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Die Revolution von 1905 und der österreichische Wahlrechtskampf; Internationale Pressekorrespondenz der Kommunistischen Internationale (deutschsprachige Ausgabe) Nr. 144/1925.
Abgedruckt in Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation, Wien, Junius Verlag, 1982, S. 89ff.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
In seiner Züricher Rede über die Revolution von 1905 sagte Lenin: „Auf indirekte Weise hat die russische Revolution auch ihren Einfluß auf die westlich gelegenen Länder geübt. Es darf nicht vergessen werden, daß, als am 30. Oktober 1905 das Telegramm von dem konstitutionellen Manifest des Zaren nach Wien kam, diese Nachricht dort zu dem definitiven Siege des allgemeinen Wahlrechts in Österreich beitrug.“
Das ist nicht zuviel gesagt. Die Kunde von dem Manifest des Zaren wirkte auf die österreichischen Arbeiter aufrüttelnd. Hatte die Endlosigkeit des Wahlrechtskampfes, das schreiende Mißverhältnis zwischen der in diesem Kampfe verausgabten Energie und seinen Ergebnissen viele österreichische Arbeiter, und nicht die schlechtesten, verdrossen, skeptisch, müde gemacht, so gab das Bekenntnis des Zaren zum Konstitutionalismus, dieser handgreifliche Beweis, daß das Proletariat auch unter den allerschwierigsten, scheinbar ganz aussichtslosen Verhältnissen mit Erfolg zu kämpfen vermag, dem österreichischen Proletariat mit einem Schlage seinen alten Elan wieder. Und dieser Elan erzwang die Wahlreform.
Es gibt allerdings Leute, die es anders wissen, die beschwören können, daß es die staatsmännische Klugheit der führenden Sozialdemokraten gewesen ist, die das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht in Österreich eingeführt hat. Sind ja die österreichischen Sozialdemokraten heute durch die Bank der Überzeugung, daß die Methoden des Klassenkampfes nicht nur barbarisch, sondern auch veraltet, unwirksam und schädlich sind; daß man den Gegner nicht schlagen, sondern überzeugen muß und daß die Sozialdemokratische Partei ihre Erfolge vor allem der praktischen Anwendung dieser Erkenntnis zu verdanken hat.
Entstanden ist dieser Aberglaube während der Wahlrechtsbewegung. Nicht gleich in ihren Anfängen. Noch um die Mitte der neunziger Jahre würden die sozialdemokratischen Arbeiter Österreichs jeden ausgelacht haben, der ihnen gesagt hätte, in der Wahlreformbewegung komme es nur darauf an, dem Gegner die Richtigkeit der Wahlreformidee zu beweisen. Denn damals fühlten sie noch ihre Kräfte wachsen, und sie im Kampfe zu erproben, war ihr heißester Wunsch. Die Wahlrechtsbewegung war in dieser Zeit ein mit Begeisterung, Wagemut, Opferwilligkeit und vor allem unerschütterlicher Zuversicht geführter Kampf. Das änderte sich aber im Laufe der Jahre. Die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs hatte das Selbstbewußtsein nicht nur seines Proletariats, sondern auch seiner Nationen gewaltig gestärkt. Forderte das Proletariat immer ungestümer die politische Gleichberechtigung, so zeigten sich die unterdrückten Nationen immer weniger geneigt, einen Hehl daraus zu machen, daß sie den österreichischen Staat nicht als ihren Staat betrachteten, sondern als einen Käfig. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre spitzte sich der Nationalitätenstreit so zu, daß er das Parlament lahmlegte und den Bestand des Reiches, also auch die Durchführung der von den Arbeitern verlangten Reformen, vor allem der Wahlreform, in Frage stellte. Die österreichische Arbeiterschaft stand plötzlich vor dem nationalen Problem und vor der Frage nach ihrem Verhältnis zum Staat.
