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Vom Sozialdemokratischen Parteiverlag herausgegebene Broschüre, Sofia 1910.
Übersetzung von Sozialistische Klassiker 2.0 nach dem russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Genossen, seit längst vergangenen Zeiten lebte das Arbeitervolk unter einer doppelten Last: einer materiellen und geistigen. Letztere wäre ohne erstere unmöglich gewesen, und umgekehrt – wenn im Bewusstsein des Volkes nicht die Vorurteile der Knechtschaft gewesen wären, wenn die Lehren der Kirche und religiöse Vorurteile nicht das Bewusstsein des Volkes vergiftet hätten, wäre die Vernichtung des materiellen Drucks beträchtlich erleichtert gewesen. Aber in der Entwicklung der Völker pflegt es Momente zu geben, in denen sich das ganze Volk wie ein Löwe gegen die bürgerliche Bedrückung erhebt und sich aufbäumt und sich von den Vorurteilen der Knechtschaft befreit, es die Hochachtung vor bürgerlichen Institutionen verliert und die Hypnose der Knechtschaft verschwindet. Das Volk wird ein löwenhaftes Volk, ein heldenhaftes Volk. Eine solche Epoche ist eine Epoche der Taufe für das Volk; sie bleibt unvergesslich und prägt im Volke unauslöschliche Züge ein.
Eine solche Epoche machte das russische Volk im Jahre 1905 durch. Und jetzt, Genossen, wenn wir den Blick auf alle Erscheinungen und Ereignisse im internationalen politischen Leben der letzten 4–5 Jahre werfen, werden wir sagen müssen, dass es in der Weltszenerie nicht ein Ereignis, nicht eine Erscheinung, kulturelle oder andere, gab, auf der nicht der Stempel der russischen Revolution gelegen hätte.
Schauen Sie auf den großen unermesslichen asiatischen Kontinent. Ließ etwa die Niederlage Russlands im japanischen Krieg und die russische Revolution nicht den ganzen Kontinent auferstehen? Sie sehen das Erwachen Chinas Indiens Persiens, die revolutionäre Bewegung in der Türkei. Die militärische Niederlage des Zarismus hob das Selbstbewusstsein aller asiatischen Völker. Der Einfluss dieses Ereignisses gelangte auch zu Ihnen – in Form der jungtürkischen Revolution, welche ein Widerhall der russischen Revolution ist und die Wiedergeburt Asiens bedeutet. Wenden Sie danach Ihren Blick nach Westen: Schauen Sie – was sehen wir im mächtigen kapitalistischen Lande, Deutschland, der Heimat der kräftigsten sozialdemokratischen Partei, der Mutter aller sozialistischen Parteien? Die deutsche Sozialdemokratie rückte im Verlauf von vier Jahrzehnten Schritt für Schritt auf ihrem Wege vor, baute ihr mächtiges Gebäude auf und sammelte Kräfte an, verließ aber den Rahmen der Gesetzlichkeit nicht. Erst die Schläge der russischen Revolution schufen eine solche Stimmung, in welcher das deutsche Proletariat mit kolossalen Demonstrationen für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen heraus auf Straße gehen konnte.
Genossen, wenden Sie Ihren Blick auf ein Ihnen näher gelegenes Land – Österreich-Ungarn. Sie wissen, dass da im Verlauf einer Reihe von Jahren das Proletariat aller Nationalitäten den Kampf für das allgemeine Wahlrecht begann. Aber erst nach dem großen Oktoberstreik drückte das österreichisch-ungarische Proletariat seine Forderung in grandiosen Demonstrationen aus und entriss dem österreichischen Monarchismus und Kapitalismus das allgemeine Wahlrecht. Man kann mit Gewissheit sagen, dass, wie Historiker die mittelalterliche Geschichte von der neuen trennen und als Beginn von letzterer die Entdeckung Amerikas, den Weg nach Indien etc. erachten, so werden Historiker der Zukunft den russisch-japanischen Krieg und die russische Revolution als Grenze zwischen der neuen und neuesten Geschichte erachten.
Genossen, die russische Revolution hatte als ihr Ziel die Vernichtung des Haupt-Angelpunktes der Weltreaktion – des Zarismus, um welchen sich alles Barbarische, alles Räuberische, alles Mittelalterliche gruppierte, alles das, um das sich die europäischen Börsen drehen – umso mehr, als es keine reaktionären Kräfte gibt, welche nicht ihren Ausdruck, ihre Stütze und Unterstützung im russischen Zarismus gefunden hätten. Man kann sagen, dass die russische Revolution sich Ziele stellte, ähnlich denen, wie sie die Große Französische Revolution im XVIII. Jahrhundert durchführte; aber die französische Revolution nennen wir gewöhnlich bürgerlich. Und dennoch, welche Differenz zwischen diesen zwei Revolutionen! Dort agierten gegen den Absolutismus, gegen den Feudalismus, gegen den Klerikalismus das sogenannte Volk oder der „dritte Stand“ – die bürgerliche Demokratie, die Intelligenz, gestützt auf die kleinbürgerlichen Massen der Handwerker und auf das Proletariat. Diese revolutionäre Intelligenz – die Jakobiner – konnte ringsum sich alle progressiven Elemente vereinigen und sammeln, sie zu einem Ganzen vereinigen. Dies sehen wir nicht in Russland. Wir sehen hier nicht eine zum revolutionären Kampf fähige bürgerliche Demokratie, wie wir sie in der Geschichte anderer Länder sehen. Die russische Bourgeoisie, wie die Bourgeoisie der Balkanländer, trägt bereits im Mutterschoß den Fluch auf ihrer Stirn: sie ist verdammt zum Verrat, getauft durch Verrat und kommt am Verrat um. Jene kolossale Aufgabe, welche vor dem russischen Volke erschien und gebieterisch eine Lösung verlangt, fiel völlig auf die Schultern des russischen Proletariats.
Sie erinnern sich an die grundlegenden Momente der russischen Revolution. Der russisch-japanische Krieg hatte riesigen Einfluss auf die Volksmassen. Er zerstörte die Anziehungskraft des Zarismus als „riesiger unbesiegbarer Kraft“. Er erwies, dass der Koloss, welcher alles Progressive auf der ganzen Welt würgt, welcher sich auf auf die ganze europäische Börse stützt, auf tönernen Füßen steht, dass das kleine Japan ihm schwere Schläge zufügen konnte; dem russischen Volke wurde klar, dass dieser Koloss schwach ist, dass er unter fremden Schlägen fallen kann, und – Wunder über Wunder! – dieser Krieg weckte nicht nur die Volksmassen, sondern weckte auch den russischen Liberalismus.
