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Der Kampf, Jahrgang 2 1. Heft, 1. Oktober 1908, S. 25–33.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Das Proletariat Frankreichs, das den reichsten Schatz an revolutionären Traditionen besitzt, steht dennoch, was die Entwicklung seiner Organisationen, seiner Presse und seines Kassenwesens anbetrifft, bei weitem nicht an erster Stelle. Der lange Zwist der beiden Fraktionen hat zwar schliesslich zu einer Einigung geführt, aber als eine organische kann sie vorläufig noch nicht bezeichnet werden. Zu gleicher Zeit hat sich ausserhalb des Rahmens der Partei und in gewissem Gegensatz zu ihr die syndikalistische Konföderation der Arbeit gebildet, die bereits weite Arbeiterkreise zu ihrer Anhängerschaft zählt. Diese politische Zerrissenheit der französischen Arbeiterklasse ist das Erbe der stürmischen und wechselvollen Geschichte der bürgerlichen Demokratie Frankreichs. Es war das politische Banner der bürgerlichen Demokratie, unter dem das Proletariat Frankreichs seine revolutionären Schlachten lieferte. Nicht nur in der Grossen Revolution und in der von 1830, sondern auch in den Junitagen des Jahres 1848 und bis zu einem gewissen Grade selbst in den Tagen der Kommune musste es noch immer zu den Formeln des kleinbürgerlichen Idealismus greifen, so oft es seinen Klasseninteressen Ausdruck verleihen wollte. Die jakobinische Demokratie hatte die Arbeiterviertel durch die kriegerischen Traditionen, durch die Ueberlieferungen der Barrikaden an sich gefesselt – und sie hielt die Seele des Proletariers noch in ihrem Zauber, als bereits die bürgerlichen Ideale Fiasko erlitten und die bürgerlichen Losungen sich zu toten Worten verwandelt hatten. Ja, im Grunde genommen, werden erst heute, mehr als hundert Jahre nach dem Konvent, von dem „jakobinischen“ Ministerium Clémenceau, das vor der Pariser Börse Wache hält und den russischen Zaren mit den zur Ausrottung der Jakobiner Persiens nötigen Summen versieht, die letzten Reste aus der Hinterlassenschaft der Grossen Revolution abgetragen. Und auf der anderen Seite ist der französische Syndikalismus, ein wie verzerrtes Abbild er auch in der anarchistischen Dogmatik des Dutzends seiner Führer finden mag, dem eigentlichen Wesen nach ein Symptom der Emanzipation breiter Schichten des französischen Proletariats von der verräterischen und korrumpierten Demokratie der dritten Republik.
Die deutsche Sozialdemokratie, diese Hochburg der sozialen Revolution in dem von Bajonetten umringten Lager des Kapitalismus, stützt sich auf eine Arbeiterklasse, die an revolutionären Ueberlieferungen äusserst arm ist. Im Jahre 1848 folgten die deutschen Arbeiter ehrlich und wacker ihren demokratischen Führern unter die hohen-zollernschen und habsburgischen Kugeln. Doch die bürgerliche Demokratie des XIX. Jahrhunderts besass nicht mehr die Fähigkeit, ihre dichte Schale von Stumpfheit, Feigheit und Eigennutz zu zertrümmern und sich zu der Höhe der nationalen Hegemonie aufzuschwingen. Nur die junge Generation des Kleinbürgertums, die Wiener Studentenschaft, trug kein Bedenken, sich offen auf das rebellische Proletariat zu stützen; selbstverständlich aber konnte dieser Bund für die politische Ohnmacht der bürgerlichen Demokratie keinen vollwertigen Ersatz bieten. Die Revolution brach auf halbem Wege ab und die Bourgeoisie legte ihre historische Mission vertrauensvoll in die Hände Bismarcks. Ihr linker Flügel in der Person der Freisinnigen lehnte sich damals zwar gegen die nationalliberale Entartung auf – aber nur, um vier Jahrzehnte später endlich in Bülow seinen natürlichen Führer zu finden. Die Tyrannei der kapitalistischen Entwicklung äusserte sich in dem Geschick der Demokratie diesseits wie jenseits des Rheins mit gleicher Schonungslosigkeit, wenn auch in verschiedener Form. Dort schafft sie sich selbst ihre Regierung aus Emporkömmlingen und Glücksrittern, stolz auf ihren plebejischen Stammbaum: Journalisten, Advokaten und Renegaten des Sozialismus. Hier stösst sie jubelnd ins Horn, so oft es einem der Börseaner gelingt, die heilige Schwelle zu überschreiten, hinter der die Geschichte gemacht wird. Dort ist sie die unbeschränkte Herrin in den Palästen der Bourbonen; hier – nur ein Gast in der Gesindestube des ostelbischen Krautjunkers. Aber dort wie hier steht sie im Dienste des Finanzkapitals, des Militarismus, der Kolonialpolitik und der kapitalistischen Reaktion.
Der deutsche Sozialismus hatte in ungleich geringerem Masse als der französische gegen die zähe Hartnäckigkeit der demokratischen Illusionen anzukämpfen. Mit fast automatischer Regelmässigkeit eroberte er die Arbeitermassen und fügte in den schweren Jahrzehnten der Weltreaktion Stein an Stein zu dem grossartigen Gebäude der politischen und gewerkschaftlichen Demokratie.
Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Russland stellt den dritten Typus dar: „Je weiter nach dem Osten Europas,“ schrieb 1898 der damals noch revolutionäre Struve, gleichsam in Vorahnung seiner zukünftigen Laufbahn, „um so schwächer, feiger und verworfener in politischer Beziehung wird die Bourgeoisie, um so höhere kulturelle und politische Aufgaben fallen dem Proletariat zu.“ Das deutsche Kapital brauchte immerhin die Siege Bismarcks und die Schaffung eines einigen Deutschland, ehe es in das Lager der Regierung überging – die Prätorianer des russischen Nationalliberalismus liessen es sich an den Stolypinschen Galgen genügen. Die deutschen Kadetten kokettierten erst ein halbes Jahrhundert mit der oppositionellen Phrase, ehe sie sich die Schlinge der Blockpolitik um den Hals legten – der russische Freisinn leistet schon im dritten Jahre nach seiner Geburt der imperialistischen Politik der Gegenrevolution Vorschub. Peter von Struve, der liberale Slawophile und enragierte Deutschenfresser, hat recht: seine slawisch-russische Bourgeoisie erwies sich „schwächer, feiger und verworfener“, selbst an der deutschen gemessen. In dem tiefen Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit rührt sie keinen Finger, um das Proletariat für sich zu gewinnen. Andererseits aber sah sich dieses letztere von vornherein einem überaus konzentrierten industriellen Kapital und einer staatlichen Gewalt gegenübergestellt, die an Konzentration in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Das russische Proletariat brauchte nicht vorerst zünftlerische Illusionen oder die politische Bevormundung der bürgerlichen Parteien abzustreifen. Diese Umstände schufen äusserst günstige Vorbedingungen für seine rasche sozialrevolutionäre Selbstbestimmung. Der wissenschaftliche Sozialismus, dieses letzte Wort des Klassenkampfes, war das erste politische Wort überhaupt, das das russische Proletariat zu hören bekam.
Die übliche Definition der Sozialdemokratie als einer Verbindung zwischen wissenschaftlichem Sozialismus und Massenarbeiterbewegung erhält, auf Russland angewendet, einen besonders ausdrucksvollen Charakter, weil dort ursprünglich die sozialistische Doktrin ausschliesslich in breiten Kreisen der kleinbürgerlichen Jugend nistet und die Befruchtung der Arbeiterbewegung durch die Ideen des Marxismus sich zu einem komplizierten und bisweilen krankhaften Prozess der Anpassung der marxistischen Intelligenz an die Realität des Klassenkampfes gestaltet.
Die ökonomische und politische Bedeutungslosigkeit der städtischen Kleinbourgeoisie, die hiermit verbundene hervorragende revolutionäre Rolle des russischen Proletariats, die völlige Zersetzung der demokratischen Ideologie Europas und das gewaltige Anwachsen des Weitsozialismus – alle diese Faktoren taten sich zusammen, um ein Gravitieren der russischen Intelligenz zu der Lehre des Kommunistischen Manifestes hervorzurufen. Zu gleicher Zeit sicherten jene rein in der Klassenzugehörigkeit liegenden Vorzüge, die den „Akademikern“ eigen sind – Bildung, politische Routine, Musse –, der marxistischen Intelligenz ganz naturgemäss eine vorherrschende Stellung in der von ihr geschaffenen Partei. Die geschichtlich unvermeidliche „Vormundschaft“ der bürgerlichen Demokratie über das Proletariat gewann auf russischem Boden die eigentümliche Form der Diktatur der sozialdemokratischen Intelligenz über die Arbeitergruppen und die noch formlosen episodischen Aktionen der breiten Arbeitermassen. Selbstverständlich war es eine „wohlwollende“ Diktatur, die im grossen ganzen der Klassenselbstbestimmung des Proletariats zugute kam und nur in dem Masse geübt wurde, in dem dieses subjektiv wie objektiv einer Leitung von aussen her bedurfte. Nichtsdestoweniger aber blieb noch bis zur politischen Selbsttätigkeit der Arbeitermassen kein kleiner Weg. Ausserdem muss noch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die leitenden Parteiorganisationen, die, wie erwähnt, schon infolge ihrer sozialen Zusammensetzung von der „geleiteten“ Masse so verschieden waren, überdies noch von ihr durch die fast undurchdringliche spanische Wand der Konspiration getrennt wurden. Allerdings waren auf dem letzten Parteitag zu London (1907) nicht weniger als 150.000 Arbeiter durch ihre Delegierten vertreten. Zieht man zum Vergleich den zweiten Parteitag (1903) heran, bei dem nur die Vertreter der Parteikomitees figurierten, das heisst fast ausschliesslich aus Intellektuellen bestehender Gruppen von fünf bis sieben Personen, so können wir sehen, welch gewaltigen Schritt nach vorwärts die Partei in diesem Zeitraum von vier Jahren gemacht hat. Es wäre jedoch durchaus falsch, wenn man sich das Verhältnis unseres Parteitages zu der Partei so denken wollte wie bei der deutschen Sozialdemokratie. Unser organisatorischer Ueberbau, in dem die sogenannten „Berufsrevolutionäre“ eine so hervorragende Bedeutung haben, besitzt seine eigene abgeschlossene Welt von ideellen Interessen, die als psychologisches Material vielleicht sehr lehrreich, aber auf dem politischen Markt häufig absolut wertlos sind. Wahrend in dem oberen von der Intelligenz besetzten Stockwerk, wo die politische Ideologie den Ausschlag gibt, Ideenkämpfe ausgefochten und Gruppierungen je nach der Auslegung des Marxismus und der Vorausbestimmung dei- künftigen Schicksale der Revolution geschaffen werden, geht unten, in den mit der Partei zusammenhängenden Massen, der theoretisch viel primitivere, aber historisch bei weitem inhaltsreichere Prozess der Klassenselbstbestimmung vor sich. In den Perioden revolutionärer Flut ordnen diese Massen ihren organisatorischen Ueberbau sich vollkommen unter, indem sie alle politisch lebensfähigen Elemente aus seiner Mitte absorbieren und sie zwingen, sich den breiten und freien Formen des revolutionären Kampfes anzupassen. Doch in Perioden politischer Windstille geht der Zusammenhang zwischen Parteiorganisation und Masse verloren – und die Partei, das heisst ihre „oberen Zehntausend“ (oder Zehnhundert), gerät wieder in den verzauberten Kreis der Intellektuellenerlebnisse.
