August Thalheimer

 

1923: Eine verpaßte Revolution?

 

II. Die Klassenkräfte 1917 in Rußland verglichen mit 1923 in Deutschland

Prüfen wir zuerst in großen Linien die Frage: Kann man die objektive Lage im Jahre 1923 in Deutschland gleichsetzen der objektiven Lage im Jahre 1917 in Rußland, in dem Sinne, daß objektiv die Situation für die Revolution gleich vorbereitet war? Wenn man den Hauptfaktoren, den Triebkräften der Oktoberrevolution von 1917 in Rußland die Tatsachen gegenübersteht, wie sie 1923 in Deutschland bestanden, so ergeben sich grundlegende Unterschiede. Welches waren die Hauptfaktoren, die 1917 in Rußland die Oktoberrevolution begünstigten?

Zuerst die Kriegsfrage: Die große Masse der Arbeiter und Bauern wollte den Frieden, den Abschluß des imperialistischen Krieges. Es gab in Rußland keine Partei, die bereit War, den Frieden zu erzwingen, den imperialistischen Krieg abzubrechen, das Bündnis mit der Entente aufzugeben, als die bolschewistische Partei. Es war bald klar, daß die Bolschewiki die einzigen waren, die für den Frieden waren. Dies war für sie ein gewaltiger Auftrieb. Die Millionenmasse der Arbeiter und Bauern stellte sich hinter die Forderung des Friedens, und sie mußte sich hinter die Bolschewiki stellen, als sich herausstellte, daß außer ihnen keine einzige politische Kraft da war, die diese Forderung durchfechten wollte.

Zweitens: die Landfrage. Die Bauern wollten das Land der Grundbesitzer. Da waren die Sozialrevolutionäre, die jahrelang vorher den Bauern das Land versprochen hatten.. Aber als die Bauern nicht auf die Konstituante warteten und damit anfingen, die Grundbesitzer zu verjagen, ihr Land in Besitz nahmen, ihr Land pflügten, da wandte. sich alles gegen die Bauern. Kerenski schickte militärische Hilfsexpeditionen aus, die das Land wieder besetzen sollten. Allein die Bolschewiki waren es, die den Standpunkt der Bauern vertraten, die sagten, daß es richtig sei, sofort das Land zu besetzen und die Bauern darin zu unterstützen. Die Bauern, das ist aber die ungeheure Mehrheit des russischen Volkes, die hier ihre Interessen durch die Bolschewiki vertreten sah.

Dann die Arbeiter. Im Jahre 1917 war in Rußland der Zustand eingetreten, daß die Lebensmittelversorgung der Städte versagte. Betriebe wurden stillgelegt, um die Macht der Arbeiterräte zu brechen. Aus dieser Lage heraus, nicht aus theoretischen Erwägungen, sondern aus dieser Notlage,. erwuchs in der russischen Arbeiterschaft der Gedanke: Wir selber wollen die Betriebe weiterführen, sie mit Rohstoffen versorgen. Es entwickelte sich der Gedanke der „Arbeiterkontrolle der Produktion“. Der Kampf darum entwickelte sich logisch weiter zu der Forderung, daß man den Unternehmern die Betriebe wegnehmen müsse. Aber auch dieser Gedanke der Enteignung der kapitalistischen Unternehmer wurde allein vertreten von den Bolschewiki.

