Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Natur- und Stammesgötter

Sehr zutreffend fährt Engels in der angeführten Stelle fort: „In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedensten Völkern die mannigfaltigsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Bald aber treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit.“

Für die zu Horden, Geschlechterverbänden, Stämmen vereinigten Menschen bedeutet ihre Gruppe gleichfalls eine Schicksalsmacht, von ihrer Kraft und Schwäche, ihrem Gedeihen und Verfall, ihren Siegen und Niederlagen im Kampf mit anderen Gruppen ist das Dasein der einzelnen mehr oder weniger abhängig. Die Ursachen aber, welche das Auf und Nieder, Glück und Unglück der Gruppe bedingt, sind den Menschen der Urzeit vielfach nicht minder dunkel und rätselhaft als die Naturkräfte. So entstanden neben den Naturgöttern auch Stammes- und später nationale Götter. Auch ihnen wurden Opfer dargebracht, auch zu ihnen wurde gebetet, damit sie den Stamm schützen, segnen, aufblühen lassen, ihm Macht und Sieg verleihen über seine Feinde.

Jede menschliche Gemeinschaft, auch die primitiven Gentilverbände, beruht auf Satzungen, denen sich die Mitglieder zu fügen haben und deren Verletzung den Verband lockert und schädigt. Vielfach war ihr Ursprung unbekannt, da sie aus dem jeweiligen Bedürfnis herausgewachsen waren. Aber auch solche Satzungen oder Gesetze, die von Häuptlingen angeordnet wurden, schrieb man der Erleuchtung durch die Himmlischen zu, der Offenbarung, wie alles Außerordentliche. In den Satzungen bekundete sich der göttliche Wille; ihre Verletzung galt als Auflehnung gegen den Gott, der sie befohlen. Nicht selten mochten auch die Gesetzgeber den göttlichen Ursprung der Gesetze vorgespiegelt haben, um ihnen größere Autorität zu verleihen.

So trat zum Opfer und Gebet auch der Gehorsam, als weiteres Mittel, die Huld des Stammesgottes zu erringen. Wurde der Verband von innerem oder äußerem Unglück heimgesucht trotz reichlicher Opfer und brünstiger Gebete, so war solcher Ungehorsam daran schuld. Wie lang sich diese Auffassung erhalten hat, zeigen die alttestamentlichen Geschichtsbücher, die in geradezu kindischer Art jedes dem Volke Israel widerfahrene Unheil dem Ungehorsam gegen seinen Gott und Abfall von ihm zuschreiben.

In Bezug auf Siege und Niederlagen von Verbänden untereinander kam aber auch die Anschauung hinzu, daß der Gott des siegenden Verbandes mächtiger sei als der des unterlegenen, woraus sich wenigstens zum Teil der Hang zu dem, was die Bibel „Abgötterei“ nennt, erklären mag.

Mit der Verschmelzung kleinerer Verbände zu größeren, mehrerer Geschlechterverbände zum Stamm, zum Stämmebund, zu Staaten und Reichen, verschmolzen auch die einzelnen Gruppengötter nach und nach ineinander. Den Übergang bildete die Vereinigung ehemals isolierter Gruppengötter zu einer Gemeinschaft mehrerer Götter mit einem Oberhaupt, einer himmlischen Oligarchie (Herrschaft von wenigen, vom griechischen oligos = wenig), wofür die olympischen Götter der Griechen mit Zeus an der Spitze das klassische Beispiel geben. Denn jeder und jede dieser Olympier war früher eine Lokalgottheit für sich, und erst als die einzelnen griechischen Kantone in engere, aber immer noch lose Verbindung untereinander traten, vollzog sich auch die mythologische Organisation derselben mit entsprechender Arbeitsteilung (Zeus der Donnerer, Helios der Sonnengott, Aphrodite die Liebesgöttin usw.).


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008