Leo Trotzki

 

Brief an P. B. Axelrod

(12. September 1906)


Nach Schriften zur revolutionären Organisation. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 180–189.
Dort mit zahlreichen Fußnoten.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Teurer P. B.! Soweit man nach den zu uns gelangenden Nachrichten urteilen kann, arbeiten Sie aktiv an der Einberufung eines Arbeiterkongresses. Unter bestimmten Bedingungen, auf die man wahrscheinlich nicht lange warten muss, wird ein Arbeiterkongress unvermeidlich, und es ist im Interesse der Revolution wie unserer Partei unbedingt notwendig, auf ihn zuzugehen – sofern man diese Interessen überhaupt teilen kann. Und ich denke, dass Sie, P. B., die faktische Leitung der Einberufung des Arbeiterkongresses mehr als sonst irgend jemand in unserer Partei übernehmen können, weil dazu die Fähigkeit erforderlich ist, die kleinen und kleinlichen Erwägungen formal-revolutionären Charakters und die formalen Auffassungen von den Aufgaben der Partei hintanzusetzen – zugunsten einer Stellung der wirklich revolutionären Aufgaben auf breiter Basis, der eigentlichen Aufgaben der Partei. Ich war, wie Sie wahrscheinlich wissen, intensiv an der Tätigkeit des Petersburger Rats der Arbeiterdeputierten beteiligt, dieser formal parteilosen Organisation der arbeitenden Massen. Und ich hatte ausreichend Gelegenheit, mich zu überzeugen, welch gewaltigen Vorteil die Partei besitzt, wenn sie sich in ihrer Arbeit unmittelbar auf eine Organisation von Hunderttausenden von Arbeitern stützen kann. Bis zur Bildung des Rats schwebte die Partei über einem revolutionären Chaos, dessen Gefühl und Stimmung sie nur ungefähr erriet; nach der Bildung des Rats stand sie einer organisierten Klassenvertretung unmittelbar gegenüber. Der Rat konnte nicht der Konkurrent der Partei sein: Im Gegenteil, er zeigte sich als Apparat ihres Einflusses. Nicht formal, aber seinem Wesen nach war der Rat eine Organisation unserer Partei. Schon die Tatsache, dass hinter dem Rat 200.000 Arbeiter standen, stellte ihn und damit auch die Partei unmittelbar vor große politische Aufgaben, schon dadurch, dass er beide Fraktionen zwang, unwichtige Überlegungen innerparteilicher Konkurrenz beseite zu werfen. Die Massenorganisation jedoch veredelte die Partei nicht nur innerlich, indem sie zwischen jener und den Massen nicht nur ein theoretisches, sondern ein tatsächlich existierendes, lebendiges und unmittelbar reales Band knüpfte, diese Massenorganisation schuf für uns zudem die Möglichkeit revolutionärer Kooperation mit dem Teil der Sozialisten-Revolutionäre, der sich durch seine Arbeit in den Reihen des städtischen Proletariats, seinen eigenen theoretischen Vorurteilen zum Trotz, ganz in Richtung auf den Arbeitersozialismus gewandelt hatte.

Die Frage eines allrussischen Arbeiterkongresses stellte sich schon während der Phase der Existenz des Rats. Für den Petersburger Rat bildete ein solcher Kongress den natürlichen Ausweg aus der widersprüchlichen Situation einer lokalen Organisation, die durch die Umstände zentrale Funktionen auf sich zu nehmen genötigt war.

Ich persönlich war und bleibe ein engagierter Parteigänger der Idee eines Kongresses. Nichtsdestoweniger halte ich eine Überbewertung seiner möglichen Bedeutung für äußerst unerwünscht, weil eine solche übertriebene Einschätzung sich unter bestimmten Bedingungen äußerst schädlich auf das Schicksal unserer Partei auswirken könnte.