Im Endresultat konnte der Ueberfluss an sozialistischer Intelligenz das Wachstum der politischen Selbständigkeit des Proletariats nur beschleunigen. Aber in einzelnen Perioden spielten und spielen die Methoden der Diktatur der Intelligenz eine äusserst negative Rolle, indem sie bald die überlebten organisatorischen Beziehungen künstlich konservieren, bald die Bewegung in sektenartige Gruppen und Fraktionen spalten.
Nach ihrer Stellung, ihren sozialen Verbindungen und endlich nach den Quellen der materiellen Mittel für ihre politische Agitation erschien die marxistische Intelligenz nur als der linke Flügel der bürgerlichen Gesellschaft. In steter Abhängigkeit von dieser bürgerlichen Gesellschaft fürchtete sie mehr als alles andere, in derselben aufzugehen. Sie fühlte den Mangel einer wirklichen Kontrolle durch irgend eine Klassenorganisation und stellte sich daher unter die ideologische Kontrolle der sozialistischen Doktrin. Daher jene ausserordentliche, durchaus selbständige Bedeutung, welche der Marxismus in ihrem Leben errang. Die Lassallescne „Idee“ des vierten Standes fand nirgends eine so vollendete mystische Inkarnation wie in dem theoretischen Gewissen des russischen Marxisten. Je nach den äusseren Umständen war er in gleicher Weise fähig, bald in sich voller Hochmut das absolute Bewusstsein des Proletariats zu erblicken, bald in Erkenntnis der tiefen Kluft, die zwischen diesem „Bewusstsein“ und dem realen Dasein der Arbeitermassen besteht, verzweifelt die Hände zu ringen. Zwischen diesen beiden Extremen, die übrigens leicht ineinander übergehen: nämlich dem ideologischen Hochmut und der Selbsterniedrigung des Intellektuellen, spielt sich in Wirklichkeit die ganze ideologische Geschichte der russischen Sozialdemokratie in allen ihren Strömungen und Schattierungen ab. Während jener den Schwierigkeiten und Widersprüchen des lebendigen geschichtlichen Prozesses eine fertige Formel entgegenstelit, ist diese im Gegenteil bereit, die Partei in den Arbeitermassen auf jedem gegebenen Niveau deren Entwicklung aufgehen zu lassen. In diesem gemeinsamen Rahmen bildeten und vertieften sich die Gegensätze zwischen den beiden Fraktionen, deren unversöhnlicher Kampf im Laufe der letzten fünf Jahre das Kollektivbewusstsein der Partei in Fesseln hielt.
Was ursprünglich der Fraktion der Menschewiks Einheit verlieh, war der Kampf um freiere und weitere Formen des Parteilebens, entgegen dem in der vorausgegangenen Periode geltend gewordenen mechanischen Zentralismus, der den Prozes-der politischen Selbstbestimmung der Massen durch das heilsame Ermessen des Zentrais komitees ersetzen zu können hoffte. Die oppositionelle Stellung der Menschewiks in der Partei machte sie empfänglicher für die lebendigen Bedürfnisse der Bewegung und stiess sie auf den Weg der Kritik und der Suche nach „neuen Wegen“. Um was es sich auch handeln mochte: ob um die Teilnahme von Arbeiterdelegierten an einer Regierungskommission, oder um die Schaffung von parteilosen Massenorganisationen (Gewerkschaften, Arbeiterdelegiertenrat, Bildungsvereine und ähnliche), oder um die Wahlkampagne – überall offenbarten die Menschewiks in ihrem Bestreben, die Partei aus den engen Verhältnissen des Zirkelsektierertums herauszureissen, ohne Zweifel bei weitem grössere Feinfühligkeit, Initiative und Unabhängigkeit von der revolutionären Routine und der Formenstrenge, als ihre Gegner, die Bolschewiks. Zugleich damit jedoch brachten sie in sich jene Eigenschaften zu immer grösserer Reife, welche sie nicht nur verhinderten, die Partei auf breiteren Anfängen zu verschmelzen, sondern allmählich sie selbt zu dem Ferment der Zersetzung ebenderselben Partei umwandelten. Da sie auf dem Wege zu jedem neuen taktischen Schritt den natürlichen Konservatismus der Organisation zu überwinden hatten, gelangten sie schliesslich dazu, die Partei als eine äussere und in gewissem Sinne ihnen feindliche Gewalt zu betrachten. Die revolutionäre Rolle der Organisation Gapons, der Arbeiterkommission des Senators Schidlowsky und endlich des parteilosen Arbeiterdelegiertenrates bestärkte sie noch mehr in dieser Anschauung. Indem sie sich zu diesem Parteipatriotismus etwa in derselben Weise stellen, wie die Sozialdemokratie zu dem offiziellen Patriotismus der herrschenden Klassen, setzen sie der realen Partei die eigene Spekulation entgegen, die sich jedoch keineswegs durch Ueberspringung der natürlichen Phasen der Parteientwicklung verwirklichen lässt. Hiergegen steht fest, dass, wenn die russische Sozialdemokratie die parteilosen Massenorganisationen in ganz vorzüglicher Weise auszunutzen wusste, dies ausschliesslich dem Umstande zu verdanken ist, dass sie selbst stets das innere ideelle Band zu erhalten bestrebt war, das sie vor dein Aufgehen in die revolutionäre Allgemeinheit bewahrte.