In Verlauf des Jahres 1904 wurden in einer ganzen Reihe von Banketten – der Ärzte, Architekten, Journalisten und Professoren – Resolutionen mit Missbilligungen des Zarismus und konstitutionellen Forderungen verabschiedet. Aber das waren nur Worte. Manche guten Leute sagten, dass Jericho durch den Schall jüdischer Posaunen fiel – auf ebensolche Weise, erhofften sich die Liberalen, werde auch die Festung der Selbstherrschaft fallen. Aber die Liberalen täuschten sich, und wenn der Zarismus wankte, dann waren nicht sie die Ursache dafür. Die Liberalen gelangten bald in Sackgasse und zeigten ihren reaktionären Charakter, welcher unzertrennlich von der Natur der bürgerlichen Klasse ist. Da sie mit ihren Reden nicht die Monarchie umwerfen konnten, blieb ihnen nichts mehr, als abzuwarten, dass himmlische Kräfte das für sie machen würden. Und jetzt, als der Liberalismus zugeben musste, dass er besiegt war, trat auf die Bühne des russischen historischen Lebens das Proletariat. Der 9. Januar des Jahres 1905 ist das große historische Datum. Sie erinnern sich, Genossen, wie das russische Proletariat in Petersburg einen majestätischen Akt vollführte, revolutionär dem Wesen nach, obgleich auch naiv der Form nach, indem es seine Forderungen dem Zaren vorlegte, der bis zu jener Zeit als Geber aller Güter betrachtet wurde. Sie erinnern sich, dass auf diese Forderungen der Zar mit Gewehrsalven und dem Pfeifen der Nagaikas antwortete. Dies bilanzierte das Ergebnis der bisherigen Beziehungen zwischen Zar und Volk, bereite jeder moralischen Anziehungskraft des Zarismus im Volke ein Ende. Wie früher auf dem nackten Körper von Verbrechern mit glühenden Eisen dessen Schande eingebrannt wurde, so brannte nun das russische Volk mit feurigen Buchstaben das Datum des 9. Januar auf der Stirn des Zarismus ein. Nach dem 9. Januar erweist sich der Liberalismus in der jämmerlichsten Lage und fürchtet sich vor seiner eigenen Nichtigkeit, aber im Vordergrund der russischen Wirklichkeit erscheinen die Arbeitermassen. Der 9. Januar rief eine große Streikwelle hervor, welche eine Arbeiterschicht nach der anderen erweckte, und sie von Angesicht zu Angesicht dem Zarismus gegenüberstellte.
Darin liegt das Wesen der Revolution. Im alltäglichen Leben erkennt sich ein Arbeiter als Metallarbeiter, Schneider oder Schuster, als Petersburger Schneider, Metallarbeiter aus Moskau oder Petersburg etc. Die neue revolutionäre Periode zog bei jedem einzelnen Arbeiter dessen nationale, örtliche, Gruppenhülle ab. Die Arbeiter fühlten sich als lebendiger Teil eines einheitlichen Körpers, für sie wurde heilig und unbedingt das, was heilig und unbedingt für das ganze Proletariat insgesamt ist. Als Antwort auf die Bewegungen, die durch den 9. Januar hervorgerufen wurden, erscheint der Zarenukas vom 18. Februar. Niemals, Genossen, zeigte sich der russische Zar jämmerlicher und hilfloser in seiner Brutalität als damals. Morgens erlässt er ein Manifest, in dem er alle schwarzen Kräfte des russischen Landes aufruft, sich rings um den Thron gegen die anschwellende Revolution zu vereinigen; aber am Abend desselben Tages erlässt er einen Ukas, in dem das Prinzip der Volksvertretung ausgerufen wird. Die Zarenregierung war in solchem Grade verängstigt, dass der Zar, der morgens ein Pogrommanifest veröffentlichte, am Abend desselben Tages auf es verzichtet und ein anderes, halb-konstitutionelles Manifest erlässt, in dem sich dessen Angst vor der Bewegung der Volksmassen widerspiegelte. Und natürlich begannen beide Zarenmanifeste mit den Worten: „Sich eifrig bemühend um das Wohl des Volkes“ ...
Aber das Volk wusste ausgezeichnet, wo die Zarenseele war, als er das „konstitutionelle“ Manifest schrieb. Das russische Proletariat, obgleich es noch jung und politisch unerfahren ist, verzichtet darauf, den Zarenworten und -bestechungen zu glauben (darin unterscheidet es sich vorteilhaft von bürgerlichen Balkanpolitikern, welche in ihren Handlungen von Zarenversprechungen geleitet werden). Nach dem Ukas vom 18. Februar strengte das russische Proletariat seine Reihen an, und wir sehen, wie das ganze russische Volk vom revolutionären Aufschwung angesteckt wird, wie alle Stände, einer nach dem anderen, in den Kampf mit der Selbstherrschaft eintreten. Die Statistik zeigt, dass im Jahre 1905 die Zahl der Streiks in Russlands die Zahl der Streiks in Westeuropa und anderen fortgeschrittenen Ländern um das Fünffache übertraf. Sie können sich vorstellen, welche kolossale Anspannung der Kräfte dafür erforderlich war, um den Generalstreik im Monat Oktober erklären zu können. Zwischen der Februarbewegung und dem großen Streik ereignet sich der Aufstand der Schwarzmeer-Flotte die das rote Banner hisste. Das Resultat war das neue Manifest vom 6. August, das die Einberufung einer „Staatsduma“ ankündigte. Damals wandten sich die Liberalen mit solchen Worten an uns: „Meine Herren, in Russland wurde am 6. August 1905 eine Verfassung verkündet. Fortan können Sie sich auf den Boden der Legalität (des Rechts) stützen. Lassen Sie aber Ihre revolutionären Mittel und Methoden und stellen Sie sich auf den Boden des Rechts“. Mit solchen Worten wandten sich die Liberalen an die Partei des Proletariats; aber letztere antworteten ihnen mit Verachtung, wie immer. Danach erreicht die Bewegung den Kulminationspunkt mit der Erklärung des Oktoberstreiks, an welchem mehr als eine Million Arbeiter teilnehmen und welcher den ganzen Staatsapparat paralysiert.