Vor allem kann – und damit werden Sie natürlich übereinstimmen – ein Arbeiterkongress lediglich als offener, der Allgemeinheit zugänglicher Kongress Bedeutung haben. Um die Masse an dem Kongress zu interessieren, wäre es notwendig, dass Delegierte auf öffentlichen Arbeiterversammlungen gewählt würden, dass der Kongress öffentlich in der Hauptstadt tagte, dass eine freie Arbeiterpresse die Berichte über ihn in allen Gegenden verbreitete – mit einem Wort, es sind die Bedingungen erforderlich, wie sie für den ersten Rat der Arbeiterdeputierten bestanden. Ein illegal organisierter und in Finnland oder der Schweiz tagender Kongress, der Nachrichten über sich nur mittels illegaler Flugschriften oder über die „Tageschronik“ der bürgerlichen Presse verbreiten könnte, kann für die Massen keinerlei Bedeutung besitzen. Die Organisatoren eines Kongresses legen sich darüber zweifelsohne klar Rechenschaft ab, so dass man hier nicht dabei verweilen muss.

Ein Kongress wird lediglich im Rahmen eines erneuten revolutionären Aufschwungs möglich sein, der ohne Zweifel allerorten Delegiertenräte als Massenorganisationen der Arbeiter bilden wird. Es ist sehr gut möglich, dass eben der Kongress in entscheidendem Maße die Vertretung dieser Räte sein wird. Ich werde mich jedoch nicht bei diesen technischen Details aufhalten. Mich interessiert hier eine andere Frage: Welche Taktik muss unsere Partei gegenüber einem solchen Kongress einschlagen? Vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Welches Verhältnis müssen die Parteigänger des Kongresses zur Partei haben?

