Josef Strasser

Das Ende des Austromarxismus

(Juni 1933)


Das Ende des Austromarxismus; Unser Wort (Prag), Anfang Juni 1933 (gezeichnet Austriacus).
Abgedruckt in Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation, Wien, Junius Verlag, 1982, S. 94ff.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Die österreichische Sozialdemokratie war ob ihres staatsmännischen Geistes schon vor dem Krieg bei ihren Bruderparteien hoch angesehen. „Unser Bebel“, sagte einmal ein Mitglied des deutschen Parteivorstandes zu österreichischen Freunden, „unser Bebel ist nur ein Reiteroberst, euer Adler aber ein Feldherr“. Nach dem Kriege wurde das sozialistische Österreich noch berühmter. Wie denn auch nicht? Unternahm Stalin den Aufbau des Sozialismus in einem Lande, so machten sich die österreichischen Sozialdemokraten an eine noch verzwicktere Aufgabe, an den Aufbau des Sozialismus in einem Ländchen, ja in einer Stadt. Sie gaben dem neuen Österreich „die demokratischste Verfassung der Welt“ und schufen so die Voraussetzungen einer ebenso unaufhaltsamen wie friedlichen Sozialisierung. Und diese Leistung vollbrachten sie – höchster Triumph sozialistischer Staatskunst! – im Verein mit den Christlichsozialen. Das Rote Wien aber baute Gemeindehäuser und Kinderbäder, wälzte das Schulwesen um, daß den „Schwarzen“ die Haare zu Berge stiegen, und führte noch andere kühne Neuerungen durch: die dazu erforderlichen Mittel wurden durch die dem Geldsack so verhaßten Breitnersteuern aufgebracht. Kurz, die österreichische Sozialdemokratie steigerte sich in ihren Taten zur „Musterpartei der Zweiten Internationale“, sie wurde in der sozialistischen Welt angestaunt wie ein Wunder, ihre Prominenten führten, nachdem sie auch noch die Erneuerung der Zweiten Internationale, den Block von Friedrich Adler bis Noske, zustande gebracht hatten, auf den internationalen Kongressen das große Wort, und die Lehre, die ihre Denker ausgedacht hatten, der Austromarxismus, überschritt siegreich die engen Grenzen der Heimat. Unter solchen Umständen ist es selbstverständlich, daß heute, nachdem die deutsche Sozialdemokratie im „Kampf gegen das Hakenkreuz einen in der Geschichte der Arbeiterbewegung einzig dastehenden Zusammenbruch erlitten hat, alle Sozialisten ihre Augen auf Österreich richten, das Musterländle des Sozialismus, wo eben der Faschismus, ermutigt durch den Sieg Hitlers, den Kampf um die Macht aufgenommen hat. Alle sozialistischen Herzen und Hirne bewegt die Frage: Wie wird die österreichische Sozialdemokratie diesen Kampf bestehen? Muß sie sich nicht viel, viel besser bewähren als die deutsche Partei? Kommen ihr, abgesehen von ihren blendenden Vorzügen, nicht auch die äußeren Umstände zu statten? Die deutsche Arbeiterklasse ist unterlegen, weil sie gespalten war, die Einheit der österreichischen Arbeiterklasse aber ist durch die Dritte Internationale nie bedroht gewesen. Die Kommunistische Partei Österreichs war immer eine belanglose Größe, klein, schwach, unernst. Die österreichische Sozialdemokratie ist verhältnismäßig größer als jede andere sozialdemokratische Partei. Dazu kommt, daß der österreichische Faschismus in zwei Fraktionen zerfällt. Der Heimwehrfaschismus, mit dessen Hilfe Dollfuß der Demokratie den Garaus machen und die Arbeiter niederwerfen will, wird von den Nationalsozialisten nicht unterstützt, sondern hart bedrängt. Muß sich in dieser Lage die österreichische Sozialdemokratie nicht glänzend behaupten?

Die Frage ist schon beantwortet. Es kann nicht bezweifelt werden, daß der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie nicht lange einzig dastehen wird. Die österreichische Sozialdemokratie wird bald ebenbürtig an ihrer Seite stehen. Sie wird den Krieg gegen den verhöhnten „kleinen“ Dollfuß verlieren. Sie hat ihn schon verloren. Denn sie hat ihn gar nicht aufgenommen und wird ihn nie, unter gar keinen Umständen, aufnehmen.

Um das zu verstehen, als das allein Mögliche, das Selbstverständliche zu verstehen, muß man wissen, was die vielbewunderte, in allen Tonarten gepriesene österreichische Sozialdemokratie ist, nicht in ihrer Einbildung, nicht in der Vorstellung ihrer Bruderparteien, sondern in Wirklichkeit ist.

