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Wie Stalin unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse des Jahres 1923 die Lage beurteilte, geht hervor aus einem Brief, den er an Sinowjew und Bucharin Anfang August 1923 schrieb. Dieser Brief wurde von Sinowjew auf dem Plenum des Z.K. der russischen Partei Ende 1927 zitiert und hat folgenden Wortlaut:
Sollen die Kommunisten im gegenwärtigen Stadium danach streben, die Macht ohne die Sozialdemokraten zu erobern. Sind sie bereits reif dazu? Das ist meines Erachtens die Frage. Als wir die Macht nahmen, hatten wir in Rußland solche Reserven wie a) Frieden, b) Land den Bauern, c) Unterstützung der ungeheuren Mehrheit der Arbeiterklasse, d) Sympathie der Bauern.
Die deutschen Kommunisten haben jetzt nichts dergleichen. Gewiß, sie haben die Sowjetunion in der Nachbarschaft, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen augenblicklich geben? Wenn in Deutschland jetzt sozusagen die Macht auf die Straße fiel und die Kommunisten sie auffangen würden, würden sie krachend scheitern. Das ist „bestenfalls“; und „schlimmstenfalls“ würde man sie kurz und klein schlagen und sie zurückwerfen.
Nicht, darum handelt es sich, daß Brandler "die Massen schulen" will, es handelt sich darum, daß die Bourgeoisie plus rechte Sozialdemokraten bestimmt diese Demonstration zur Schulung in eine Generalschlacht verwandeln werden (sie haben einstweilen alle Chancen dafür) und die Kommunisten zertrümmern werden. Freilich, die Faschisten schlafen nicht. Aber für uns ist es vorteilhafter, daß die Faschisten zuerst angreifen, daß wir die ganze Arbeiterklasse um die Kommunisten zusammenschweißen. (Deutschland ist nicht Bulgarien.) Überall sind die Faschisten nach allen Berichten in Deutschland schwach. Meiner Ansicht nach muß man die Deutschen zurückhalten und nicht antreiben.
Nach einem Bericht der Leningrader Prawda, abgedruckt am Sonntag, dem 11. Mai 1924, Nr.106.
Es ist kein Geheimnis, daß die Opposition auch die Leitung der Komintern für falsch hielt. In Deutschland ging es im Oktober schlecht: Jetzt wird nun eine neue Theorie gebaut daß wir in Italien die Revolution sabotieren ließen und in Deutschland die Revolution verschlafen haben. So versuchen sie zu sprechen. Natürlich, die Revolution sei deshalb mißlungen, weil irgend jemand gegähnt hat. Eine wunderbar tiefe marxistische Auffassung der Revolution! Und wir Armen, die bei Marx und Lenin gelernt haben, wir glaubten immer, daß bei der Entstehung einer Revolution wichtigere Faktoren eine Rolle spielen als das Gähnen des einen oder des anderen.
Was Deutschland anbelangt, so ist jetzt vollkommen klar, daß es sich nicht darum handelt, daß wir die Revolution verschlafen hätten, sondern umgekehrt, wir zu früh etwas für reif gehalten haben, was noch nicht reif war> wie Plechanow sagte - wir nahmen die Schwangerschaft des 2. Monats für die Schwangerschaft des 9. Monats. Dieser Irrtum ist keine Schande, so was kam mitunter auch bei Marx und Engels vor: Ein solcher Irrtum ist ganz begreiflich, denn Revolutionäre haben den Wunsch, ihre revolutionäre Stimmung möglichst rasch hervorzukehren. Wenn man alles das, was sich in Deutschland abgespielt hat, erwägt, so muß man uns den entgegengesetzten Vorwurf machen, den Vorwurf, daß wir die Ereignisse zu sehr überschätzt haben, zu sehr darauf brannten, in den Kampf zu. stürzen, zu sehr die Reife dessen, was dort war, überschätzten, aber keineswegs den Vorwurf, daß wir die Revolution verschlafen haben, wie das einige tiefsinnige Strategen sagen, indem sie Märchen von einer Krise in der Komintern und in der KPD erzählen.
Eine grobe Fälschung der wirklichen Politik der „Brandler-Zentrale“ 1923 besteht darin, daß behauptet wird, die „Brandler-Zentrale“ habe die Rolle der SPD opportunistisch verkannt und die leninistische Staatstheorie aufgegeben. Dazu ist zu sagen, daß der Eintritt in die sächsische und thüringische Regierung gegen den Willen von Brandler mit den Stimmen von Thälmann und Ruth Fischer in der Exekutive beschlossen wurde.
Über die Stellung Brandlers zur Sozialdemokratie geben wir den von ihm verfaßten Aufruf zum Antifaschistentag im Auszug, der die unkorrigierte politische Linie des deutschen Zentralkomitees enthält.
Parteigenossen und Parteigenossinnen!
Wir gehen schweren Kämpfen entgegen! Wir müssen die höchste Aktionsbereitschaft entfalten. Auf die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie ist kein Verlaß. Wie in allen bisherigen Abwehrkämpfen des revolutionären Proletariats gegen die Konterrevolution wird die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter auch jetzt im Stich lassen und verraten ...
Wir Kommunisten können in dem Kampfe gegen die Konterrevolution nur siegen, wenn es uns gelingt, ohne und gegen die verräterische sozialdemokratische Partei- und . Gewerkschaftsbürokratie, die sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitermassen mit uns gemeinsam in den Kampf zu führen.
Zu diesem Zwecke müssen sofort alle Vorbereitungen für eine kampffähige Abwehraktion getroffen werden ...
Die gemeinsamen proletarischen Abwehrorganisationen müssen allen Widerständen zum Trotz unverzüglich aus den Betrieben heraus organisiert werden.
Die Parteibezirke, die mit der Betriebszellenarbeit noch nicht fertig sind, müssen, in den nächsten Tagen, innerhalb kürzester Frist, arbeitsfähige Betriebszellen ins Leben rufen.
Die Verbindung der Bezirksleitungen und den Ortsgruppen der Bezirke untereinander und mit der Reichszentrale sowie der Kurierdienst müssen sofort aufs sorgfältigste organisert werden.
Die Partei muß ihre Organisation so schlagkräftig machen, daß sie auch im offenen Bürgerkrieg in keinem Bezirk versagt.
Im Falle der Lahmlegung der legalen Verkehrsmittel, der Eisenbahn und Post bei einem Generalstreik oder bei militärischen Kämpfen, muß die Verbindung zwischen den Organisationen, der Druck und die Verbreitung von Propagandamaterial usw. unbedingt sichergestellt sein ...
Der Faschistenaufstand kann mir niedergeworfen werden, wenn dem Weißen Terror der Rote Terror entgegengestellt wird. Erschlagen die Faschisten, die bis auf die Zähne bewaffnet sind, die proletarischen Kämpfer, so müssen diese erbarmungslos alle Faschisten vernichten. Stellen die Faschisten jeden zehnten Streikenden an die Wand, so müssen die revolutionären Arbeiter jeden fünften Angehörigen der Faschistenorganisationen an die Wand stellen.
Zuletzt aktualisiert am 5.9.2003