In dieser Zeit entstand die österreichische Spielart des Reformismus: der Austromarxismus. Karl Renner machte den Anfang. Er unterwarf das alte Österreich einer marxistischen Analyse – so glaubte er wenigstens. In Wirklichkeit unterwarf sich das alte Österreich seine marxistischen Analytiker. Es war alt und schwach geworden, es befand sich im Zustand der Auflösung, es ging bereits in Fäulnis über, aber so stark war es doch noch, seinen Marxisten die Courage abzukaufen. Der Austromarxismus bedeutete nichts anderes als die Kapitulation – die freudige Kapitulation! – vor Habsburg; dieser Marxismus war unheilbar an der Schwarzgelbsucht erkrankt. Weil der nationale Krieg den Wahlrechtskampf störte und ins Stocken geraten ließ, verloren die österreichischen „Marxisten“ den Glauben an das Proletariat. Sie glaubten nicht mehr, daß die Arbeiter die Wahlreform oder gar den Sozialismus erkämpfen könnten. Also mußten sie, wenn sie den Sozialismus und die Arbeiterbewegung nicht aufgeben wollten, hoffen, die Interessen der Arbeiterklasse mit den staatlichen Interessen in Einklang zu bringen und, indem sie das Proletariat in den Dienst des Staates stellten („wir Sozialdemokraten sind die einzige staatserhaltende Partei in Österreich“), den Staat in den Dienst des Proletariats stellen zu können. Sie mußten auf Österreich hoffen, natürlich auf ein neues Österreich, einen Bund freier Völker.
Ein neues Österreich – das war der erste Gedanke des Austromarxismus. Aber wie es schaffen? Durch die Wahlreform natürlich. Daß der Wahlreformkampf durch den Nationalitätenstreit aussichtslos geworden zu sein schien, hatte nichts zu bedeuten. Es stand ja, abgesehen von den veralteten Schriften von Marx, nirgends geschrieben, daß das Proletariat nur durch den Kampf ans Ziel kommen kann. Man kann die Wahlreform, überhaupt jede Reform, auch erreichen, indem man ihre Gegner von ihrer Notwendigkeit, Nützlichkeit und Annehmlichkeit überzeugt. Das war der zweite Gedanke des Austromarxismus.
Es begann ein neuer Abschnitt der Wahlrechtsbewegung. Man fing an zu beweisen: das allgemeine Wahlrecht ist eine Panazee (dieser Beweis wurde stets eingeleitet mit der Bemerkung: wir wissen sehr wohl, daß das allgemeine Wahlrecht keine Panazee ist). Nicht nur die Proletarier brauchen es, sondern auch die anderen Klassen, die Kapitalisten, der neue Mittelstand, die Handwerker, die Bauern. Es wird allen Nationen die Entwicklungsmöglichkeit geben, die sie brauchen. Die Staatstreue, unter dem Privilegienwahlrecht bei keiner Nation zu finden, wird also für alle Nationen eine Selbstverständlichkeit sein, einfach ein Gebot der nationalen Selbsterhaltung. Österreich wird wieder groß und mächtig werden, also liegt das allgemeine Wahlrecht auch im Interesse der Krone, der ja die Größe und Macht des Staates das Höchste ist.
Dieser Beweis wurde jahrelang geführt, mit immer größerem Scharfsinn, immer zwingenderen Argumenten. Aber die Machthaber – die Krone, die Großgrundbesitzer, das deutsche Bürgertum – ließen sich absolut nicht zwingen, die Beweisführer verlegten sich schließlich aufs Bitten – wie ja auch die Utopisten nicht nur an die Einsicht, sondern auch an das gute Herz der Mächtigen appelliert hatten. Es kam so weit, daß man den Kaiser förmlich um ein Wahlreformoktroi anbettelte. Alles umsonst.