Weiter oben erwähnte ich schon die Gefahr einer übertriebenen Einschätzung der zu erwartenden Kongressergebnisse. Einige Genossen blicken, wie sie mir wenigstens mitteilten, auf den Kongress wie auf ein Wundermittel, das die Partei „erretten“ müsse. Wenn der Kongress der Partei nicht helfen wird, sagen sie, dann wird ihr nichts mehr helfen. Ich frage mich, was das heißen soll; droht der Partei etwa der Untergang? Vor welcher tödlichen Krankheit muss sie errettet werden? Und auf welche Weise könnte ein Arbeiterkongress sie retten? Wir alle kritisierten unsere Partei so häufig und in vielen Fällen so ungerecht, dass es wahrhaftig gestattet ist, zu ihrer Verteidigung aufzutreten. Wo sind die Zeichen der „inneren organischen Krankheit“ und mehr noch, des „Zerfalls“ unserer Partei? Man wird mich auf den Kampf der beiden Fraktionen verweisen. Keinen Augenblick will ich den Schaden verniedlichen, den dieser Kampf der Partei zufügt, und mein Widerwillen gegen die kleinliche, neidische, engstirnige und bei all ihrem „Realismus“ letztlich doch irreale Politik der Spezialisten des Fraktionskampfes, derer es auf beiden Seiten nur allzu viele gibt, hat niemals nachgelassen. Aber – im Namen des Marxismus: Seit wann ist ein Fraktionskampf ein Symptom von Parteizerfall? Unsere beiden Fraktionen stützen sich auf das Proletariat, eine Klasse, die sich nicht spaltet, sondern sich auf Grund der historischen Entwicklung fest zusammenschließt. Unsere beiden Fraktionen stehen subjektiv auf der Grundlage des Programms der internationalen Sozialdemokratie. Die Logik des proletarischen Klassenkampfes lässt – je weiter, je mehr – dieses Programm zu einer objektiven Notwendigkeit für sie werden. Wenn wir feststellen würden, dass die beiden Fraktionen in dem Maße, in dem sie sich voneinander lösen, unterschiedlichen.sozialen Schichten sich zuwenden, dann wären wir zu der Aussage berechtigt: Die Partei zerfällt. Doch davon kann keine Rede sein. Tatsächlich streiten beide Fraktionen um den Einfluss auf das Proletariat und gehen dabei von ein und denselben Grundlagen aus. Der revolutionäre Grundzug der Epoche verleiht diesem Kampf einen sprunghaften, „explosiven“ Charakter. Bei jedem neuen Wendepunkt der Revolution steht die Partei vor den zwei Gefahren: sich entweder unter Verlust ihrer Partei-Individualität in den revolutionären und unorganisierten elementaren Klassenkräften aufzulösen oder im Kampf um die organisatorische Selbstbewahrung als Partei ihre Verbindung zu der lebendigen Klassenaktivität zu zerreißen. Diejenigen Elemente der Partei, die vornehmlich die erste Gefahr sehen, neigen meist zur Taktik eines formal-revolutionären Rigorismus; sie ignorieren zu häufig die lebendigen Hindernisse und Gegensätze, durch deren Überwindung der historische Prozess uns zum schließlichen Ziel führt. Diejenigen Elemente der Partei hingegen, die in dem Bestreben, die zweite Gefahr zu verhindern, Befriedigung finden, legen häufig die Neigung an den Tag, Zwischenlosungen und „vorbereitende“ Losungen aufzustellen, deren Ziel es ist, die Partei, koste es, was es wolle, an die proletarische Masse zu binden, und sei es mit einer allgemeinen nationalen Bewegung auf jeder gerade aktuellen Stufe ihrer Entwicklung. Diese grob vereinfachende Methode des Kampfes für die Autorität der Partei führt in ihrer folgerichtigen Weiterentwicklung zum Opportunismus. Man darf jedoch nicht glauben, dass zwischen formal-revolutionärem Rigorismus und Opportunismus ein Abgrund läge. Im Gegenteil, sie sind einander nahe verwandt und gehen leicht ineinander über. Es scheint mir unnötig, daran zu erinnern, dass Anarchismus und Reformismus, die in Westeuropa die extremsten Ausdrucksformen der beiden genannten Tendenzen darstellen, einander lediglich ergänzen. Ich nenne hier Anarchismus und Reformismus – Worte, von denen unsere Parteipolemik nur so strotzt – und beeile mich hinzuzufügen: Es genügt, unsere beiden Fraktionen – nicht in ihren zufälligen Äußerungen, sondern in ihren politischen Taten – mit dem europäischen Anarchismus [1] und Reformismus zu vergleichen, um festzustellen, wie gering im Grunde die Amplitude unserer Meinungsverschiedenheiten ist. Die Taktik der einen oder der anderen Fraktion als Anarchismus oder Reformismus zu qualifizieren kann eigentlich nur heißen: Wenn Sie bis zum Schluss konsequent wären, wenn Sie das, was Ihren Fehler ausmacht, Ihrer gesamten Taktik zugrunde legten, dann gelangten Sie unvermeidlich zu Anarchismus (oder Reformismus).