Heinrich Unger sagte einmal: Der Liberalismus hat eine große Zukunft hinter sich. Das ist auch vom österreichischen Sozialismus zu sagen. Seine Anfänge waren vielversprechend. Unter der Führung Victor Adlers lieferte die österreichische Arbeiterklasse dem verrotteten Habsburgerstaat Schlachten, die die Bewunderung des alten Engels erregten. Aber schließlich blieb in diesem Kampf doch der österreichische Staat Sieger. Nicht in offener Schlacht: Er zermürbte seinen Gegner allmählich, er verleibte sich die österreichische Sozialdemokratie schön langsam ein. Es entstand der Austromarxismus.

Der Austromarxismus erweist sich, wenn man ihm auf die Fäuste, nicht auf das Maul sieht, als Reformismus. Er ist, wie jeder andere Reformismus, Anpassung der Arbeiterbewegung an den bürgerlichen Staat, Einordnung in den bürgerlichen Staat, Unterwerfung unter den bürgerlichen Staat. Was ihn von anderen Reformismen unterschied, was ihn lange Zeit als etwas wesentlich anderes, etwas ganz eigenartiges erscheinen ließ, war der Umstand, daß er die Arbeiterbewegung einem zugrundegehenden Staat anzupassen hatte. Das machte seine vermeintliche Stärke aus, das gab ihm die Möglichkeit, Erfolge zu erringen, auf die er nach den Machtverhältnissen keinen Anspruch zu haben schien. Dieses Österreich, in dem anscheinend die nationalen Parteien wie wilde Bestien aufeinander losgingen und täglich den Bestand des Staates in Frage stellten, war in Wirklichkeit das klassische Land der behutsamsten Ausgleichsmeierei. Alle diese Hochverräter, die so unversöhnlich taten, waren käuflich, Krämerseelen, Meister des schäbigen Kompromisses. Sie hielten der Regierung die Faust unter die Nase, um ihr dann mit Erfolg die hohle Hand hinhalten zu können. In diesem Staat, der nicht leben und nicht sterben konnte, dessen Dasein ein jämmerliches Fortwursteln war, der keinen Freund hatte, den er nicht bar bezahlte, in dieser verfaulenden Welt wurde der große austromarxistische Gedanke gedacht: Erneuerung und Befestigung des Habsburgerstaates für Zugeständnisse an die Arbeiterklasse. Dieses Programm sah sehr neu, sehr kühn aus. Wie ein schöpferischer Gedanke in einer Welt unfruchtbarer Kleingeisterei. Aber in Wirklichkeit war diese großartige austromarxistische Konzeption nur die Übersetzung des gemeinen reformistischen Programms – Kanonen für Volksrechte – ins österreichische. Der Austromarxismus machte fortan Staatspolitik, nicht mehr Klassenpolitik. Seine Gedanken drehten sich nur noch um das Parlament. Er lernte den bürgerlichen Parteien alle die kleinen Künste des parlamentarischen Kretinismus ab. Die Marxsche Auffassung, daß die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein muß, wurde als altmodisch belächelt. Die austromarxistische Lehre kennt kein handelndes, kein kämpfendes Proletariat. Nach ihr macht der Arbeiter seine Geschichte nicht, er erfährt, er erleidet sie, wobei nach und nach, schier unmerklich, die leidende Arbeiterklasse automatisch, nach den immanenten Gesetzen des Kapitalismus, zur triumphierenden wird, der Kapitalismus sich mehr und mehr mit sozialistischem Inhalt erfüllt. Das war die Geheimlehre des Austromarxismus. Die Öffentlichkeit beschenkte er mit den gelehrtesten und scharfsinnigsten Begründungen seines Denkens und Tuns.

Es kam der Krieg, als seine nächste Folge der Umsturz. Das Habsburgerreich zerfiel, und dem Austromarxismus wurde der Boden, auf dem er stand, unter den Füßen weggezogen. Aber er merkte es nicht. Er glaubte vielmehr, daß nun seine Glanzzeit beginne. Selbstverständlich. Die Herrschaft des Kapitalismus war schwer erschüttert, und das Bürgertum konnte nicht daran denken, sie selbst wieder zu befestigen. Also übertrug es den Wiederaufbau der Wirtschaft – so hieß es statt: Wiederherstellung des alten kapitalistischen Regiments – der Sozialdemokratie. Und die machte sich mit Begeisterung an die Arbeit, denn nach ihrer Meinung war der Wiederaufbau der Wirtschaft Voraussetzung und Anfang der Sozialisierung. War denn nicht die Demokratie erobert? Und war die Demokratie etwas anderes als ein Sozialisierungsautomat? Die Dinge lagen ja ganz einfach: Entwickelt sich der Kapitalismus, so wächst die Arbeiterklasse. Mit der Arbeiterklasse aber wächst die Sozialdemokratie. Sie muß schließlich im Parlament die Mehrheit bekommen, und nun steht der Sozialisierung kein Hindernis mehr im Weg. Die Gesellschaft wächst in den Sozialismus hinein, ohne Revolution, ohne Blutvergießen, ohne Diktatur und Schreckensherrschaft.