Da kam am 30. Oktober 1905 – in Wien tagte gerade der Gesamtparteitag der österreichischen Sozialdemokratie – die Nachricht von dem Manifest des Zaren. Die Wirkung war ungeheuer. Der Parteitag derselben Partei, deren Führer die längste Zeit unverdrossen immer wieder Majestätsgesuche um die Wahlrechtsreform eingebracht hatten, beschloß die folgende Resolution:
„Der Parteitag verlangt die sofortige Einberufung des österreichischen Reichsrates, dessen Abgeordnetenhaus in dem gegenwärtigen Augenblick keine andere Aufgabe hat, als das langjährige Unrecht seiner Existenz zu sühnen und an die Stelle eines verabscheuungswürdigen Privilegienparlaments eine wirkliche Volksvertretung, aufgebaut auf dem Grundsatz des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, zu setzen. Der Parteitag erklärt, daß nach dem glorreichen Sieg der russischen Revolution das österreichische Proletariat aller Zungen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit aller Energie fordert und entschlossen ist, allen Verschleppungsversuchen, wenn es sein muß, auch mit den äußersten Mitteln, entgegenzutreten.“
Noch am selben Abend kam es in Wien zu einer gewaltigen Demonstration, ebenso in Brünn, und in den darauffolgenden Tagen demonstrierten die Arbeiter in allen Industriestädten Österreichs. Die Polizei glaubte, der Bewegung durch Brutalität Einhalt tun zu können: am 2. November attackierten in Wien Polizisten Arbeiter mit der Waffe. Aber die Regierung hatte schon erkannt, daß sich die Arbeiter nicht mehr, wie es ihre Wortführer wünschten, auf die Werbekraft des Wahlreformgedankens, sondern nur noch auf ihre Kampftüchtigkeit verlassen wollten. Am 4. November ließ der Ministerpräsident Gautsch, ein stockreaktionärer, klerikaler Bürokrat, ein verbissener Arbeiterfeind, der noch einige Wochen vorher gegen die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes in Ungarn – mit der Begründung, es könnte nach Österreich eingeschleppt werden – protestiert hatte, die Erklärung veröffentlichen, die Regierung werde sich mit der Wahlreformfrage beschäftigen. Er verschwieg nicht einmal, was ihn so plötzlich auf andere Gedanken gebracht hatte.
„Es darf nicht übersehen werden, hieß es in der Erklärung, daß diese Wünsche (nach der Wahlreform) durch Vorgänge in anderen Staaten mannigfache Unterstützung erfahren haben.“
Der Ministerpräsident Gautsch sagte also offen heraus, daß ihn nicht die Beweise von der Vortrefflichkeit des gleichen Wahlrechtes, sondern die Tatsache, daß die revolutionären Taten der russischen Arbeiter auf die österreichischen Arbeiter begeisternd wirkten, zur Wahlreform bekehrt hatten. Freilich ließ er zugleich erklären, die Reform bedürfe noch der „ruhigsten, reiflichsten Überlegung“.
Am nächsten Tage, dem Wahlrechtssonntag, brachten die Arbeiter ihren Willen so deutlich zum Ausdruck – in Prag kam es zu einer förmlichen Straßenschlacht mit Barrikadenbau –, daß die Regierung rascher zu überlegen beschloß. Am 11. November kündigte Gautsch eine Wahlreform „auf moderner Grundlage“ an, und am 28. November, dem Tage der Parlamentseröffnung, an dem das österreichische Proletariat eine gigantische Kundgebung veranstaltete (in Wien allein demonstrierten an diesem Tage über eine Viertelmillion Arbeiter), lauteten seine Erklärungen noch viel präziser. Aber allen seinen Reden und Handlungen war deutlich anzumerken, daß er innerlich der alte geblieben war, und jede Gelegenheit, die Wahlreform zu verhunzen und zu verschleppen, mit Vergnügen ergreifen würde.
Die Arbeiter mußten die Regierung und die anderen Wahlrechtsfeinde Schritt für Schritt vorwärtspeitschen. Es war eine mühsame Arbeit: erst im Mai 1907 wurde in Österreich zum erstenmal auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes gewählt. Die Wahlreformfeinde fügten sich, nicht weil sie sich von dem Wert der Wahlreform überzeugt hatten, sondern weil sie sich nicht der Einsicht verschließen konnten, daß das Proletariat entschlossen war, ihren Widerstand gegen die Wahlreform nötigenfalls mit Gewalt zu brechen. Nicht die Waffe der Kritik schlug die Arbeiterfeinde, sie ergaben sich nur aus Furcht vor der Kritik der Waffen.
Die österreichischen Arbeiter haben die Lehre, die ihnen die russische Revolution gegeben hat, wieder vergessen. Bald, sehr bald nach der Erkämpfung der Wahlreform ließen sie sich zu dem Aberglauben an die allein seligmachende Kraft der Demokratie verleiten. Krieg und Umsturz änderten daran nichts: die österreichischen Arbeiter wurden während der großen Krise des Kapitalismus in der Überzeugung von dem Wert der bürgerlichen Demokratie und des Zusammenarbeitens mit den bürgerlichen Parteien noch bestärkt. Aber sie werden sich bald darauf besinnen, daß sie ihre wirklichen Erfolge immer nur im Kampf errungen haben. Denn, was die Sozialdemokraten nicht leisten: die Aufklärung ihrer Anhänger, das besorgt die Entente.
Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008