Eine weitere Triebkraft der Oktoberrevolution war die nationale Frage. Auch hier waren es allein die Bolschewiki, die den Gedanken d r völligen nationalen. Selbstbestimmung vertraten bis zur Loslösung von den Großrusssen. Alle. anderen Parteien, die vorher den Gedanken da nationalen Befreiung vertreten hatten, wandten sich dagegen, als er durchgeführt werden sollte, als z.B. die Finnen sich loslösen wollten. Nur die Bolschewiki waren darin konsequent. Ein nicht nebensächlicher Umstand ist auch die Tatsache, daß in Rußland im Jahre 1917 die Armee der allgemeinen Wehrpflicht bestand, eine Armee, deren ungeheure Mehrheit Bauern und Arbeiter waren, eine Armee, die das Land wollte, das Land der Großgrundbesitzer, die den Frieden wollte, die sich in ihren entscheidenden, ausschlaggebenden Teilen zu den Bolschewiki schlug. So war die Frage der Macht, die Frage der proletarischen Revolution in Rußland leicht zu lösen dadurch, daß die entscheidenden militärischen Kräfte in Petersburg, Moskau und anderen Zentren sich auf die Seite der Bolschewiki stellten. – Das Problem des Jahres 1923, wie es damals vor uns stand, und wie es heute wieder vor uns steht, das Problem der Bewaffnung der Arbeiter, bestand 1917 in dieser Weise in Rußland überhaupt nicht. Die entscheidenden Regimenter in Petersburg gingen über zu den Bolschewiki. Der bewaffnete Kampf in Leningrad 1917 war sehr leicht. In Moskau war er schwerer. Letzten Endes bewirkte die Tatsache, daß die entscheidenden militärischen Kräfte, die große Mehrheit der Bewaffneten hinter den Bolschewiki standen, daß die Oktoberrevolution 1917 in Rußland sehr leicht gesiegt hat. Lenin ist nicht müde geworden, zu betonen, wie leicht der Oktobersieg in Rußland war Wiederholt betonte er, wie die Revolution im Triumph über das Land zog, wie sie in wenigen Wochen und Monaten alles hinwegfegte, weil die große Mehrheit des Volkes dahinterstand. Das zeigte sich besonders, als die fremden Mächte auftraten und die konterrevolutionären Kräfte in Rußland stützten und organisierten.