Noch verhängnisvoller war die Richtung, die die Entwicklung des Menschewismus auf politischem Gebiet annahm.
Die Aussöhnung zwischen ihren sozialistischen Pflichten und der Rolle als äusserste Linke in der „bürgerlichen“ Revolution glückte den Menschewiks nicht. Als Partei des entschiedenen Kampfes müsse die Sozialdemokratie darnach trachten, „die Revolution bis zu ihrem Ende zu führen“.
Als sozialistische Partei aber könne und dürfe sie nicht nach der revolutionären Macht streben. Die Nachfolgerin des Zarismus könne nur die revolutionäre bürgerliche Demokratie werden. Da aber eine solche nicht vorhanden ist, bleibt nichts übrig, als sie auszuklügeln. Daher die Idealisierung der Kadetten, die übertriebene Wertschätzung ihrer geschichtlichen Rolle, der Optimismus hinsichtlich ihrer Zukunft, und als weitere Schlussfolgerung – das Bemühen, die Taktik und die Losungen des Proletariats der Taktik der liberalen Opposition anzupassen. [1] Wir sehen somit, dass es nicht so sehr das Jagen nach praktischen Erfolgen ist, wodurch die Menschewiks zu politischen Selbsteinschränkungen getrieben werden, als vielmehr die Furcht vor den Gefahren, welche der Selbständigkeit des Proletariats aus seiner Hegemonie in der bürgerlichen Revolution erwachsen könnten. Ohne zwar den Prinzipien der marxistischen Methode untreu zu werden, bedienen sie sich doch ihrer nicht zur Aufdeckung der realen Möglichkeiten des Klassenkampfes in dem Masse, wie sie vor dem Proletariat erstehen, sondern zur Aufsuchung von Schwierigkeiten, Hindernissen und Gefahren. Unter ihrer Analyse verwandelt sich die Revolution in eine Musterkollekte politischer Versuchungen. Die ängstliche Behütung der „Selbständigkeit“ des Proletariats bringt sie schliesslich zu dem Kampf wider die Logik der Klassenentwicklung der Revolution. Ein tragischer Kampf! Die Konsequentesten unter ihnen gelangen zu der Schlussfolgerung, dass für „die wahre menschewistische Taktik“ in dem „Taumel der Revolution“ überhaupt kein Platz sei. Diese letzteren halten die Spaltung der Partei für unvermeidlich und erwünscht und träumen von einer sozialistischen Sekte der „Wahren“ als der einzigen Zufluchtstätte vor den jakobinischen Versuchungen. Auf der einen Seite die kolossale Organisation der Massen, die als Ergebnis des gestadelosen „Arbeitertages“ die Intellektuellen-Sozialdemokratie mit allen ihren „Gebrechen“ verschlingen soll, und auf der anderen die Sekte der wahren Sozialisten, getrennt durch eine stachelige Hecke von allen Ketzern, insbesondere aber den Kantianern und den Machisten – das ist der gewaltige Raum, auf dem die Menschewiks unter den Stössen ihrer inneren Widersprüche hin- und herpendeln.