Eine solche Methode der Polemik wäre mit dem Ziel der Erläuterung bestimmter politischer Tendenzen durchaus statthaft. Aber es wäre reinste Unvernunft, auf diese Methode Konstruktion (oder Zerstörung) der Partei zu gründen. Nein, so schmerzhaft sich unsere innerparteilichen Debatten auch darstellen mögen, sie sind in keinem Falle ein Symptom des Zerfalls unserer Partei. Nichtsdestoweniger jedoch, könnte man mir widersprechen, sind alle fortwährend unzufrieden mit der Partei, tadeln sie, meckern über sie, laufen vor ihr davon. Ich bin zwar nicht geneigt, dieses Faktum überzubewerten, werde es jedoch auch nicht negieren. Aber ich bin keinesfalls damit einverstanden, hierin ein Zeichen des Zerfalls unserer Partei erblicken zu wollen. Die tatsächliche Quelle der Unzufriedenheit liegt nach meiner Meinung jenseits der Eigenschaften und Qualitäten der Partei, nämlich in den Bedingungen der Revolution selbst, im Wechselspiel von Flut und Ebbe in den Gezeiten der Revolution. Der revolutionäre Charakter der Epoche erlaubt es nicht, mit System an der Bildung einer breiten und dauerhaften organisatorischen Basis der Partei zu arbeiten. In der Periode des Aufschwungs wird eine ungeheuer große proletarische Masse in die Bewegung hineingezogen. Um sie politisch zu erobern, muss die Partei zu dem Mittel breiter parteiloser Organisationen greifen. Der darauffolgende Ansturm der Reaktion zerstört diese Massenorganisationen und treibt die Partei in den Untergrund. Die Aktivität der Massen wird vorübergehend gestoppt, Verbindungen der Partei zu den Massen werden unterbrochen. Eine derartige Situation ruft natürlich Unzufriedenheit hervor. Das einfache Resultat der Wechselwirkung der Kräfte von Revolution und Reaktion wird der Revolution und insbesondere der Partei als Fehler angelastet. Besonders häufig verfahren die Sozialdemokraten selbst in dieser Weise, so sehr sie sich auch an eine – nicht immer vernünftige – Selbstkritik gewöhnt haben. Zudem rückt natürlich eine unsichere Lage, wie sie durch das Stocken der revolutionären Bewegung geschaffen wird, an die erste Stelle im Parteileben taktische Vorschläge, Absichten und Pläne, die dort um so erbitterter diskutiert werden, je gegenstandsloser sie sind. Das verstärkt wiederum die Unzufriedenheit mit der Partei und die Angriffe gegen sie aus den eigenen Reihen. Diese Angriffe mögen gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein – im Grunde jedoch gibt es eben kein organisatorisches Wundermittel und es kann keines geben, das die Partei vor den Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten der revolutionären Entwicklung retten könnte. In einer solchen Situation auf ein Rettungsmittel in Gestalt eines Kongresses zu warten, wäre naiver Utopismus. Das zeigt sich am besten in der Tatsache, dass der Kongress selbst in einer Periode relativ eindeutigen revolutionären Stillstands nicht organisiert werden kann, wenn die Regierung die Zügel mit allen Kräften angespannt hält.

Wo sind denn nun all diese Zeichen des Zerfalls der Partei? Ohne Zweifel wächst ihr politischer Einfluss auf das Proletariat. Es genügt, drei Etappen der Petersburger und zum Teil auch der gesamtrussischen Arbeiterbewegung nebeneinander zu betrachten – 9. Januar – Schidlowski-Kommission – Arbeiterdeputiertenrat –, um den ins Auge springenden, ungeheuren Kraftzuwachs und den vermehrten Einfluss der Partei festzustellen. Die Genossen, die prophezeit hatten, dass die breite Masse der Arbeiter von uns zu den Demokraten übergehen würde (zu den Studenten, zu Gapon, zum Verband der Verbände zu Prokopowitsch und Gott weiß zu wem noch), diese Genossen, die den größten Optimismus für das Konto der bürgerlichen Demokratie an den Tag legten, wurden jedes Mal beschämt. Die Rolle der Partei im Proletariat wuchs zumindest ebenso progressiv wie die Rolle des Proletariats in der Revolution.

Man könnte mir sagen, das betreffe lediglich den politischen Einfluss der Partei; die Angriffe auf die Partei zielten jedoch auf ihre Organisation. Weiter oben habe ich bereits gesagt, dass der revolutionäre Charakter der Epoche, der unseren politischen Einfluss so sehr ausdehnte, uns zugleich hindert, eine feste, breite Parteiorganisation zu schaffen. Damit wollte ich allerdings ganz und gar nicht sagen, dass unsere Organisation die bestmögliche sei, die man unter den gegenwärtigen Umständen schaffen könne. Ich verlange jedoch, dass bei Angriffen auf die Partei nicht alle Perspektiven ignoriert werden, dass man nicht vergesse, wie gerade diese angeblich in allem untaugliche Organisation der Partei die Möglichkeit zur Eroberung eines gewaltigen Einflusses bot.