Das Bild der Triebkräfte der Revolution in Deutschland im Jahre 1923, wenn man es im einzelnen durchsieht, ist ein ganz anderes. Die erste Frage, die Kriegsfrage: 1917 konnten die Bolschewiki in Rußland auftreten als die Friedenspartei, als die Partei, die den Massen den Frieden bringen wollte. Aber wie war es 1923? Zwar hatte man keinen wirklichen blutigen Krieg wie 1917. Der Ruhrkrieg war nur in Worten ein Krieg. England und Frankreich waren bewaffnet, aber Deutschland beschränkte sich auf den passiven Widerstand. Aber dieser Ruhrkrieg drückte auf die Bevölkerung, sie wurde ihn müde, und es spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Kräfte, wer den Abbruch dieses Kampfes herbeiführte. Nicht wir, sondern die Bourgeoisie, die die weitere Gefahr des Ruhrkampfes voraussah, brach ihn ab und erzielte eine Verständigung mit den französischen Kapitalisten. Weiter die Frage der internationalen Situation 1923 und 1917. 1917 in Rußland war die Lage die, daß die Kräfte der Revolution sich ungehemmt von irgendwelchen äußeren Kräften entwickeln konnten. Der deutsche Imperialismus? Die Mittelmächte erblickten in der bolschewistischen Revolution eine Hilfe für ihre Zwecke. Die Entente hatte keine Möglichkeit, einzugreifen. In Deutschland 1923 war die internationale Situation ganz anders. Damals waren es vor allen Dingen England und Amerika, die ein direktes und indirektes Interesse daran hatten, die deutsche Bourgeoisie gegen eine herannahende Revolution zu stützen. England hatte das Interesse düan, Frankreich ein starkes bürgerliches Deutschland entgegenzustellen. Amerika hatte das Interesse, die Gelder, die es bereits in Deutschland angelegt hafte, zu stützen und nicht verlorengehen zu lassen. Amerika mußte vor allen Dingen. befürchten, daß eine siegreiche proletarische Revolution in Deutschland im Herbst 1923 eine ernsthafte Gefahr für die ganze bürgerliche Gesellschaft Europas bedeutete. So griffen England und Amerika zugunsten der Bourgeoisie in Deutschland und gegen die proletarische Revolution ein. Die Tatsachen, die hier in Betracht kommen, werde ich nachher ergänzend aufzählen. Die wichtigste wirtschaftliche Triebkraft der Revolution, der Hauptkrisenfaktor im Jahre 1923, war die Inflation, die Geldentwertung. Diese hatte Zustände herbeigeführt, die eine wachsende Erregung in der Bevölkerung hervorgebracht hatten. Dieser wirtschaftliche Krisenfaktor wurde aber in Deutschland von der Bourgeoisie selbst liquidiert. Sie führte die Stabilisierung der Valuta durch. Sie machte in diesem Punkte solche Zugeständnisse, daß sie dadurch die Kräfte der Revolution schwächte, indem sie innerhalb der Arbeiterklasse eine Spaltung hervorrief zwischen den Kräften, die bereit waren, den Kampf um die Macht aufzunehmen, und den Kräften, die um bestimmter kleiner Zugeständnisse willen, um der Erleichterung der augenblicklichen Situation willen geneigt waren, auf den Kampf um die Macht zu verzichten. Durch diese Zugeständnisse in der Frage der Inflation und in der Frage des Ruhrkampfes wurde die Arbeiterklasse in Deutschland gespalten, und gelang es der Kommunistischen Partei nicht, die Mehrheit so hinter sich zu bringen, Wie es den Bolschewiki 1917 in Rußland gelungen ist. Dann die Frage der bewaffneten Kräfte. Auch damit stand es 1923 ganz anders als 1917 in Rußland. Wir hatten keine allgemeine Wehrpflicht in Deutschland, sondern die Reichswehr, die nicht nur ihrer Größe, sondern vor allen Dingen ihrer Klassenzusammensetzung nach ganz anders beschaffen war. 1917 in Rußland wurde die Hauptmasse der Armee gestellt von Bauernsöhnen. Die Reichswehr aber war gebildet von sozial rückständigen Elementen in der Mannschaft und von zuverlässigen Reaktionären und Konterrevolutionären in der Führung. Es kann keine Rede davon sein, daß die Zusammensetzung der Reichswehr die wirkliche Zusammensetzung der Klassen im ganzen Lande widerspiegelt. Die Reichswehr ist eine im reaktionären Sinne auserlesene Klassenarmee. Wie war die Reichswehr 1923? Sie stand fest und sie blieb fest in der Hand ihrer Führung. Zwar hatten wir eine Reihe von Nachrichten erhalten, daß es zahlreiche Zersetzungserscheinungen in der Reichswehr gebe, und darum stützen sich noch heute die Erwartungen mancher Genossen auf die Reichswehr. Später haben wir aber erfahren, daß diese Nachrichten uns planmäßig von der Reichswehrleitung in die Hände gespielt wurden, um falsche Vorstellungen bei uns zu erwecken. Die bäuerlichen Massen spielten 1923 zahlenmäßig natürlich nicht die Rolle, die sie in Rußland gespielt hatten und heute noch spielen. Und zwar hängt das sehr eng zusammen mit der Inflation und ihren Wirkungen auf die Bauernschaft oder auf größere Teile der Bauernschaft. Die Inflation hatte auf die Bauernschaft so gewirkt, daß sie sich in ihrer Mehrzahl besser stand als vorher. Sie hatte zumeist die Inflation dazu benutzt, um die Hypothekenschulden loszuwerden, die ja durch die Inflation zu lächerlich geringen Summen wurden. Ein zweiter Faktor, der die Bauern während der Inflation förderte, war, daß die Industriepreise in einem viel größeren Maßstab gesunken waren als die der landwirtschaftlichen Produkte. Das war die Preisschere zugunsten der Bauern; Es kann keine Rede davon sein, daß die Masse der Bauernschaft in Deutschland etwa im Gefolge der Inflation im Jahre 1923 revolutionär eingestellt gewesen sei. Sie kam in Erregung Im Juli und August, als die Inflation solche Ausmaße annahm, daß die Lebensmittelzufuhr nach den Städten stockte, war aber wieder befriedigt, als die Stabilisierung eingeführt wurde.

Wenn man also Punkt für Punkt die entscheidenden Momente heraushebt, die 1917 in Rußland und 1923 in Deutschland zur Revolution trieben, so sieht man, daß im wesentlichen die Verhältnisse in den beiden Jahren grundverschieden waren, daß alle die entscheidenden Faktoren, die 1917 in Rußland zur Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung führten, in Deutschland nicht vorhanden waren.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008