Der Bolschewismus hat bis heute ebensowenig die Fähigkeit an den Tag gelegt, die Partei unter seinem Banner zusammenzuschweissen. Allerdings ist er seit 1903 ganz gewaltig gewachsen, jedoch nicht auf Kosten der anderen Richtung. Beide entwickeln sich durchaus parallel, indem sie teilweise an den gegenseitigen Misserfolgen Nahrung fanden, teilweise einander ergänzten. Der ursprüngliche psychologische Sauerteig ist bei den Bolschewiks derselbe gewesen wie bei den Menschewiks: nämlich die Furcht der marxistischen Intelligenz, von der historischen Entwicklung absorbiert zu werden. Während aber die Menschewiks sich in dem phantastischen Traum wiegten, mit einem Sprung über den Kopf der sich real entwickelnden Partei den rettenden Strudel der proletarischen Massen erreichen zu können, richtete der Bolschewismus im Gegenteil seine gesamten Hoffnungen auf die streng zentralistische Organisation, die die Klassenentwicklung des Proletariats unter ihre wachsame Kontrolle nehmen sollte. Der organisatorisch-politischen Zerfahrenheit ihrer Gegner setzen die Bolschewiks die Formenstrenge entgegen, die in der Sphäre der Organisation Kastenabgeschlossenheit und Sektiererargwohn schafft und auf dem Gebiet der Politik nur allzuoft zu pseudoradikaler „Enthaltung“, „Boykott“ und anderen Formen des revolutionären Absentismus führt. Wie grosser Mühe bedurfte es, ehe die Bolschewiks sich dazu aufzuraffen vermochten, auch nur teilweise ihr Misstrauen abzulegen gegenüber den gewerkschaftlichen Verbänden, Genossenschaften, Bildungsvereinen und den anderen parteilosen Organisationen der revolutionären Selbstbetätigung! Das klassische Beispiel für den sektiererischen Charakter ihrer Politik ist und bleibt das misslungene Experiment, den Petersburger Arbeiterdelegiertenrat in der rein formalen Frage der unverzüglichen „Anerkennung“ des sozialdemokratischen Programms zur Spaltung zu bringen.
Aller Schmiegsamkeit und Initiative bar, ignorierte der Bolschewismus hartnäckig die realen taktischen Möglichkeiten, indem er es versuchte, die politischen Erfahrungen der Masse durch die „schonungslose“ Polemik in der Parteipresse zu ersetzen. Dem westeuropäischen Sozialisten würde die gewaltige Bedeutung vollkommen unverständlich bleiben, die von den Bolschewiks den abstraktesten Diskussionen und Resolutionen über solche Themen beigemessen wird, wie zum Beispiel „Der Charakter unserer Revolution“ oder „die Klassenaufgaben des Proletariats“. Die Aufforderung, den Boden der soziologischen Debattiererei zu verlassen und eine gemeinsame Formel für die auf der Tagesordnung stehenden politischen Taten zu finden, wird von ihnen als der prinzipienloseste Opportunismus gegeisselt. Unter solchen Bedingungen war und bleibt teilweise die Entwicklung des Bolschewismus nicht sowohl ein organisches Hineinwachsen in die Klassenbewegung, als vielmehr eine Auslese von Gesinnungsgenossen aus der Mitte der Intelligenz und der Arbeiterschaft. Es darf indes nicht ausseracht gelassen werden, dass der Konservatismus der Bolschewiks nicht nur ihnen selbst unter den widrigsten Verhältnissen dazu verhalf, den Zusammenhang innerhalb der eigenen Fraktion aufrechtzuerhalten, sondern es auch ermöglichte, bis zu einem gewissen Grade den organisatorischen Apparat der ganzen Partei zu retten, als die Periode der politischen Ebbe, der Flucht der Intelligenz und der pessimistisch-gegenstandslosen Kritik der Menschewiks begann. Schon darin allein liegt ihr grosses Verdienst.
Aus unserer Charakteristik der beiden Fraktionen kann man mit Klarheit ersehen, dass es durchaus unangebracht ist, sie mit dem reformistischen, beziehungsweise sozialrevolutionären Flügel der deutschen Sozialdemokratie zu identifizieren – was in unserer
innerparteilichen Polemik, die die ganze Weltentwicklung unter dem Gesichtswinkel des Bolschewismus und Menschewismus zu betrachten geneigt ist, mit so grosser Vorliebe getan wird. Die Ursachen, die diese beiden Strömungen erzeugt haben, sind ihrem ganzen Wesen nach zu den Bedingungen der „ursprünglichen Akkumulation“ der Parteierfahrung zu rechnen – das heisst zu einer Periode, die in Westeuropa längst der Vergangenheit angehört. Dass diese Bedingungen eine Barbarei der Kampfart nicht nur in der Oekonomik, sondern auch in der Politik zur Folge haben, wird der westeuropäische Sozialdemokrat gern zugeben, wenn er sich nur die Geschichte des Kampfes zwischen den Eiseriadiern und den Lassalleanern ins Gedächtnis zuriiekruft. Aus Gerechtigkeitsgründen muss jedoch anerkannt werden, dass, so oft auch unsere Fraktionen in ihrer Zwietracht aufeinanderstiessen, niemals jener Grad der Erbitterung der Kampfgruppen wahrgenommen wurde, der das Leben der deutschen Sozialdemokratie bis zum Einigungstag von Gotha so sehr verdüsterte. Selbstverständlich haben wir dies nicht irgendwelchen geheimnisvollen Eigenschaften unseres nationalen Geistes zu verdanken, sondern der bei weitem geringeren Spannweite unserer Meinungsverschiedenheiten: Die deutsche Sozialdemokratie übervzand so manchen Aberglauben, in den wir zu verfallen daher nicht mehr nötig hatten ...
