Otto Rühle

Grundfragen der Erziehung

Ein Vortrag

(1932)


Vortragsvorlage abgedruckt in Der Pionier, Funktionärblatt der Gemeinschaft proletarischer Freidenker, 2. Jg, Nr.15, 1932.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Wenn das Leben eine Vorwärtsbewegung ist, die um ihrer selbst willen geschieht und aus sich selbst heraus verstanden sein will, so sind Sprache, Denken und Vernunft vorausschauende, den animalischen Funktionen übergeordnete Mittel der Sicherung und Erhaltung des Lebens. Unter Kultur verstehen wir dann die Summe aller Maßnahmen und Einrichtungen im Interesse dieser Sicherung, und das Verfahren zur Übertragung, Festigung und Weiterentfaltung dieser Kultur und Kulturerrungenschaften von Generation zu Generation heißt Erziehung.

Inhalt, Form und Ziel des Erziehungswerkes ergeben sich aus der in der Gesellschaft jeweilig herrschenden Klasse, die entsprechend der Lebensgestaltung der Menschheit in sozialer, rechtlicher, politischer, kurz ideologischer Hinsicht das Gepräge geben. Mit veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen wandeln sich die sozialen Formen, die ideologischen Inhalte und damit die ethischen Postulate, die künstlerischen Ideale, die pädagogischen Systeme. Immer ist es die Gesellschaft oder besser gesagt, die sozialökonomische Struktur und der Komplex der ideologischen Lebensform jeder gesellschaftlichen Epoche. Das Erziehungsideal ist nicht das Resultat spekulativer Bemühungen etwa der Philosophie, Theologie, Ethik oder Ästhetik, sondern der Ausdruck realer Wirtschaftstendenzen, die ihren Lebensinteressen mit den Mitteln der Erziehung auf die Jugend wirkt.

In der Klassengesellschaft wird die Jugend der besitzenden Klasse erzogen zu Herrschaft, Genuß, Führerbewußtsein und Vollwertigkeitsgefühl, die der besitzlosen Klasse zu Gehorsam, Arbeit, Entsagung und Minderwertigkeitsgefühl. Durch alle Phasen der historischen Entwicklung läßt sich diese Gegensätzlichkeit verfolgen. Die kapitalistische Bourgeoisie hat wohl Interesse an der Hebung des geistigen Niveaus der Arbeiterklasse über den Horizont der hörigen Gutssklaven und Bauern hinaus, weil sie eine gewisse Intelligenz des Proletariats für die Warenproduktion und Geldwirtschaft braucht; aber sobald die entwickelte Maschinentechnik auf der Stufe entfaltetster Wirtschaftsführung die Arbeiterintelligenz über einen bestimmten Grad hinaus entbehrlich macht, wird der Industrie- und Börsenmagnat genau so bildungsfeindlich wie der Landjunker. Und solange das materielle Vorrecht des Besitzes in skrupelloser Nacktheit über alle Ansprüche und Rechtstitel der Besitzlosigkeit triumphiert, werden in dieser göttlichen Weltordnung nach wie vor Bildung und Erziehung – den Waren vergleichbar, die man im Verschleiß für gutes Geld ersteht – mit ihren Schätzen und Gaben die Wagschale der Reichen füllen, indes die Armut leer ausgeht.

Die herrschende Klasse hat ihre Macht organisiert im bürgerlichen Staate. Dieser Staat ist ein autoritäres Gebilde – der Besitz an Geld setzt sich um in Ansehen, Einfluß, gesellschaftliche Geltung, Autorität. Er ist zentralistisch organisiert – der Zentralismus gewährleistet am sichersten die Herrschaft von wenigen über viele. Seine Ideologie hat zum Angelpunkt den Individualismus – der Wille zur Macht findet seine Manifestation in dem Streben nach einer starken, überlegenen Persönlichkeit. Da der Staat offizieller Träger der bürgerlichen Erziehung ist, entspricht diese Erziehung in ihrem Charakter, ihrer Organisation, ihrer Tendenz dem Staat: sie ist autoritär – zentralistisch – individualistisch.