Es wird Sie, verehrter P. B., vielleicht überraschen, dass ich in einem Brief an Sie die Partei gegen unkritische Beschuldigungen verteidige, und Sie werden vielleicht fragen, welche Beziehung zwischen meiner Verteidigung der Partei und der Frage des Arbeiterkongresses bestehe. Die Antwort ist kurz: Ich fürchte, bei einem bestimmten Stand der Dinge würde ein Arbeiterkongress, noch bevor er dazu kommt, irgend etwas aufzubauen, die Zerstörung dessen, was ist, fördern.

Wie groß auch die Bedeutung eines Kongresses sein mag, in keinem Fall ist er in der Lage, unsere Partei umzugestalten. Selbst wenn er allergrößtes Gewicht haben sollte, wird er in den komplizierten Prozess des Wachstums und der Umgestaltung der Partei nur als eine neue, positive Episode eingehen können. Dieser Prozess hat ein eigenes Beharrungsvermögen – und damit muss man rechnen. Die Partei reift einmal in dem Umfang, in dem die Arbeitermasse als Ganzes die Fähigkeit zu politischem Handeln erwirbt, Zum anderen auch in dem Maß, in dem die bewussten Elemente dieser Masse, die in fortwährend steigender Zahl aus ihrer Mitte herauswachsen, sich in politischer Organisation kristallisieren. Das ist eine komplexe und lang andauernde Entwicklung. Wenn die Widersprüche im Wachstumsprozess der Partei zu schmerzhaften Charakter annehmen, so kann ein Ausweg aus ihnen doch nur in der Erweiterung und Vertiefung der Parteiarbeit insgesamt gefunden werden. Hier gibt es kein vereinzeltes „Unternehmen“, das Rettung in sich bergen kann. Deshalb klingt die Phrase: Kann der Arbeiterkongress der Partei nicht helfen, so wird ihr nichts mehr helfen – unsinnig in meinen Ohren. Aber gerade diese wahrhaft phantastische Losung wird bei bestimmten Elementen der Partei populär.

Damit meine Befürchtungen begreiflicher werden, muss ich ein wenig zurückgreifen. Meine erste prinzipielle Meinungsverschiedenheit mit der Fraktion der Minderheit entstand bald nach dem II. Kongress in der Frage der Methoden des weiteren Parteiaufbaus. Einige einflussreiche Menschewiki gelangten zu der Schlussfolgerung, ein Ausweg aus den Schwierigkeiten und Misslichkeiten der Parteientwicklung bestehe darin, über den Kopf der „Intellektuellenpartei“ hinweg unmittelbar an das Proletariat zu appellieren. Ich habe niemals verstanden, wie eine real existierende Partei oder auch die eine ihrer Hälften über ihren eigenen Kopf hinweg an das Proletariat appellieren könnte. Das gelingt so wenig wie der Versuch, sich auf die eigenen Knie zu setzen. Ich habe niemals begriffen, welch andere Mittel des Appells an die unorganisierte Masse es außer ihrer Einbeziehung in den Bereich der Führung der Partei noch geben könne. Und für eine solche Führung ist der bestehende Apparat unbedingt notwendig. Die Partei hat keine Möglichkeit, eine von ihrer eigenen materiellen Organisation „befreite“ Masse zu führen.

In Wirklichkeit hatte der organisatorische Aufbau bei den Menschewiki eben denselben Charakter wie bei den Bolschewiki. Er war bestimmt durch die geringe politische Erfahrung der Partei, durch das zur Hälfte aus der Intelligenz stammende Reservoir ihrer leitenden Organisationen, durch das allgemeine Niveau des Proletariats, durch das Tempo der politischen Entwicklung des Landes. Das heroische Mittel, kraft dessen die Klasse – natürlich nur spekulativ – an die Stelle der historisch gewachsenen Partei gestellt worden wäre, erwies sich natürlich als undurchführbar.

