseres Gemeinschaftswesens, damit die Kunst aus ihrer Verbannung zurückfände, um, bereichert durch ihre Anteilnahme am Drama des arbeitenden und kämpfenden Menschen, ihrerseits dessen Arbeit und Kampf zu bereichern ...

Einige Bemerkungen zu den einzelnen Werken im „Künstlerhaus“. Der berühmte Münchener Maler Defregger hat ein großes Gemälde „die Anbetung der Weisen“ ausgestellt, auf dem sowohl Maria als auch die Hirten wie gewöhnliche Defreggersche Tiroler Bauern aussehen. Ein in der Idee interessantes Werk hat der Wiener Maler Casparides ausgestellt. Ein Schlachtfeld ist mit den nackten Leichen gefallener Krieger übersät. In der abendlichen Dämmerung erhebt sich darüber ein gespenstischer Christus, betrübt und vorwurfsvoll. Das Gesicht ihm zugewandt steht ein Krieger ergeben und verwegen ... In einem Gemüseladen hat Jehuda Eppstein eine Gruppe von Hilfsarbeitern offensichtlich während der Mittagspause versammelt. Es ist heiß, die Körper sind in Schweiß, die vertrockneten Lippen pressen sich gierig an eine saftige Wassermelone, einer der Kunden, offenbar ein ausgemachter Spaßmacher, führt mit einem jungen Beil, einer Verkäuferin, ein saftiges Gespräch, und ringsherum liegen so herrliche Wassermelonen, Granatäpfel und Kürbisse, und so froh sind alle, die hier Schutz vor der Hitze gefunden haben, den Melonensaft schlürfen und an dem herzhaften Lachen der Ladenbesitzerin teilnehmen zu können. Der Dresdner Mach hat einen erschrockenen Jungen gemalt (Der Ängstliche): ein mageres Gesichtchen, furchtbar große Augen, ein gespannt gerecktes mageres Hälschen und krampfhaft gespreizte Fingerchen Was hat ihn erschreckt? Ein Gespenst? Nein, wahrscheinlich eine schroffe väterliche Zurechtweisung oder ein noch drohenderer Blick des Lehrers. Väter und Lehrer sind schrecklicher als alle Gespenster. Die alte Sage von der schönen Helena erzählt in Farben Alexander Rothaug auf seinem dreiteiligen Gemälde. Auf dem einen Flügel die Griechen, auf dem anderen die Trojaner. Die Körper dunkel und abgehärtet von Sonne und Wind, der Blick konzentriert, die Muskeln gespannt, man sieht Verwundete und Tote. Zwischen den beiden Flügeln aber steht, mit dem Gesicht zum Betrachter, die am Kriege schuldige Helena. Nackt, wunderschön, ruhig hakt sie ohne Hast die goldene Fibel ihres Chitons zu.

Auf der Jubiläumsausstellung gibt es eine Reihe von Werken der „byzantinischen“ Malerei, etwa in der Art der vier Pferdeköpfe, die zu den „Lieblingspferden“ Kaiser Franz Josephs gehören. Es gibt patriotische Schlachtgemälde und belehrend-historische Gemälde auf besondere Anstellung des militant und klerikal eingestellten Thronfolgers Franz Ferdinand für dessen neues Schloss. Bei einem dieser belehrenden Werke heißt es ausdrücklich, dass es „die Widerlegung der von protestantischer Seite verbreiteten Anschuldigung der Kaiserlichen (das heißt der Katholiken) wegen angeblicher Grausamkeit“ zum Ziele habe. Und neben dem Saal, in dem sich dieses auf Anstellung gemalte Produkt der katholischen Apologetik befindet, hängt ein kleines Gemälde von Leo Delitz Im Beichtstuhl. Eine junge Bäuerin beichtet gläubig ihre Sünden, während der mit einem Ohr lüstern hinhörende Pater außerordentlich an einen Kater im Frühling erinnert. Ich suchte mit den Augen nach einer Erläuterung, dass dieses Gemälde geschaffen wurde, um die bösartigen Schilderungen der Moral katholischer Patres in Decamerone zu widerlegen, aber eine derartige Erläuterung war nicht zu finden. Erläuterungen braucht man anscheinend nur in solchen Fällen, in denen das Gemälde selbst nicht hinreichend überzeugend ist. Ob überhaupt derartige gedruckte Interpretationen von Nutzen sind, weiß ich nicht – das zu beurteilen ist für die Auftraggeber leichter.

27. Mai 1911

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Anmerkung

1. P. Singer – Mitglied des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Zeitgenosse Bebels und Liebknechts sen. Einer der populärsten Berliner Arbeiterführer, ein standfester „Orthodoxer“ in der Epoche des Revisionismus.


Zuletzt aktualiziert am 27. November 2023