August Thalheimer

 

1923: Eine verpaßte Revolution?

 

Vorwort

Im Jahre 1923 waren die Verhältnisse vollkommen reif für den Sieg der proletarischen Revolution, aber die damalige Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands, mit Brandler an der Spitze, hat den Sieg der Revolution verhindert. Diese Ansicht erscheint auf den ersten Blick so phantastisch und belanglos, daß es sonderbar erscheinen könnte, wie man sich noch heute damit beschäftigt. Aber diese Ansicht, die sich mit dem Namen „Oktoberlegende“ bezeichnet, ist heute noch offizielle Ansicht in der Kommunistischen Partei Deutschlands. Sie wird als Dogma den jungen Parteimitgliedern eingehämmert, die sie auf Treu und Glauben hinnehmen, ohne eine Ahnung zu haben, daß es eine Geschichtslegende ist, zu dem Zweck erfunden, um eine falsche Taktik der Kommunistischen Partei zu begründen und zu stützen, eine Geschichtslegende, die der Partei und damit der deutschen Arbeiterklasse den Ausweg aus einer verhängnisvollen Bahn versperrt und die verhindert, daß die Kritik, die die Kommunistische Opposition an diesem falschen Kurs übt, in dem Ausmaß und Tempo wirksam Wird, wie es sonst der Fall sein müßte.

Deshalb sind die Fragen der Taktik und Strategie der Kommunistischen Partei Deutschlands im Jahre 1923 leider noch heute höchst aktuell. Ja, sie sind gerade heute aktueller denn je, wo die Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands in verschärfter Form die Fehler macht, deren ideologische Grundlage die Oktoberlegende von 1923 ist.

Die offizielle Oktoberlegende ist nunmehr 8 Jahre alt. Sie ist inzwischen beinahe kanonisch geworden. Denn sie ist eine der wichtigsten Stützen des ultralinken Kurses. Die ultralinke Legende verhalf dem ultralinken Kurs in die Welt. Und nun erhalten sich beide wechselseitig durcheinander und aneinander. Wer daher die Oktoberlegende trifft, trifft auch den ultralinken Kurs, und wer den ultralinken Kurs schlägt, schlägt die Legende. Wie beide aneinander und miteinander entstanden sind und sich erhalten haben, so werden sie auch miteinander zusammenbrechen. Je länger sich aber die Legende und die darauf gestützte ultralinke Politik erhält, um so größer wird die Gefahr, daß der Zusammenbruch der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland, der 1923 nur Legende war, bittere Wirklichkeit wird.

Die Prawda schrieb nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, niemals sei die Kommunistische Partei Deutschland so nahe an der Macht gewesen wie jetzt. Eine gröbere Selbsttäuschung fit nicht denkbar. Objektiv sind die Verhältnisse für den Sieg des Kommunismus in Deutschland in den letzten zwei Jahren von seltener Gunst gewesen. Subjektiv aber war die Kommunistische Partei noch niemals so weit entfernt von der Möglichkeit du Sieges. Denn noch nie hat sie sich so weit und so lange von wirklicher kommunistischer Politik entfernt und noch nie hat sie eine so völlig und in jeder Beziehung nichtige Führung besessen.

Im Jahre 1923 wurde der Sieg des Kommunismus in erster Linie verhindert durch rechtzeitig gemachte Zugeständnisse der Bourgeoisie und erst in zweiter Linie durch Fehler der Partei und ihrer Führung. Aber die Kommunistische Partei, wenn sie auch nicht imstande war, selbst zu Siegen, so war sie doch imstande, den Sieg des Faschismus zu verhindern. Sie vermochte dies kraft der im ganzen richtigen Politik, die sie bis in. den August 1923 betrieben, und der rechtzeitigen und entschlossenen Korrektur der eigenen Fehler, die sie mit dem Rückzug im Oktober vornahm.

Wird jetzt der ultralinke Kurs der Partei weiter fortgesetzt – und die Aussicht ist äußerst gering, daß das nicht geschieht, wo die Partei und auch die. Exekutive der Kommunistischen Internationale in dem Wahlerfolg vom 14. September eine Bestätigung dieses Kurses erblickt – so ist der Weg frei für den Sieg des Faschismus. Und das heißt für die wirkliche, schwere und langanhaltende Niederlage der Arbeiterbewegung und der Partei. Dann wird man wohl eine neue Legende erfinden müssen, die beweist, daß die Exekutive immer recht gehabt hat, und man wird neue „Schuldige“ finden müssen.

Wir aber meinen, daß dir erste Voraussetzung für eine kommunistische Partei und Führung, die zu siegen versteht, die ist, daß sie allen Legendenwust. forträumt und wirklich zu lernen beginnt. Solange dieses wirkliche Lernen aus der eigenen wirklichen Geschichte nicht begonnen hat, wird die Partei und mit ihr die Arbeiterklasse sich immer nur im Kreise drehen, statt fortzuschreiten, und immer neue und immer schwerere Niederlagen werden die Folge sein. Die Arbeiterklasse verzieh der Partei die Kinderkrankheiten ihrer Anfänge. Sie verzeiht ihr nicht, wenn sie in der Kindheit und ihren Krankheiten steckenbleibt. Und mag die Partei nicht lernen; so lernt dafür der Klassengegner.

Die Führung der KPD beruft sich heute zur Bekräftigung ihrer groben und gefährlichen Entgleisungen in der nationalen Frage auf das. Jahr 1923. Zu Unrecht Die Partei hat 1923 trotz einzelner Fehler und Übertreibungen in dieser Frage im ganzen sehr wohl verstanden, die nationalistische Ideologie zurückzuschlagen und zu zersetzen. Heute sehen wir das umgekehrte Schauspiel, die Verbiegung und Zersetzung der kommunistischen Ideologie durch die nationalistische. Wir sehen schließlich, wie nach 10 Jahren die Kinderkrankheiten in der Gewerkschaftsfrage, die vor 10 Jahren erklärlich waren und überwunden wurden, zur offiziellen Lehre der Partei, der Kommunistischen Internationale und der Roten Gewerkschaftsinternationale erhoben werden.

In einem Aufsatz über Jena führt Mehring das Wort von Engels an: „Eine große Armee, wie jede andere große gesellschaftliche Organisation ist nie besser, als wenn sie nach einer großen Niederlage in sich geht und Buße tut für ihre vergangenen Sünden“ (Franz Mehring, Ges. Schriften: Zur preußischen Geschichte. Vom Mittelalter bis Jena, S.373); Das Gegenteil davon aber, die beharrliche Wiederholung und Lobpreisung begangener Sünden trotz zunehmender Teil-Mißerfolge und Teilniederlagen, die Verblendung, die sich gerade auf das versteift, was das Verkehrte ist, des führt eben zu – Jena.

Wer die Verfassung der Partei heute unbefangen ansieht, die die Aufgabe hätte, die Arbeiterklasse zur proletarischen Revolution zu führen, wird nicht darüber im Zweifel sein, daß sie nicht das Bild der preußischen Armee nach Jena aufweist.

Die nachstehenden Ausführungen sind die Niederschrift eines der Vorträge, die ich wiederholt in den letzten zwei Jahren über den Oktober 1923 gehalten habe.

Im Rahmen eines Vortrages konnte natürlich nur eine Skizze geboten werden. Ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, eine ausführliche Darstellung vorzulegen.

Berlin, den 15. Februar 1931

A. Thalheimer

 


Zuletzt aktualisiert am 5.9.2003