Eine Partei kann die natürlichen Phasen ihrer Entwicklung nicht überspringen. Ich habe, falls Sie, P. B., sich erinnern, beharrlich, wenn auch nicht immer erfolgreich auf der Notwendigkeit bestanden, gegen utopische Tendenzen zu kämpfen, die auf irgendeinem möglichst kurzen Weg die Arbeiterklasse zu erobern dachten, wobei sie die Etappen der Parteientwicklung hinter sich zurückgelassen hätten. Ich bemühte mich zu zeigen, dass eine solche Tendenz uns nur in sehr geringem Maße dabei helfen könne, uns mit der Arbeiterklasse zu verbinden, dafür jedoch in unseren eigenen Reihen Geringschätzung der Partei, ihrer angehäuften Erfahrung und ihrer politischen Kultur hervorrufen würde.

Aber in solch einer barbarischen Geringschätzung der Eroberungen und der Traditionen der Partei bestand die Todsünde des II. Kongresses. Er wollte sogar auf kürzestem Wege über politische Gruppen, die sich natürlich herausgebildet hatten, zur Parteibildung übergehen. Er appellierte sogar über die Köpfe dieser Gruppen hinweg an die noch nicht existente Partei. Natürlich entstand auf diese Weise nicht die Partei – die Zirkel jedoch, die in sich das geistige Kapital der Sozialdemokratie konzentriert hatten, erwiesen sich als zerstört. Zu genau dem gleichen Ergebnis werden wir gelangen, wenn wir uns jetzt im Namen des Arbeiterkongresses mit dem Rücken zur Partei wenden.

Sich mit dem Rücken zur Partei wenden – das ist nicht mein eigener Ausdruck. Man sagt, dass einige enthusiastische Anhänger der Idee des Arbeiterkongresses diese Worte als Antwort auf die Frage geben: Was geschieht, wenn die Partei in Gestalt ihrer beiden Fraktionen nicht zu einer einheitlichen Entscheidung in der Frage des Arbeiterkongresses gelangt? Sich mit dem Rücken zur Partei wenden – das ist kein Ausweg aus den Widersprüchlichkeiten der Parteientwicklung. Wenn das ganze Problem sich darin erschöpfte, dass irgendeiner unter den Sozialdemokraten gegenüber den Wachstumsschwierigkeiten seiner Partei resigniert hätte und sie verlassen wollte, dann bliebe wahrhaftig nur, ihm gute Reise zu wünschen. Das Problem ist jedoch wesentlich ernster: Sich mit dem Rücken zur Partei wenden – das ist die bedingte Losung einer ganzen Richtung innerhalb der Minderheit und zugleich auch die unmittelbare Fortsetzung des früheren Vorhabens, über den Kopf der Partei hinweg an die Klasse zu appellieren. In einem tieferen, historischen Sinn ist jedes Neuerertum, jeder Kampf gegen Stagnation und Routine in der Partei eine Appellation von Partei zu Klasse: Die historische Entwicklung wählt in der Austragung komplizierter Widersprüche die Methoden aus, die den Interessen der Entwicklung der Klasse entsprechen. Eine elementare Abstimmung der Klasse in jedem gegebenen Augenblick entscheidet jedoch das Problem dieser Methoden in keiner Weise.

Als der Rat entstand, bildeten sich in der Partei seinetwegen zwei Standpunkte, die einander formal widersprachen. Der eine forderte, dass der Rat das Parteiprogramm anerkennen oder sich auflösen müsse; der andere beharrte darauf, dass die Partei der „Intelligenz“ dem Rat als der originären Vertretung der Arbeiterklasse das Feld räume (ich fasse hier beide Standpunkte in ihren extremsten Ausdruck). Die Realität folgte keinem dieser beiden Rezepte. Der Rat blieb parteilos, aber die Partei wurde im Rahmen seiner Existenz zu der selbständigen Kraft, der die Führung zufiel.