Aber eines schönen Tages fiel ein Wermutstropfen in den Becher der Freude. Die Bürgerlichen entdeckten, daß sie es nun auch ohne die Sozialdemokraten richten können, und gaben ihren Koalitionsbrüdern den Abschied. Aber das scheuchte die Sozialdemokratie nicht aus ihrem demokratischen Wahn. Die unfreundliche Haltung der Bürgerlichen bewies ihnen nur die Richtigkeit der Theorie, daß die Sozialdemokratie im Parlament zur Mehrheit werden müsse, um den Sozialismus verwirklichen zu können. Und im sozialdemokratischen Lager hob eine große Rechnerei über die Aussichten der Partei auf die Eroberung des Parlaments an. Während man sich dort an dieser Sozialisierungsmathematik ergötzte, leisteten die bürgerlichen Parteien eine minder romantische, aber ergiebigere Arbeit. Sie räumten mit den von den Sozialdemokraten als unverlierbar gepriesenen Errungenschaften der Revolution auf. Eine nach der anderen fiel, sodaß vor kurzem eine Sozialdemokratin im Nationalrat die Klage erheben konnte: „Von dem Wohlfahrtsstaat, den wir aufbauen wollten, ist nichts übrig geblieben.“ Die Bürgerlichen waren allerdings anderer Meinung. Sie fanden, daß noch sehr viel „revolutionärer Schutt“ wegzuräumen sei und daß diese Arbeit mit demokratischen Mitteln vielleicht überhaupt nicht, jedenfalls aber nicht schnell genug für ihren Geschmack geleistet werden könne. Der Faschismus erhob sein Haupt, und heute ist er daran, seine Herrschaft aufzurichten.

Die ältesten faschistischen Vereinigungen, die Heimwehren, entstanden in Österreich schon in der Umsturzzeit. Sie wollten ursprünglich nur eine Grenzschutzwache sein. Aber die Reaktion erkannte mit ihrem untrüglichen Spürsinn sofort, daß die Selbstorganisationen auch im Kampf gegen den inneren Feind eine Rolle spielen könnten. Die Sozialdemokraten erkannten das natürlich nicht; sie lieferten als gute Patrioten den Heimwehren sogar Waffen. Und als die Kommunisten noch in den Honigmonden der Koalition die Sozialdemokratie auf die „weißgardistische“ Gefahr aufmerksam machten, wurden sie mit dem Spottwort abgefertigt, sie sähen weiße Mäuse. Weißgardisten? So etwas gab es in dem zurückgebliebenen Rußland, aber nicht in einer hochzivilisierten demokratischen Republik; konnte es da umso weniger geben, als der demokratische Flügel der Christlichsozialen, der damals noch stark war, nicht die geringste Lust hatte, sich auf die Abenteuer eines Bürgerkrieges einzulassen. „Wozu Heimwehren?“, sagte der Prälat Hauser, „ich kann doch alles Notwendige mit dem Renner machen.“ Und das war die lautere Wahrheit, mit dem Renner konnte man wirklich alles Notwendige machen. Das war der Stolz der Sozialdemokraten, und dieser Stolz ließ sie über die Heimwehren hinwegsehen. Auf die Dauer ging das freilich nicht, denn die Heimwehren fingen an, sehr deutliche Lebenszeichen von sich zu geben. Bald da, bald dort ermordeten sie einen Arbeiter. Nach jedem solchen Mord erklärte die Arbeiter-Zeitung: wenn noch einmal so etwas vorkommt, dann... Was „dann“ geschehen sollte, zeigte sich am 15. Juli 1927. Als an diesem Tage die Wiener Arbeiter, erbittert über die Freisprechung einiger faschistischer Arbeitermörder, den Justizpalast in Brand steckten, glaubten die Sozialdemokraten nichts besseres tun zu können, als den Christlichsozialen die Bildung einer Koalition vorzuschlagen. Und in diesem Stil führten sie den Kampf gegen den Faschismus weiter bis zum heutigen Tag. Die furchtbare Verschärfung der Krise führte dem Faschismus immer neue Kräfte zu, neben die Heimwehren trat der Nationalsozialismus, die Vereinigung der Arbeiterfeinde machte trotz aller Katzbalgereien im faschistischen Lager reißende Fortschritte, ihre Pläne wurden immer deutlicher sichtbar, aber die sozialdemokratische Partei verharrte in der vollkommensten Untätigkeit.