Genossen, der Staat ist eine Maschine, welche sich, wie jede Fabrikmaschine, auf dem Rücken der Arbeiterklasse hält, und wenn das Volk es ablehnt, sie aufrecht zu erhalten, löst sie sich in ihre Teile auf und ihre zentralisierten Kräfte zerfallen zu Staub und Asche. (Applaus, Stimmen ‚richtig, richtig‘) Und jetzt erschien auf dem historischen Boden des russischen Despotismus, als Antwort auf den Oktoberstreik, das Manifest vom 17. Oktober mit dem Versprechen noch größerer Wahlrechte, von Versammlungsfreiheit, Koalitionsrecht, Pressefreiheit usw. Der Zar, der weiße Zar, der sich auf Selbstherrschaft und Rechtgläubigkeit stützt, gibt sofort seine Unterschrift auf dem Pergament der Verfassung. Dies ist ein großer revolutionärer Sieg des Proletariats! Einige Tage später wurde er vom Zarismus im Blut ertränkt. Aber wir werden diesen Sieg niemals vergessen, wir werden ihn aufschreiben und werden sagen, dass der Zar vor der Revolution die Mütze abnahm. (Applaus)
Genossen, das Manifest des 17. Oktober wurde herausgegeben, aber die ganze russische Bürokratie mit ihrer natürlichen und künstlichen Auslese von Schurken blieb auf dem Platz. Trepowsparen!“ erließ, blieb nach dem 17. Oktober der Leiter von Petersburg, und das Petersburger Proletariat wusste, was es erwarten konnte, wenn dieser Mensch mit der Durchführung der konstitutionellen Prinzipien im Leben beauftragt ist. Im Moment der Publikation des Manifests, auf dem Höhepunkt des Streikkampfes, setzte das Petersburger Proletariat seine ganzen Bemühungen auf seine Vereinigung, auf die Schaffung seiner eigenen festen Organisation. Es ist wahrlich ein historisches Wunder, das von der unerschöpflichen Macht der Arbeiterklasse zeugte, das gewaltige Wunder, dass im Verlauf von 4–5 Tagen in Petersburg, wie aus dem Boden heraus, eine lebendige, geschmeidige und angesehene Organisation entstand, die 200.000 Petersburger Arbeiter umfasste und ihren Namen in die Geschichte der russischen Revolution einschrieb. Ich spreche vom Petersburger <7>Sowjet der Arbeiterdeputierten. Je 500 Arbeiter einer gegebenen Fabrik, eines Betriebs oder Stadtbezirks wählen einen Delegierten. Die Gewählten bilden den Sowjet und werden Herren von Petersburg. Trepow ist entfernt. Witte wagt nicht, sich vor dem Volke zu zeigen. Die Staatsmaschine wird für boykottiert erklärt, und der Sowjet hält faktisch die Staatsmacht in seinen Händen. Sie, Genossen, erinnern sich wahrscheinlich alle, dass der Zar zu seinem Manifest des 17. Oktober einen grellen, deutlichen Abdruck seiner blutigen Hände hinzufügte. Sie erinnern sich, dass etwa am 19.–20. Oktober ganz Südrussland und ein beträchtlicher Teil von Zentralrussland die Arena schauderhafter Pogrome wurde, organisiert vom Bund der echt-russischen Leute, dessen Gönner der Zar war. Sie wissen, dass damals die geheime Losung gegeben wurde – auf die Revolution mit Pogromen zu antworten, und überall, wo das Proletariat nicht hinter seinem Rücken Verrat erwartete und nicht zum Widerstand bereit war, kosteten diese Pogrome Tausende Opfer. Das Stöhnen von getöteten Kindern und Greisen, die verzweifelten Schreie der Mütter, die über den Leichen ihrer Kinder starben – dies war das Resultat des Manifests. Nur in Petersburg, Moskau und gewissen anderen Städten, wo das Proletariat rechtzeitig seine Organisation schuf und die ganze Bürokratie entfernte und das Schicksal und Leben der Stadt in die eigenen Hände nahm – nur da gab es keine Spur von Pogromen. Diese beweist, dass jämmerliche Gruppen, Banden und Gangs dort die Pogrome begingen, wo das Volk, die Arbeitermassen sie noch nicht mit ihren gebieterischen Händen entfernen konnten. Ganz Russland räumt dem Proletariat das Verdienst ein, dass es der Retter Petersburgs vor der Schande von Niederlage und Pogromen war. Der Sowjet der Arbeiterdeputierter stellte nach dem 17. Oktober den Streik nicht ein; er sagte: „Das Manifest ist herausgegeben, aber wir drücken ihm das Misstrauen aus und führen den Streik bis 12 Uhr am 21. Oktober weiter“. Die russische Arbeiterklasse ist nicht alt – sie ist nicht mehr als 40–50 Jahre alt, sie ist eine junge, ganz junge Klasse, und ungeachtet dessen leitet sie bereits Millionen Streikende! Welche Einheit, welche Solidarität! Und tatsächlich, bis 12 Uhr am 21. Oktober bewegte sich nicht ein Rad, qualmte nicht ein Schornstein, alle Produktion stand still. Am 17.–18. Oktober sandten bürgerliche Herausgeber und Journalisten ihre Vertreter mit der Bitte zu uns, zu bewilligen, dass die Setzer das Zarenmanifest setzen, aber wir gaben die Bewilligung nicht. Nur zwei Zeitungen kamen heraus: Der in einer illegalen Untergrund-Druckerei herausgegebene Prawitelstwennij Wjestnik [Regierungsbote] mit zwei Seiten und das offen herausgegebene und in einer riesigen Menge von Exemplaren verbreitete andere Organ: Nachrichten des Petersburger Sowjets der Arbeiterdeputierten. (Stürmischer Applaus)
Wie antwortete der Sowjet der Arbeiterdeputierten, was sagte er aus Anlass des Zarenmanifests? Er sagte: Ja, eine Verfassung wurde bewilligt – aber den Zarismus gibt es, und Witte spielt mit dem Strick und Trepow knirscht mit den Zähnen; die Pressefreiheit ist bewilligt – aber die Zensur bleibt; die Versammlungsfreiheit ist auch bewilligt – aber die Kosaken beschützen sie. Nicht eine Verfassung hat man uns gegeben, sondern eine Nagaika in Pergament! So war die Antwort der „Iswestija des Sowjet der Arbeiterdeputierten“, und sogleich trat das Petersburger Proletariat, das am allerwenigsten geneigt war, sich auf revolutionäre Phrasen zu beschränken, an revolutionäre Handlungen heran. Er gab bekannt, dass um 12 Uhr am 21 Oktober alle Druckereien zu arbeiten beginnen würden, aber nicht ein Buch, nicht ein Blatt werde durch die Zensur gehen, dass nur unter diesen Bedingungen das Drucken in Russland erlaubt sei. Denkt an jene erstaunliche Szene zurück, als russische gesellschaftliche Persönlichkeiten und Redakteure, die bei Witte zusammenkamen, diesen wegen einer abgemilderten Zensur des Regimes anflehen, und vor ihnen ein Vertreter des Sowjets erscheint und sagt: „Ihnen ist alles erlaubt und nicht ein Blatt wird durch die Zensur gehen: mit dem heutigen Tag gibt es Pressefreiheit“. Und tatsächlich, im Verlauf zweier Monate, als sich Petersburg in den Händen des Sowjets der Arbeiterdeputierten befand, herrschte in Russland amerikanische Pressefreiheit. [1] (stürmischer Applaus)