Der Rat wurde zerstört, und zusammen mit ihm die offenen demokratischen Parteiorganisationen. Die Partei selbst überstand jedoch diese Zerschlagung, sie fiel auf ihren alten Rahmen zurück – und fand sich unter ihrer Klassenfahne wieder, mit all ihren starken und schwachen Seiten, also auch mit ihren erbitterten Fraktionskonflikten. Auf einem Arbeiterkongress müsste sich die Partei in Gestalt ihrer beiden Fraktionen als einmütige Gruppe präsentieren, die ein und dieselben Entschlüsse im Rahmen des Parteiprogramms und der Parteiresolutionen realisiert. Der Versuch, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Minderheit und Mehrheit auf den Arbeiterkongress zu tragen, wäre frevelhaft. Die Autorität der Partei würde außerordentlich geschwächt, und der Kongress selbst wäre durch ihre Demoralisierung paralysiert. Bevor die Partei auf einem Arbeiterkongress auftritt, muss sie zu einer für beide Teile verbindlichen Übereinkunft gelangen. Wie kompromisslerisch die Taktik der Partei auf dem Kongress infolge einer solchen Übereinkunft auch sein mag, sie wird unvergleichlich mehr und bessere Früchte tragen als ein durch innere Zwistigkeiten hervorgerufener Kampf zweier Fraktionen um den Einfluss auf den Kongress. Man kann die Idee des Arbeiterkongresses nicht deutlicher kompromittieren als durch den Versuch, ihn zum Projekt nur einer Fraktion zu machen. Und mir scheint, dass sich, vielleicht unabhängig vom guten Willen der Organisatoren, die Angelegenheit genau in dieser Richtung entwickelt. Ich bin mir darüber klar, dass die Organisatoren des Kongresses auf diese meine Befürchtung in der folgenden Weise antworten könnten: Wir organisieren den Arbeiterkongress als Arbeiterkongress deshalb, weil er im politischen Interesse der Arbeiterklasse notwendig ist; hier ist kein Platz für irgendwelche fraktionellen Überlegungen. Jeder, der die Bedeutung dieses Kongresses erkennt, wird ein ersehnter Mitarbeiter für uns sein. Findet sich in der Partei nicht das Verantwortungsbewusstsein, im Namen dieser großen Sache alles fraktionelle Gezänk beiseite zu werfen – was dann? Dann bleibt tatsächlich nur noch übrig, sich mit dem Rücken zur Partei zu wenden. Die historischen Interessen der Arbeiterklasse stehen höher als die bedingten Interessen unserer Parteiorganisation.

Diese Antwort, so überzeugend sie klingt, ist rein formal. Vor allem deshalb, weil es nicht so einfach ist, sich mit dem Rücken zur Partei zu wenden. Wenn Sie, P. B., persönlich zu der Folgerung gelangt sind, dass es notwendig sei, aus dem alten Gebäude herauszugehen und ein anderes Fundament an einem neuen Platz zu errichten (und ich kann das bei Ihnen nicht für möglich halten, weil eine solche Folgerung Ihren allgemeinen Vorstellungen über Wege und Methoden der Parteientwicklung scharf widerspräche – Vorstellungen, denen wir alle sehr verpflichtet sind), wenn Sie also zu einer solchen Folgerung gelangt wären, so brächte die Logik des Fraktionskampfes es zweifelsohne mit sich, dass die halbe Partei Ihre Konsequenz, sich mit dem Rücken zur Partei zu wenden, übernehmen würde. Die Losung, die von Ihnen gegen das Fraktionsgezänk aufgestellt worden wäre, würde sich unzweifelhaft selbst in eine fraktionelle Losung verwandeln. Sich mit dem Rücken zur Partei zu wenden, würde dann tatsächlich bedeuten, sich mit dem Rücken zu den Bolschewiki zu wenden; der Appell an die Arbeiterklasse würde ganz einfach zur Propagierung der Parteispaltung. Mit einer solchen Losung auf den Arbeiterkongress gehen hieße, mit der – wenn auch noch unbewussten – Absicht zu gehen, ihn zu spalten. Und als Ergebnis einer neuen Spaltung würde sich zeigen, dass keine einzige Fraktion das Proletariat erobern könnte, dass bei beiden Zehntausende organisierter Arbeiter stünden, dass beide auf der gleichen Stelle treten würden, dass es der Umfang der Meinungsverschiedenheiten nicht zulassen würde, einander ungeachtet aller diesbezüglichen Absichten den Rücken zuzuwenden. Ist es wirklich so schwer, dieses unvermeidliche Ergebnis vorauszusehen? Was also tun?