Sie tut auch jetzt nichts, nachdem Dollfuß, durch die Vorgänge in Deutschland ebenso ermuntert wie erschreckt, daran gegangen ist, der österreichischen Bourgeoisie die Vorteile zu verschaffen, die ihr ein faschistisches Regiment zu bieten hat, und sie zugleich vor den Unannehmlichkeiten zu bewahren, die eine faschistische Herrschaft für die besitzenden Klassen mitsichbringt. Als Dollfuß das Parlament beiseite schob, eine ständische Verfassung ankündigte und aufgrund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes die noch vorhandenen Überreste des „revolutionären Schuttes“ wegzuschaffen anfing, hatte sie ihm nichts anderes entgegenzusetzen als demokratische Redensarten. Der Austromarxismus steht dem Faschismus genauso ratlos gegenüber, wie die Theoretiker und Praktiker des Reformismus dem Krieg gegenüberstanden. Er geht von der Annahme aus, daß der Normalzustand des Kapitalismus die Prosperität sei und daß bei zunehmender Prosperität durch die Zusammenarbeit der Klassen die Klassengegensätze ausgeglichen werden würden bis zum vollendeten Sozialismus. Mit Erscheinungen, die dieser Annahme widersprechen, weiß er nichts anzufangen. Auf die Frage, was gegen die Krise und ihr Kind, den Faschismus, zu tun ist, hat er ebensowenig eine Antwort wie etwa auf die Frage, wie der Sozialismus verwirklicht werden soll, wenn die Erde mit einem anderen Himmelskörper zusammenstößt. Er ist ja nicht Astronomie, sondern Ökonomie und Politik. Er befaßt sich, trotz den Waffenlagern des Republikanischen Schutzbundes, die Dollfuß jetzt so eifrig sucht, nicht mit Schießgewehren und anderen Mordwaffen, sondern mit Wahlen und parlamentarischen Verhandlungen, er ist demokratisch, und wenn die anderen sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten, gerät er in dieselbe Lage wie der biedere österreichische General, der auf die Frage, warum er denn von Napoleon immer geschlagen werde, verzweifelt ausrief: „Wie soll man denn gegen einen Menschen Krieg führen, der sich nicht an die Regeln der Kriegswissenschaft hält?“ Was soll man gegen Dollfuß machen, wenn er gegen alles menschliche und politische Recht, auf die ganze Demokratie, die demokratischste aller Verfassungen eingeschlossen, pfeift? Da gibt es nur eins: Unterwerfung. Wirklich hat die Arbeiter-Zeitung zu wiederholten Malen erklärt, die Partei sehe ein, daß nach der Umwälzung in Deutschland auch in Österreich manches anders werden müßte, und sie sei bereit, mit Dollfuß über die neue Verfassung zu verhandeln. Das heißt, die Sozialdemokratie hat nichts dagegen einzuwenden, daß die Demokratie erschlagen und begraben wird, nur soll dabei aus Schicklichkeitsrücksichten das demokratische Zeremoniell beachtet werden. Natürlich bringt die Arbeiter-Zeitung nicht nur solche Erklärungen, sondern auch andere, entgegengesetzte. Sie droht, sie spottet, sie jammert, sie heckt die lächerlichsten Pläne aus, sie schwankt zwischen Furcht und Hoffnung, wie es eben dem Zustand der Kopflosigkeit entspricht, in den der schreckliche Dollfuß den Austromarxismus versetzt hat. Worauf die Sozialdemokratie noch hofft? Selbstverständlich nicht auf die eigene Kraft, nicht auf die Arbeiterschaft, sondern auf das Eingreifen des Auslandes und auf die Streitigkeiten im faschistischen Lager. Sie sieht nicht, daß der Streit zwischen Hahnenschwänzlern und Hakenkreuzlern ein Vereinigungskrieg ist, daß er einem Liebeszwist gleicht, der mit einer heißen Umarmung endet. Sie sieht überhaupt nicht, sie versteht die Welt nicht mehr, sie ist handlungsunfähig, und darum wird sie den Weg der Erniedrigung und Entmachtung bis ans bittere Ende machen, hirn- und lendenlahm wie die deutsche Sozialdemokratie. Die österreichischen Arbeiter haben von der Musterpartei der Zweiten Internationale nichts mehr zu erwarten als Schmach und Niederlage.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008