Die Familie ist die Zelle des bürgerlichen Staates. In ihrer Enge, Isoliertheit, ideologischen Stickluft gedeihen alle Tugenden, deren das Privateigentum zu seiner Erhaltung und Sicherung bedarf. Sie ist die Brutstätte des Egoismus, der nichts anderes ist als der ins Ethische übersetzte Individualismus. In ihr wuchert die Autorität, die das ganze Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beherrscht, das ganze Erziehungswerk durchdringt und bestimmt. Darum ist die Familienerziehung in der Erziehung zum Gehorsam verankert. Befehl, Drohung, Lob und Tadel, Strafe – das sind die Erziehungsmittel. Erziehungsmittel freilich für Sklaven, Knechte, Untertanen, Ausbeutungsobjekte, nicht für freie Menschen, Revolutionäre. Hier wird unsagbar gesündigt, selbst von aufgeweckten Proletariern und tapferen Klassenkämpfern. Erst an dem Tage, an dem in der Erziehung das Kommandieren und Prügeln aufhört, ist der erste Schritt zu einer freien, sozialistischen Erziehung getan.

In der alten Schule tritt der Geist der bürgerlichen Erziehung ganz rein und nackt, offiziell und brutal zutage. Die bürgerliche Klasse schuf die Schule, wie sie Fabrik, Kaserne und Gefängnis schuf. Im Grunde nur die mehrfache Variation ein und desselben Themas. Kein Zufall, daß die vier Institute schon rein äußerlich, ihrer Bauart und Einrichtung nach, noch mehr aber innerlich, in ihrem Betrieb, ihrer Organisation und Funktion, ihrem Geist und ihrer Atmosphäre eine geradezu verblüffende Übereinstimmung aufweisen. Die alte Schule ist Erziehungskaserne, Bildungsfabrik, Kindergefängnis. Ihre Mittel sind – da wie dort – Zwang, Disziplinierung, Uniformierung, Mechanisierung, Abrichtung, Unterjochung. Das Resultat ist die wehrlose, arbeits- und ausbeutungswillige, gefügige Masse in den Händen einer selbstbewußten, frech-brutalen, genußsüchtigen, mit allen Herrschaftskünsten vertrauten Besitzerkaste.

Wann wird das anders werden? Wenn wir ernstlich dazu übergehen, im Zusammenhang mit dem großen ökonomisch-sozialen Befreiungswerk auch die geistige Emanzipation, die Zerstörung der bürgerlichen Ideologie, die Revolutionierung der gesellschaftlichen Erziehung im großen Ausmaß, mit gewaltigen Kräften und hingebungsvollem Eifer zu betreiben; wenn wir der heutigen Erziehungspraxis in Haus und Schule den Kampf auf Leben und Tod ansagen.

Jeder Mensch ist neun Monate älter, als er im Kalender steht. Darum soll seine Erziehung schon vor der Geburt beginnen. Das Kind darf von seinen Eltern alle körperlichen und geistigen Voraussetzungen verlangen, die ihm eine gesunde, regelrechte, erfolgreiche Entwicklung gewährleisten. Die simple Praxis des Tierhalters, der zur Nachzucht nicht kranke, minderwertige Tiere, sondern die kräftigsten, stattlichsten, gesündesten und vollwertigsten Exemplare verwendet, muß dem Menschen, der sich bewußt ist, im Kinde mehr als eine Wiederholung der Vergangenheit zu erblicken, zum ungeschriebenen, aber ehernen sittlichen Gesetz der Zeugung werden. Das Heer der Schwachsinnigen und Idioten. Wahnsinnigen und Verbrecher, Belasteten und Untauglichen, Krüppel und Kranken aller Art, da heute Anstalten, Spitäler, Gefängnisse bevölkert und von der Gesellschaft als lästiger und kostspieliger Ballast mitgeschleppt werden muß, würde unendlich kleiner sein, wären die Menschen aufgeklärter und verantwortungsvoller, weniger dem Alkohol und der Ausschweifung ergeben, mehr bereit, alle Versündigungen an ihrem Nachwuchs und dem sozialen Interesse zu unterlassen.