Das rasche Tempo der Entwicklung der russischen Sozialdemokratie – eine Folge der nationalen und internationalen Bedingungen – weist indes die offenbare Tendenz auf, die Fraktionen des Kindesalters unserer Partei in die typischen Strömungen des europäischen Sozialismus zu verwandeln. Dies Bestreben wird natürlich keineswegs durch die Tatsache beeinträchtigt, dass sowohl die Bolschewiks als auch die Menschewiks auf dem Boden des Marxismus stehen. Der Revisionismus als „Doktrin“ ist zu gründlich kompromittiert, als dass irgend eine neue Strömung im europäischen Sozialismus den Mut finden könnte, ihr Geschick mit dem seinen zu verknüpfen. Man muss aber schon ein unverbesserlicher Idealist sein, um glauben zu können, dass es die Kritik der marxistischen Lehre sei, die den Opportunismus geboren habe – und nicht umgekehrt. Und es wäre überaus naiv, anzunehmen, dass der Opportunismus – inwieweit er sich unvermeidlich aus der Zersplitterung des Klassenkampfes in dem Prozess seiner Anpassung an den Parlamentarismus, die gewerkschaftliche und die genossenschaftliche Methode u. s. w. ergibt – unter dem ideologischen Schutzmantel des Marxismus keinen Platz finden werde. Inwiefern eine feste theoretische Tradition unserem Opportunismus nicht gestattet, auf jede taktische Philosophie überhaupt zu verzichten, läuft seine Aufgabe unter den russischen Bedingungen nicht auf eine Kritik, sondern auf eine Erklärung des Marxismus hinaus. Auf dem Wege der Auslegung lassen sich aber, wie die Erfahrung lehrt, keine schlechteren Resultate erzielen, wie auf dem Wege der Kritik ... Und nun, während Bernstein und andere aus dem Marxismus durch einen operativen Eingriff nicht mehr und nicht minder als die Dialektik, das heisst sein Nervensystem, entfernen wollten, in der Anschauung, dass sie ein rudimentäres Organ sei, etwa wie der Blinddarm beim Menschen, erblicken im Gegenteil einige russische Interpreten gerade in der Dialektik eine unerschöpfliche Quelle opportunistischer Offenbarungen. Je nach ihrem jevzeiligen Wunsche strecken sie dieselbe in die Länge und in die Breite, winden sie um den Finger oder knüpfen sie zu einer Schlinge, gerade als hätten sie ein Stück Guttapercha vor sich. Wie die bei Dietz erschienene Broschüre Tscherewanins zeigt, haben sich einige Menschewiks auf dem Boden der Kritik des Klassenkampfes als der bewegenden Kraft der Revolution zu Opportunisten reinsten Wassers entwickelt, und nur die Ironie des Schicksals, die sie zu „Marxisten“ machte, lässt sie in staunende Entrüstung ausbrechen, wenn die liberale Presse voller Entzücken ihre realistische Denkweise begrüsst.
Wie geartet auch immer die ewig wechselnden Meinungsdifferenzen der beiden Fraktionen sein mögen, sind sich diese letzteren doch in der Hinsicht durchaus gleich, dass sie mit dem nämlichen selbstmörderischen Starrsinn in ihren gegenseitigen Beziehungen die Methode des Klassenkampfes zur Anwendung bringen – selbstverständlich in karikierter Gestalt. Der Parteitag sinkt durch ihr Benehmen zu der Parodie eines bürgerlichen Parlaments herab. Die Fraktion, die ein Uebergewiclit von nur wenigen Stimmen besitzt, drückt ihre Beschlüsse durch und reisst die „Macht“ an sich. Die unterlegene Seite hisst die Fahne der Opposition. Die Partei wird von ihr nunmehr in derselben Weise behandelt wie der Staat. In ihrer Eigenschaft als konsequente und unversöhnliche Opposition gibt sich die unterlegene Seite zu keinerlei Vereinbarungen mit dem „Feinde“ her. Offen oder halb maskiert boykottiert sie seine Institutionen, klammert sich schadenfroh an seine Misserfolge und Fehlgriffe – und bereitet sich so die Majorität für den nächsten Parteitag vor. Sie erhält diese Majorität, um nun ihrerseits das Schicksal des eben gestürzten Gegners zu erleiden. Jetzt ist die Reihe an ihr, die Pfeile der offiziellen Entrüstung gegen Boykott und Obstruktion zu richten, mit deren Hilfe sie soeben erst sich selbst den Weg zur Herrschaft geebnet hatte.
Nur unter dem Zwang der Ereignisse und der unmittelbaren Einwirkung der Massen vermochten es jedesmal die Fraktionen, das Beharrungsvermögen ihrer zentrifugalen Bewegung zu überwinden. Sich selbst aber überlassen, sind sie vollkommen unfähig, den Kampf um die eigene ideelle Flegemonie innerhalb der Partei dort zurücktreten zu lassen, wo diese mit Notwendigkeit als Ganzes auftreten müsste. Fanatische Verfechter der Prinzipien des Marxismus, ignorieren sie dennoch nur allzuoft eines seiner wichtigsten Prinzipien: die Einheit des Klassenkampfes.