Die Regierung versuchte, Genossen, den Sowjet an der Herausgabe seiner Iswestija zu hindern: zur Zeit der Streiks, als die ganze Presse schwieg, war es der Regierung peinlich, dass ihre Zeitung in solcher jämmerlichen Aufmachung erschien, während die Zeitung des Proletariats ein vorzügliches Aussehen hat. Die Regierung versuchte, die Druckerei mit ihren Truppen zu umringen. Die Kraft und Anziehungskraft des Proletariats waren so groß, dass es seine Iswestija in allen Druckereien ungehindert druckte, sogar in der Druckerei der Nowoje Wremja– dieser reaktionären, Pogrom- und panslawistischen Zeitung, wo wir unsere siebte Nummer in ebensolchen Schrifttypen und in ebensolchem Umfang wie die Nowoje Wremja veröffentlichten. Als der Delegierte des Sowjets in der Druckerei war und erklärte, dass sie für die Dauer von 24 Stunden Eigentum des Volkes und notwendig für die Publikation des „offiziösen Regierungsorgans“ sei, antworteten sie ihm, dass die Druckerei ihm nicht übergeben werde, weil sie Angst hätten, dass die Maschinen beschädigt würden.
Unser Vertreter erklärte, dass der Sowjet seine allerbesten Arbeiter geben werde. Dann beriefen sie sich darauf, dass „jetzt Streik ist, und es keine Elektrizität gibt“.
„Wir werden anordnen, dass sie Licht geben.“
„Aber unser Elektrizitätswerk leiten Offiziere, und in ihm arbeiten Seeleute.“
„Unsere Verfügungen sind ziemlich redegewandt, sowohl gegenüber Offizieren als auch gegenüber Seeleuten“ – dies war unsere Antwort.
Nach einer halben Stunde war der Raum mit Elektrizität erleuchtet, die Meister beschädigten die Maschine nicht, und die Zeitung ging heraus. (stürmischer Applaus)
Genossen, bald nach dem Oktoberstreik begann die Zarenreaktion ihre Krallen zu zeigen, zuerst in Kronstadt, wo der Aufstand der Seeleute im Blut ertränkt wurde, aber danach in Polen, über welchem das Schwert des Kriegszustands hing. Und das Petersburger Proletariat, das noch nicht dazu gekommen war, sich nach dem Oktoberstreik den Schweiß vom Gesicht zu wischen, erklärte, dass solange der Strick des Kriegsfeldgerichts über den Köpfen der Seeleute drohe, solange in Polen der Kriegszustand wüte, die Petersburger Arbeiter nicht die Bewegung beenden würden und nicht aufhören würden, ihren kräftigen Protest zu erklären. (Applaus)
Am 1. November wurde in Petersburg ein neuer Generalstreik ausrufen, zum Zeichen des Protests gegen den Ansturm der blutigen Reaktion. Damals wendete sich Witte an das Petersburger Proletariat mit einem ermahnenden Brief, der mit den Worten „Brüder Arbeiter“ begann ... Sie sehen, wie süßlich sich der russische Minister an den russischen Arbeiter wendet, wenn letzterer beginnt, ihm den Stiefel auf die Kehle zu setzen: „Brüder Arbeiter, vergesst nicht, dass der Zar euch Gutes wünscht. Hört nicht schädlichen Agitatoren und Unruhestiftern zu. Steht auf euren Posten. Ich bin euer Freund und wünsche euch Gutes“. (Allgemeines Gelächter) Der Sowjet der Arbeiterdeputierten antwortete ihm am 2. November mit einem Brief, den ich Ihnen beinahe wörtlich darlegen kann. Zuallererst erklärte der Sowjet, dass er in keinerlei Verwandtschaft mit dem Grafen Witte stehe. Der Graf Witte sagt, dass der Zar uns Gutes wünsche. Das Petersburger Proletariat antwortet nur zwei Worte: „9. Januar“. Witte sagt, dass er uns Gutes wünsche – das Petersburger Proletariat benötigt die Zuneigung eines Zarenfavoriten nicht.
Graf Witte – so sagte ganz Petersburg – erlitt einen Asthmaanfall, als er diese Antwort las. Er eilte, eine Regierungsmitteilung darüber herauszugeben, dass die Seeleute nicht von einem Kriegsgericht verurteilt werden würden und der Kriegszustand in Polen aufgehoben werde. Das Petersburger Proletariat antwortet, dass am 7. Oktober [November] um 12 Uhr der Streik beendet werde, und dass es sich vom Feld des revolutionären Kampfes in ebensolcher Ordnung zurückziehe, in welcher es es betrat. (Applaus)
Genossen, in der Zeit stellte Petersburg ein unvergessenes Bild dar. Es ist eine Stadt mit zwei Millionen Bevölkerung, mit riesigen Fabriken, in welchen einige Hunderttausende Arbeiter arbeiten. In jenen Tagen, als die Fabriken stillstanden, als sich nicht ein Rad bewegte, als das ganze Leben stockte, als Theater auf unsere Forderung hin die Vorstellung in der Mitte des ersten Aktes einstellten, als die Straßen in Dunkelheit eingetaucht waren, es keine Elektrizität gab, als in den Wohnungen der geheimen Zarenratgeber Finsternis herrschte – in jenen Tagen sahen wir, fühlten wir, was das Proletariat war und was seine Kräfte waren. Wir sahen, Genossen, dass die ganze Gesellschaft nur dank ihm lebt: dank ihm gebrauchen die Herrscher ihre Macht, dank ihm werden die Reichen reich, erforschen die Gelehrten die Wissenschaft, beherrscht der Eigentümer hell erleuchtete Paläste. Alles das dank der Arbeiterklasse, welche in ihren Händen die ganze Welt hält. (Applaus) Ich glaube, dass falls uns, den Sozialisten, das Augenlicht entzogen wäre, unsere Ohren mit Wachs zugeklebt wären, dann hätten wir damals wir den Sozialismus mit den Fingern auf den Petersburger Straßen fühlen können.