Unbedingt muss der Arbeiterkongress aus einem Fraktionsvorhaben in ein Parteiunternehmen verwandelt werden. Es muss eine spezielle Parteikommission aus Vertretern beider Fraktionen zur Vorbereitung des Kongresses gebildet werden. Zugleich muss die Vorbereitung für einen Parteikongress durchgeführt werden, der dem Arbeiterkongress vorauszugehen hat. Dieser Parteikongress muss eine allgemeinverbindliche Taktik für den Arbeiterkongress ausarbeiten. Alle Mitglieder der Partei bildeten im Bestand des Arbeiterkongresses die sozialdemokratische Fraktion, die bei allen grundlegenden Fragen einmütig auftritt.

Das sind technische Maßnahmen, die natürlich so oder so verändert werden können, deren Ziel jedoch – den Arbeiterkongress wirklich zu einer Angelegenheit der Partei zu machen – unverändert bleiben muss. Dazu kommt vor allem noch, dass anlässlich dieses Kongresses der Ton der Agitation selbst geändert werden muss. Je mehr wir ihn der Partei als Appelationsinstanz gegenüberstellen, desto weniger wird er sich in der Lage zeigen, diese Rolle zu erfüllen. Je weniger wir uns ganz offen mit der Organisierung einer innerparteilichen Revolution beschäftigen, desto leichter und schmerzloser wird sie sich vollziehen. Im feindlichen Feuer gibt man sich nicht mit einer risikoreichen Reorganisation der Armee ab. Man kann nicht das Pferd wechseln, sagt eine amerikanische Redensart, während man einen reißenden Fluß überquert.

Lieber P. B.! Obgleich sich die ganze Partei wenigstens formal in zwei Fraktionen aufsplittert, trete ich persönlich keiner von ihnen bei, ich war, bin und bleibe ein unverbesserlicher Optimist und Parteipatriot. Ich habe großes Vertrauen in die objektive Logik der revolutionären Entwicklung – wenn sich ihr die beiden Hälften der Partei nur nicht mit ihrer subjektiv-fraktionellen Logik in den Weg stellen. Ich fürchte die Spaltung im gegenwärtigen Augenblick weit mehr als Opportunismus oder Formalrevolutionismus. „Sich mit dem Rücken zur Partei wenden“ – diese Losung erscheint mir bei weitem schädlicher als Dutzende „jakobinischer“ oder „opportunistischer“ Phrasen. Einheit der Partei auf der Grundlage der faktisch gewachsenen Einheit des Klassenkampfes – Einheit um jeden Preis! „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass als Antwort auf den Appell irgendeiner Gruppe von Experimentatoren, sich mit dem Rücken zur Partei zu wenden, die gewaltige Mehrheit ihrer Mitglieder aus beiden Fraktionen sich fest zusammenschließen wird um eine Fahne mit der Inschrift: Hoch lebe die Partei!

Und ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Hand unseres Lehrers P. B. Axelrod als erste dieser Fahne entgegenstrecken wird.

12. September 1906

Ihr Ihnen sehr ergebener N. Trotzki./p>

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Anmerkung

1. In der Vorlage steht „Opportunismus“. Die Herausgeber vermuten, dass das ein Druckfehler war.


Zuletzt aktualiziert am 4. Dezember 2024