Die Gesamtheit aller dieser Erscheinungen lässt uns zu dem Schlüsse gelangen, dass wie der Bolschewismus, so auch der Menschiwismus als Fraktionen sich längst überlebt haben und dass die Elemente der Arbeiterpartei durch sie in ihrer freien Entwicklung gehemmt werden. Alle Strömungen und Schattierungen des Parteigedankens werden künstlich in zwei historisch gebildete Organisationsformen gepresst. Während ernste und fortschrittliche Meinungsverschiedenheiten im Namen der Einheit der Fraktion unterdrückt werden, sucht man mit aller Sorgfalt, nichtige und abgelebte Meinungsverschiedenheiten im Namen der Se'bsterhaltung der Fraktion weiter zu kultivieren. Die organisatorische Isoliertheit erhebt die zwei in jeder Frage vorhandenen Taktikarten zur Norm, noch mehr: zum Gebot der Fraktionsehre. Mit Hilfe der im Westen unbekannten autokratischen Hegemonie der illegalen Organisation wird den Parteimitgliedern eine Disziplin aufgezwungen, die nicht durch die Bedürfnisse der Arbeiterbewegung diktiert ist, sondern durch die künstlichen Interessen zweier miteinander konkurrierender Gruppen der marxistischen Intelligenz. Die Fraktionsroutine ist der konservativste Faktor der Parteientwicklung geworden. Sie muss zertrümmert werden, weil es sonst für uns kein Vorwärts gibt.
Zurzeit vollzieht sich in der russischen Sozialdemokratie eine tiefe innere Krise, deren schwerste Periode indes bereits hinter uns liegt. Zwei Tatsachen, zwar von völlig ungleicher historischer Bedeutung, jedoch in gleichem Masse durch den Gang der Revolution hervorgerufen, liegen dieser Parteikrise zugrunde: erstens die Verminderung der politischen Aktivität der Arbeitermassen, zweitens die epidemieartige Flucht der marxistischen Intelligenz aus den Reihen der Partei.
Den Höhepunkt ihrer Macht erreichte die russische Sozialdemokratie Ende 1905. Unumschränkt herrschte sie damals in den Arbeitervierteln, in den Volksversammlungen und auf der revolutionären Strasse. Die Arbeiterdelegiertenräte, die nicht weniger als eine Million Arbeiter in dem ganzen Lande vereinigten, stellten nichts anderes dar als den organisatorischen Apparat des politischen Einflusses der Sozialdemokratie. Unsere Zeitungen in den beiden Hauptstädten zählten nicht weniger als 300.000 Abonnenten, ein reiches Netz von Parteiorganen überzog das ganze Land. Die Türen und Fenster des revolutionären „unterirdischen“ Verstecks hatten sich sperrangelweit geöffnet. Die Parteiorganisation trat sofort unter die Kontrolle der Massen. In der gespannten Atmosphäre der revolutionären Ereignisse vollzog sich rastlos und schnell die natürliche Auslese der Geeigneten: die Gepflogenheiten der Fraktionspolitik fanden keinen Boden für ihre Anwendung, die Massen hoben neue Führer auf den Schild, viele Elemente der Parteihierarchie sahen sich zur Disposition gestellt. Während ganze Fabriken und Industriewerke in die Partei eingereiht wurden und die sozialdemokratische Presse sich zum Gravitationszentrum für die breiten Kreise der revolutionären Intelligenz verwandelte, fühlte sich die alte „Bureaukratie“ der Partei, insbesondere aber ihre mittleren Reihen, auf deren Schultern die unmittelbaren Schwierigkeiten der illegalen Arbeit zu liegen kamen, bei dem grossen Fest der Revolution zu kurz gekommen. Der Unmut über die eigene Ohnmacht ging naturgemäss in Unmut über die allgemeine Richtung der revolutionären Politik über. Nach der Dezemberniederlage aber verwandelte sich dieser psychologisch verständliche Unmut in die erbitterte Kritik der Revolution als Ganzes. Jetzt wusste jeder irgend einen „Hauptfehler“, und viele wussten ausserdem noch nachträglich ein Rettungsrezept. Die offene Existenz der Partei wird unmöglich; von der früheren revolutionären Begeisterung für die illegalen Formen der Tätigkeit ist aber keine Spur mehr übrig geblieben. Nun tauchen allerlei Pläne auf: von einem rettenden Arbeitertag, von einem Arbeiterverband, der eine Million Mitglieder umfassen soll u. s. w. Die weiteren Misserfolge der Revolution töten ganz und gar die Sympathien der radikalen Intelligenz mit den revolutionären Arbeitern, der Zufluss von Mitteln aus den Kreisen der Bourgeoisie hört auf, der Zerfall der alten Parteiorganisation vollzieht sich mit unheimlicher Raschheit.