Die Unruhe des Proletariats spiegelte sich auch im dunklen, eingeschüchterten, in Finsternis und Unwissenheit lebenden Dorfe wider. Sie wissen, dass eine der Ursachen der russischen Revolution die Knechtschaft und das Elend der russischen Bauernschaft ist. Sie wissen, dass auf dem internationalen Markt des Elends und Unheils der russische Bauer sogar mit dem englisch beherrschten Hindu konkurrieren kann. Es reicht aus, ein auf den ersten Blick komisches, aber im Wesen tief tragisches Faktum zu nennen, welches vom Arzt Schingarjow festgestellt wurde. Wie Ihnen bekannt ist, zeichnet sich die Behausung des russischen Bauern nicht durch Reinlichkeit aus, und ungeachtet dessen boykottieren Wanzen und Küchenschaben dieses Bauernhaus, weil es ihnen in ihm zu kalt und zu hungrig ist; Kälte und Hunger werfen aus ihm sogar Wanzen und Küchenschaben hinaus. In solchem Entsetzen lebt das russische Viele-Millionen-Volk. Das riesige Budget des Zarismus, das Ziffern von zweieinhalb Milliarden Rubel erreicht, ruht völlig auf dem Rücken der russischen Bauern und Arbeiter. Es reicht aus zu sagen, dass der russische Militarismus jährlich sechshundertfünfzig Millionen Rubel verschlingt, aber neben diesem stehen vierhundertsieben Millionen, die den europäischen Börsen für neun Milliarden russische Schulden bezahlt werden – gleichfalls Bezahlungen für Ausgaben, die für den Militarismus und den Zarismus gemacht wurden. Wir bezahlen mehr als eine Milliarde für den Vampir, welcher das russische Volk würgt. Deshalb war die Hauptaufgabe der Revolution die Vernichtung der ungeheuren Militär- und bürokratischen Maschine der Zarenregierung und das Ersetzen des Zarismus durch ein freies republikanisches System.
Eine andere wichtige Losung war: „Expropriation der Gutsbesitzer, Vernichtung des Adels und Verteilung des Bodens an die russischen Bauern“. So lautete die Agrarlosung unserer Revolution. Die Antwort auf den 9. Januar war der Aufstand der Schwarzmeer-Flotte, der Oktober- und November-Streik. Sie fanden Widerhall in den breiten bäuerlichen Massen. Im Oktober das Jahres 1905 brannte nicht nur ein Gutshof, und der rote Hahn der russischen Revolution erleuchtete mit blutigem Feuerschein das weite russische Land. Die Gutsbesitzer flohen in die Stadt und ins Ausland und suchten Hilfe bei der Bourgeoisie. Der russische Gutsbesitzer war bis zum Jahre 1905 liberal, forderte eine Verfassung, nannte sich Freund des russischen Volkes, drückte Unzufriedenheit mit der Bourgeoisie und dem Zarismus aus. Aber mit dem Jahre 1905 klopften die russischen Arbeiter und Bauern ein für alle Mal die liberale Torheit aus dessen Kopf, und er wurde das Rückgrat der grausamsten Reaktion. Wenn der russische Zarismus den Mut fand, sich der Revolution entgegenzustellen, dann erklärt sich das durch das Faktum, dass er sich auf den Adel stützen konnte. In diesen Tagen kam die heilige Vereinigung einer neuen heiligen Dreieinigkeit zustande – der Bürokratie, der Gutsbesitzer und des Zarismus, welche einen blutigen Kreuzzug gegen die Revolution erklärten.
Die europäischen Liberalen, aber vielleicht auch Ihre, hiesigen, beschuldigen die russischen Sozialisten dessen, dass sie einen sehr grausamen, unversöhnlichen Kampf führten, und dass, wenn sie einige ihrer Forderungen gestrichen hätten, wenn sie friedliebender gewesen wären und ihre Hände in die Wolfspfote gelegt hätten, dann wäre die Lage anders gewesen. Aber wie solche Liberalen sind, das zeigten sie selbst, als Ende November in Sewastopol der zweite Aufstand der Schwarzmeer-Flotte unter der Führung des roten Leutnants Schmidts (der in der Folge erschossen wurde) stattfand. Das Petersburger Proletariat sandte seine revolutionären Grüße den Schwarzmeer-Seeleuten. In der Zeit tagte der Parteitag der Liberalen unter dem Vorsitz Miljukows (Rufe: „Nieder mit ihm!“) Der ganze Parteitag verzichtete wie ein Mann auf alle seine Forderungen und teilte mit, dass vom heutigen Tage an sie, die Liberalen, die Regierung und Graf Witte stützen würden. Miljukow versuchte sie damit zu beschwichtigen, dass der Aufstand bereits niedergeschlagen sei. So, Genossen, verhielt sich der russische Liberalismus zur russischen Revolution in der kritischsten Minute der russischen Geschichte. In jenem Moment, als sich das Schicksal des russischen Volkes entschied, zeigte sich der russische Liberalismus als Verräter, Auslieferer, nächtlicher Dieb. In diesen großen historischen Tagen, in jenen Tagen, als das Proletariat den Aufstand der Flotte begrüßte, applaudierte der Liberalismus dem Sieg über sie. Konnte es irgendetwas Gemeinsames zwischen ihm und dem Sozialismus geben? Nein, Genossen, zwischen ihnen liegt ein Abgrund, gegraben vom Verrat des Liberalismus.