Dieser Prozess wickelt sich parallel und in engster Verbindung mit der Verminderung der politischen Aktivität des Proletariats ab. Die sozialistischen Arbeiter, die im Laufe der Revolution die Vormundschaft der Intelligenz entbehren lernten und in den Delegiertenräten die Leitung ihrer Geschäfte in die eigenen Hände zu nehmen wussten, fielen nach den Niederlagen von neuem in die alte organisationelle Abhängigkeit von der in zwei Lager geschiedenen Kaste der „Berufsrevolutionäre“. Ganz naturgemäss ist es daher, wenn viele, und dies die tätigsten proletarischen Elemente, von der Partei weg zu den legalen gewerkschaftlichen Verbänden, Genossenschaften und Bildungsvereinen übergingen. Hier hofften sie das Feld für eine selbständige, ausgedehnte Tätigkeit zu finden. In der ersten Zeit wurden ihre Hoffnungen wohl erfüllt. Die im Jahre 1906 eingetretene relative „Beruhigung“ schuf die notigen Bedingungen für das Hervortreten der ökonomischen Bedürfnisse des Landes. Die Industrie, insbesondere die Textilbranche, zeigte Merkmale von Wiederbelebung, der Zufluss von ausländischen Kapitalien stieg, die ökonomischen Streiks nahmen aufs neue epidemischen Charakter an und die Gewerkschaften wuchsen mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Dass diese unter den russischen Bedingungen im Grunde nichts anderes als eine andere organisatorische Form der proletarischen Revolutionspolitik darstellen, begriff die zarische Regierung sehr bald und wandte sich gegen die ökonomischen Kampfvereinigungen mit der ganzen Wucht ihrer Repressalien. Der Stand des Marktes sicherte dieser Politik den Erfolg. Wenn Krieg und Revolution dem russischen Staat die Möglichkeit nahmen, an der Prosperität des Weltmarktes von 1903 bis 1907 teilzunehmen, so konnte ihn nichts daran hindern, gleich nach den ersten Symptomen der Wiederbelebung aufs neue der Wirkung der anrückenden Krise zu verfallen. Der in weiter Front entfaltete Streikkampf geriet gleich nach den ersten Zusammenstössen auf den Sand, die Armee der Arbeitslosen, durch viele Tausende Opfer des Aussperrungssystems vermehrt, legte sich mit ganzer Schwere auf die schwachen Schultern der Kampforganisationen, und die Polizeirepressalien führten nur das Werk der Depression zu Ende. Die Gewerkschaften waren vor das Dilemma gestellt, entweder sich aufzulösen oder in das „unterirdische“ Versteck abzuziehen. Die Arena der legalen Tätigkeit war für die sozialistischen Arbeiter endgültig vernichtet. Die Sozialdemokratie schien sich in einer Sackgasse festgerannt zu haben. Der tote Punkt in diesem Prozess fällt in das Ende des vergangenen und den Beginn des laufenden Jahres.
Augenblicklich jedoch lassen sich nicht nur einzelne Anzeichen eines Wiedererwachens des Parteilebens konstatieren, man kann auch schon die Grundtendenz der neuen Periode in der Entwicklung der russischen Sozialdemokratie erkennen.
Der Ueberfluss an marxistischer Intelligenz schuf zahlreiche Kadres von Arbeitern, die eine ernste sozialistische Schule durchgemacht hatten. In Bezug auf die theoretische Disziplinierung seiner fortschrittlichen Schicht wird das russische Proletariat vielleicht nur von dem reichsdeutschen übertroffen. Die Ereignisse der Revolution brachten der ganzen Arbeiterklasse, insbesondere aber ihrer Avantgarde, eine unschätzbare politische Erfahrung. Die äussere „Abkühlung“ der fortschrittlichen Arbeiter gegenüber der Partei, worüber im Vorjahre von so mancher Seite geklagt wurde, hatte darin ihre Erklärung, dass sie für ihre grossgewordenen Kräfte ein breiteres Arbeitsgebiet suchten, als es ihnen die halb zerstörten Parteizellen bieten konnten. Aus allen legalen Positionen aber verdrängt, sind jetzt die sozialdemokratischen Arbeiter von neuem gezwungen, geheime revolutionäre Organisationen zu bilden. Aus den verschiedensten Teilen des Reiches treffen immer wieder dieselben Nachrichten ein: die politische Agitation, die Leitung der Fabrikszirkel, die Einrichtung der illegalen Druckereien, die Herstellung der Aufrufe – alle diese Funktionen gehen in die Hände der Arbeiter über. Gleichzeitig macht sich die Partei auch in finanzieller Beziehung von jener erniedrigenden Abhängigkeit los, in der sie durch die geizige „Sympathie“ der liberalen Bourgeois gehalten wurde. Auf diese Weise nehmen die sozialdemokratischen Arbeiter allmählich sämtliche von der Intelligenz verlassenen Posten ein und schwingen sich zu verantwortlichen Herren ihrer eigenen Partei auf.
In gewissem Sinne lässt sich sagen, dass jetzt erst die russische Arbeiterklasse die politische Vormundschaft der bürgerlichen Demokratie – wenn auch mit marxistischer Weltanschauung – von sich abwirft. Durch eben diesen Vorgang werden die sozialistischen Akademiker auf den Platz verwiesen, den allein zu beanspruchen sie das Recht haben: aus Halbgöttern, die die historische Entwicklung leiten, verwandeln sie sich zu untergeordneten Organen der Klassenselbstbestimmung des Proletariats. Die marxistische „Theokratie“ fällt. Zugleich mit dem Sturz der Herrschaft der Intelligenz schwindet auch der stützende Grund für den ideologischen Fetischismus und das fraktionäre Sektierertum. Zugleich damit wird der Partei die Möglichkeit geboten, das reiche Erbe auszubeuten, das ihr die letzten Jahre ihres Bestehens hinterlassen haben. Vielleicht wird es nicht a ls nationale Ueberhebung aufgefasst werden, wenn wir der Hoffnung Raum geben, dass es der russischen Sozialdemokratie gelingen wird, die Synthese aus dem deutschen und dem französischen Typus zu bilden: die Verbindung von ernster theoretischer Schulung, Mannigfaltigkeit und Reichtum mit der nie verblassenden revolutionären Tradition.
1. Siehe Neue Zeit, Nr. 48 (1908): N. Trotzky: Das Proletariat und die russische Revolution.
Zuletzt aktualiziert am 15. Januar 2023