Genossen, die Lage war in jenen Tagen bis zum Äußersten verwickelt und tragisch. Das gesellschaftliche Leben wuchs, in der politischen Arena zeigten sich neue gesellschaftliche Klassen. Das Proletariat hielt sich auf der Höhe der Lage, aber es war unbewaffnet. Die Regierung wurde gewissermaßen illegal, ging in den Untergrund, versteckte sich in den Kellergeschossen von Zarskoje Selo, Petersburg und Peterhof. Aber ihr blieben treue Garderegimenter.
Damals gab es in Petersburg zwei Mächte: die eine – die proletarische, unbewaffnet, aber die andere – die Regierungsmacht, bewaffnet. Aber nicht alle Truppen waren dem Zarismus treu. Ich erwähnte bereits die Aufstände in der Schwarzmeer-Flotte. Entlang der ganzen Linie der sibirischen Eisenbahn, auf welcher aus dem Fernen Osten die Soldaten zurückkehrten, wurde die Macht der revolutionären Soldaten errichtet, welche ihre Sowjets der Soldatendeputierten wählten und die roten Banner hissten. Bei uns in Petersburg schickten eine ganze Reihe Regimenter und Matrosenbesatzungen offen ihre Delegierten in Soldatenuniform in den Sowjet. Dies war zur Zeit des Novemberstreiks, nachdem die Petersburger Arbeiter erklärten, dass sie nicht ruhig bleiben können, wenn über den Köpfen der Kronstädter Seeleute der Strick hängt.
Ganze Regimenter gingen auf die Seite der Revolution über, aber das waren Regimenter, die in ihrer Mehrheit aus Proletariern zusammengesetzt waren. Die Zarenmacht baute nicht auf ihren Ministern, nicht auf deren Talent und Findigkeit auf, sondern auf der materiellen Macht der Armee. Aber dennoch ist selbst die Armee keine Maschine, kein totes Werkzeug: sie besteht aus lebenden, intelligenten und fühlenden Menschen. Vom Bestand der Armee hängt ab, auf welche Seite Gewehre und Kanonen feuern werden. Dies sollte man nicht vergessen. Wenn der Zarismus uns besiegte, dann bloß deshalb, weil es in der Armee viele unaufgeklärte Bauern und wenig bewusste Arbeiter gab. (Applaus; Stimmen: „wahr, wahr!“) Sie verstehen natürlich, dass nicht der Zarismus selbst den Mund der Arbeiter stopfte; dessen Werkzeug waren die Bauern-Soldaten. Aber die Maschinenproduktion verwandelt allmählich die Bauern in Arbeiter, Arbeiter gehören der Armee an und revolutionieren sie. Und mit derselben Unwiderstehlichkeit, mit welcher sich die Erde dreht und der Tag durch die Nacht abgelöst wird, aber die Nacht – durch den Tag, werden in der Zarenarmee die Bauer durch Proletarier ersetzt – durch Freunde der Revolution. (Applaus)
Genossen, mir bleibt wenig Zeit und ich bin gezwungen, den Schlussteil meiner Rede abzukürzen.
Ich sagte bereits, dass es zwei Mächte gab: die revolutionäre, unbewaffnete, und die alte, bewaffnete. Wir Sozialdemokraten waren selbstverständlich nicht so naiv, zu erwarten, dass der Zarismus seinen Platz ohne Kampf räumen werde, dass er seine Armee nicht loslassen werde. Wir wussten, dass, sobald das Proletariat zurückweicht, das blutgierige Scheusal aus seiner Höhle hinausgehen und sein Krallen in es stoßen wird. Und deshalb wandten wir uns im Voraus mit einem revolutionären Manifest an die Armee und die Bauern. Und man muss sagen, dass die Stimme des Proletariats riesigen Widerhall fand – riesigen, aber unzureichenden.
Der russische Bauer versteht ausgezeichnet, dass der Gutsbesitzer sein Feind ist. Aber wenn er in die Kaserne eintritt und Soldat wird, beginnt er zu schwanken, wie ein Blinder, der nicht versteht, wo seine Freunde und wo seine Feinde sind. Deshalb richtete er seine Waffe gegen die Revolution. Die Tragödie der russischen Revolution besteht darin, dass der Zarismus schaffte, den Bauern nicht nur ausrauben, sondern auch dessen Bewusstsein zu vergiften. Die Bauern in Soldatenuniform richteten ihre Gewehre gegen die Arbeiter, und dies erklärt die Dezemberniederlage.
Falls man uns sagen würde, dass die Sozialdemokraten das Vertrauen des Proletariats deswegen einbüßten, dass wir es auf die Moskauer Barrikaden führten, dann antworten wir, welche stolz auf diese Erhebung sind, dass dieser Vorwurf jeder Grundlage entbehrt. Wenden Sie sich an den russischen Proletarier und fragen Sie ihn, ob er nach der Dezemberniederlage Vertrauen zu uns verlor. Schauen Sie auf die Listen zur ersten, zweiten, dritten Staatsduma, und Sie werden sehen, dass das russische Proletariat auch nach dem furchtbaren Aderlass seine Stimme nur einer Partei gab – der russischen Sozialdemokratie. Es stimmt, Genossen, dass, als die Wahl zur ersten Duma stattfand, die Arbeiter noch nicht geschafft hatten, sich das Blut abzuwaschen, ihre Wunde noch nicht verheilt war, und viele von ihnen die Wahl ablehnten. In vielen Fabriken wählten die Arbeiter aus Hohn Fabrikhunde, Fabrikschornsteine oder Türen zu Deputierten. Mit einem Wort, die Arbeiter boykottierten die erste Duma. Aber in die zweite Duma sandte, ungeachtet des schweren Wahlgesetzes – von einem allgemeinen Wahlrecht konnte in Russland nicht die Rede sein, unser Wahlrecht war nicht besser als das preußische – das russische Proletariat achtundsechzig Sozialdemokraten. Es ist völlig natürlich, dass bei einem von Graf Witte verfassten Wahlrecht an Volksmehrheiten nicht zu denken war. In der Duma erwiesen sich die Liberalen von der Kadettenpartei mit Miljukow an der Spitze als Herren. Ich erwähnte bereits am vergangenen Sonntag in meiner Rede [2] Maklakow und Stolypin ereignete. Dies war damals, als die Liberalen in der Duma Gesetze ausarbeiteten, die niemals das Licht erblickten.
In derselben Zeit, als jenseits der Mauern der Duma Stolypin Galgen der Kriegsfeldgerichte errichtete, beweist Maklakow in einer glänzenden Rede Stolypin, dass dessen Kriegsfeldgerichte ungesetzlich und rechtswidrig sind. Sie können sich vorstellen, welchen furchtbaren, erschütternden Eindruck diese Rede auf jenen auslöste, der mit Hilfe „ungesetzlicher und rechtswidriger“ Galgen regierte. Er ging zur Rednertribüne und erklärte: „Herr Maklakow ist ein herrlicher, prächtiger Redner, er beweist auf unwiderlegbarste Weise, dass Kriegsfeldgerichte ungesetzlich sind. Aber, Herr Maklakow, Kriegsfeldgerichte sind zweckmäßig, und meine Aufgabe besteht nicht darin, Gesetze auszulegen, sondern darin, die Revolution zu erwürgen. Was kann mir darauf Ihr Liberalismus antworten? Was können Sie mir geben? Vor mir sind revolutionäre Arbeiter und Bauern, welche sich mit sozialen Forderungen erheben, welche das Land den Gutsbesitzern wegnehmen, und ich kämpfe gegen sie mit dem Messer in den Händen. Wozu brauche ich Ihre Rhetorik? Was können Sie mir gegen sie geben?“ Und er spuckte aus und trieb sie auseinander. Ich werde Sie hier daran erinnern, was unser Lehrer Lassalle zur Verteidigung der Reaktionäre sagte: er sagte, dass sie nicht Schwätzer, sondern nüchterne, gescheite Diener ihres Herrschers sind.
Nachdem Stolypin die erste und zweite Duma auseinander trieb, schafft er die dritte nach seinem Bild und Vorbild – einen Dreibund, der die Bürokratie mit dem Militarismus, den Gutsbesitzern und dem räuberischen Kapitalismus umfasst. Die organisierte Konterrevolution fand ihren vollen Ausdruck in der dritten Staatsduma, deren Vorsitzender Alexander Iwanowitsch Gutschkow war, aber der faktische Herr – Peter Arkadjewitsch Stolypin. Stolypin kämpfte mit der Revolution, solange sie lebendig war, er kämpfte auch mit dem Liberalismus in den zwei ersten Staatsdumas; und schuf schließlich die dritte Duma – eine folgsame Bande von Leute, welche „Ja“ zu jedem Wort Stolypins und „Nein“ zu allen Forderungen des Volkes sagen. Aber ich glaube, dass in dieser Duma Stolypin sowohl seine Kräfte als auch seine Schwäche sehen musste. Es stimmt, die russische Revolution war zeitweilig erwürgt – es bleibt nur die Agitation einzelner Personen. Aber diese Agitation bleibt zusammen mit der Armut und der Notlage der Volksmassen, mit dem Bedürfnis gesellschaftlicher Entwicklung, mit der ungelösten Agrarfrage und der nach wie vor unerträglichen Lage der russischen Bauern. Stolypins dritte Duma steht vor einem zerschlagenem Trog. Das riesige Defizit, das bäuerliche Elend, das Misstrauen der europäischen Börsen – alles das bleibt und hilft dem russischen Liberalismus, sein Haupt zu heben und in Gestalt von Professor Miljukow das Banner des Neoslawismus zu erheben. Miljukow erklärt, dass die Kadetten bereit waren, die Durchführung der erforderlichen Reform zu verlangen, aber die Revolution sie störte. Da es bei uns einen genügend geräumigen inneren Markt nicht gibt und nicht geben kann, und deshalb die Selbstherrschaft keine ausreichenden Steuern hat – müssen wir nach Meinung Miljukows uns äußere Märkte auf dem Weg des kapitalistischen Imperialismus gewinnen, mit Hilfe bewaffneter Kräfte
Um in Russland eine Stimmung zu schaffen, die für Stolypin und den Zaren die Entwicklung des Imperialismus sichergestellt hätte, um die Möglichkeit der Eroberungen äußerer Märkte zu schaffen, hisst der russische Liberalismus die neoslawophile Agitation, entrollt das alte Zarenbanner, auf welchem die Worte: „Selbstherrschaft, Rechtgläubigkeit, Nationalität“ stehen, und schreibt zu ihnen die Worte: „Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit“ hinzu – und alles das geschieht unter dem heiligen Protektorat der großen historischen Nagaika des weißen Zaren. Prägen Sie sich meine Wort ein, Genossen, und wissen Sie, dass nicht die Schwarzhunderter oder Oktobristen, sondern die Kadetten, die Liberalen – Miljukow, Maklakow, Roditschew und andere Initiatoren der Neoslawophilie – als erste den Vorwurf gegen uns erhoben, dass wir – Verräter am Slawentum seien, weil unser Deputierter Pokrowski offen und kühn erklärte, dass ihr Neoslawismus Erpressung ist. (Applaus und laute Rufe: „richtig“) Er erklärte, dass sie diesen ganzen Lärm nur dazu erhoben, dass der Zarismus im trüben Wasser Goldfische fangen konnte. Damals bespuckten alle liberalen Zeitungen mit ihrem Giftspeichel den Sozialismus und stützen sich gegen ihn auf alle Anhänger der Neoslawophilie. Aber nun, nach allem, was ich hier bei Ihnen hörte, Genossen, kann ich dem russischen Proletariat erklären, dass jene lügen, die sagen, dass das Balkanvolk, die Balkanarbeiterklasse nicht dem russischen Proletariat, der russischen Revolution vertrauten, sondern dem russischen Liberalismus und dem Neoslawismus vertrauten. (stürmischer Applaus und Ausrufe: „richtig“)
Genossen, weil der Zarismus jetzt stark ist, weil sich jetzt in dessen Händen eine mächtige Armee befindet, daher könnte die Absicht des Kadetten-Imperialismus nur der Reaktion Nutzen bringen. Falls der Zarismus ausländische Märkte erobern und damit die Mittel- und höchsten Klassen bereichern könnte, dann könnte er sein Budget auffüllen und seine Position stärken. Aber das ist es ja, Genossen, dass die Zarenarmee mit ihren Offizieren, deren einzige Verdienste aus Niederlagen des eigenen Volkes bestehen, nicht einmal als Streitkräfte im Kampf mit anderen Staaten ausgenutzt werden konnte, weil sie aus zwei geradewegs gegensätzlichen Teilen besteht. In den Soldatenmassen in den Zarenregimentern haben wir auf der einen Seite Soldaten, in deren Herz die Losung „Revolution und ewige Feindschaft mit dem Zarismus“ unausrottbar ist, aber auf der anderen Seite haben wir da von reaktionären Predigten und Zarenwodka demoralisierte, vergiftete dunkle Banden, welche zur Zeit der Revolution zuverlässigste Verteidiger des Zarismus waren. Das befehlshabende Personal der Armee ist nicht aus Leuten ausgesucht, welche sich auf Schlachtfeldern ausgezeichnet haben, sondern aus blutgierigen Schurken, ähnlich wie jenen, welche mit der grausamen Abrechnung mit dem Proletariat, der Niederhaltung der Aufstände in Petersburg, Moskau, Riga, auf der sibirischen Bahn und in ganz Russland Karriere machten. In solchen Händen befinden sich die Zarentruppen! Vor kurzem wurde eine furchtbare Blamage der Zarenintendantur enthüllt – dieser Banden von Unterschleifern, welche Veruntreuungen von für den Einkauf von vier Dampfern bestimmten Millionen vornahmen. Wenn Sie über diese Erscheinung nachdenken und darüber, dass die Armee ihre Ausbildung im Kampfe mit ihrem eigenen Volke erhält – dann werden Sie verstehen, dass eine solche Armee nicht für auswärtige Eroberungen benutzt werden kann. Sie ist nur zum zeitweiligen Erwürgen der Revolution fähig, aber nicht zum Lösen der herangereiften Volksfragen. Alle bleibt beim Alten.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch die Bestrebung zu auswärtigen Eroberungen in Nichts endete. Als Iswolski nach Europa reiste und Serbien Hilfe von Zarentruppen verhieß, was kam dabei heraus? Aus Berlin fragten Sie in Petersburg die Herren Romanow und Stolypin an, ob sie tatsächlich gewillt seien zu kämpfen oder nicht? Und Petersburg musste zugeben, dass auf ihm der Fluch der Ohnmacht ruht. Dies war die Vergeltung! Eine Regierung, die ihr Volk tötet, kann keine kräftige Außenpolitik betreiben. Aber obgleich das so ist, Genossen, bedeutet das noch nicht, dass die russische Regierung unfähig wäre Unfug zu machen. Bei ihrer ganzen Schwäche und Nichtigkeit ist sie zum Vergiften unserer Leben noch fähig. Wenn sie eine Vereinbarung mit Japan schließt, dann macht sie das natürlich dazu, ihre Raubhände für Räuberei und Plünderung hier, auf dem Balkan zu entfesseln. Und deshalb handeln Sie durchaus richtig, wenn Sie das bulgarische Proletariat und die bulgarischen Volksmassen allgemein vor Danaergeschenken der russischen Regierung und der Bourgeoisie beschützen. Unsere und Ihre Aufgabe, Genossen, besteht darin, alle Bemühungen des russischen Imperialismus zunichte zu machen; das ist unsere gemeinsame Aufgabe, weil die Niederlage der russische Revolution gleichzeitig auch eine Niederlage Ihrer Freiheit ist. Sie wissen gut, dass Internationalismus keine abstrakte Formel und nicht einfach eine Losung, sondern Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut ist. (Applaus; Ausrufe: „richtig“, „richtig“)
Genossen, Sie wissen, dass Geschichte nicht von Parteien und nicht von Gruppen einzelner Menschen gemacht wird. Ich persönlich kann Ihnen weder in meinem eigenen Namen noch im Namen meiner Partei sagen, dass morgen oder übermorgen die Petersburger Ereignisse sich wiederholen werden; aber ich kann kühn eines behaupten – dass der historische Prozess für uns arbeitet, dass jeder Schlag seiner Flügel zu unserem Nutzen ist. Kann etwa die historische Entwicklung des russischen Lebens stehen bleiben? Im historischen Maßstabе können Tod und Niederlage keinen Platz haben. Erinnern Sie sich, wie häufig man über den Tod der Türkei und über das tote China sprach. Aber jetzt findet vor unseren Augen ein Wunder statt: und die Türkei und China belebten sich wieder. Wird aber das russische Volk wirklich für immer ein lebloser Leichnam bleiben? Nein, als Resultat der molekularen Prozesse der inneren Arbeit, wird es seine Produktivkräfte entfalten, sein Leben revolutionieren, sein Proletariat revolutionieren, welches unmerklich in die Reihen der Armee eindringen wird, so lange bis schließlich der Tag eintritt, wenn erneut der revolutionäre Kampf entflammen wird, wenn das russische Volk erneut ausrufen wird: „Leben oder Tod, Tod oder Sieg!“ (Applaus)
Ich kann Ihnen den Termin des Eintritt dieses Tages nicht voraussagen, aber nach dem Evangelienwort wird er früher oder später kommen, und wir alle müssen dafür bereit sein, diesem großen Tag gerüstet zu begegnen.
Die Anteilnahme für die Sache des russischen Proletariats, die ich unter Ihnen fand, wird helfen, die Energie der russischen Sozialdemokratie zu heben und die Zeit näher zu bringen, wenn in der ganzen russischen Ebene erneut das große rote Banner der Arbeiterinternationale flattern wird! (lang andauernder und lauter Applaus und Ovationen)
1. Im Vergleich mit der Zarenzensur schienen die Bedingungen der Presse in Amerika ideal, obgleich jeder marxistische Revolutionär wunderbar verstand, dass hier die Rede von bürgerlicher Pressefreiheit ist, d. h. von solcher Freiheit, welche faktisch nur die besitzenden Klassen benutzen können. Nur in diesem relativen Sinn darf man das Wort des Genossen Trotzki über „amerikanische Pressefreiheit“ verstehen. Erst die Oktoberrevolution im Jahre 1917 gab den werktätigen Massen Russlands die Möglichkeit, echte proletarische Pressefreiheit durchzuführen.
2. Diese Rede wurde vom Genossen Trotzki auf der von der bulgarischen sozialdemokratischen Partei organisierten Gegendemonstration gegen den panslawischen Kongress gehalten, welcher zu der Zeit in Sofia unter Führung von Miljukow, Gutschkow, Kramář und anderen berüchtigten Panslawisten stattfand. Red.
Zuletzt aktualiziert am 28. Dezember 2024