Solange die Familie noch als blutsverwandtschaftlicher Sozialverband existiert und als erste Erziehungsstätte des Kindes in Betracht kommt, müssen wir uns mit ihr abfinden, so überständig sie auch ist und so mangelhaft sie ihre pädagogischen Aufgaben erfüllt. Die sozialistische Zeit wird sie voraussichtlich zu einer kameradschaftlichen Großfamilie erweitern und umgestalten, damit ihrem Charakter die Note einer sozialen Gemeinschaft geben und in ihr die ersten Voraussetzungen für die Praxis einer sozialistischen Erziehung schaffen.

Aber wir können mit der Erziehung zum Sozialismus nicht warten, bis die sozialistische Gesellschaft etabliert ist. Schon heute müssen wir damit beginnen, in dem Milieu, das wir vorfinden, jeder in seinem Lebenskreise, zuerst also in der Familie.

Ist die bürgerliche Welt am Prinzip des Individualismus orientiert, so die proletarische am Sozialismus. Alle proletarisch-sozialistische Erziehung wird also zu beginnen haben mit der Erziehung zur Gemeinschaft, der Weckung und Pflege des Gemeinschaftsgefühls, der gegenseitigen Achtung, Liebe und Hilfe.

Das erste ist Eingliederung in den Lebenskreis, Einordnung in die Gemeinschaft, Gewöhnung durch Übung, Beispiel und Einsicht. Der kleine Mensch wird gewöhnt nicht nur an Reinlichkeit, Regelmäßigkeit, Ordnung, sondern auch an Verträglichkeit, Kameradschaftlichkeit, Respekt vor dem Recht und der Freiheit anderer, Solidarität, freiwillige Unterordnung unter den Willen und das Interesse der Gesamtheit. Von größter Bedeutung ist dabei das lebendige Vorbild der Erwachsenen, die ihm durch ihr Tun und lassen die Idee des Sozialismus als Erlebnis demonstrieren. „Wenn die Menschen als Sozialisten erzogen wären“, könnte man im Sinne des Goetheschen Wortes sagen, „sie könnten erzogene Sozialisten gebären.“ Des weiteren entfalten sich stärkste erziehliche Einflüsse auf das Kind im Spiel. Dient das Einzelspiel mehr dem Zwecke der individuellen Erziehung des Kindes in dem Sinne, daß es Eigenschaften und Tugenden weckt, die den Menschen als Menschen zieren, Fähigkeiten entwickelt und Qualitäten schafft, die eine harmonische Gesamtpersönlichkeit bilden und formen helfen, so sind die sozialen Spiele rechte Vorbereitungsstätten fürs Leben. Das Kind reiht sich als Glied in die Kindergemeinschaft ein, muß sich anpassen und unterordnen, muß Rücksicht nehmen und kämpfend seinen Platz behaupten – genau wie draußen im Leben der Erwachsenen.

Vielleicht kann das Kind schon jetzt die frühen Spieljahre im Kindergarten verbringen. In der sozialistischen Zukunft wird er nach der Kommune die nächste, wichtige Erziehungsstätte sein.

Der Kindergarten soll ein wirklicher Garten sein, mit Bäumen, Wiesen, Beeten, Sandhaufen, Spielgelegenheit, Planschwiese und etwas Getier, das die derbe Zärtlichkeit von Kindern zu ertragen weiß. Und das Spiel soll ein wirkliches Spiel sein, frei, unbeeinflußt, erfinderisch, schöpferisch alle Kräfte in Bewegung setzend, alle Energien auslösend, voll sozialer Werte. Es beginnt mit der Ausgleichung des Fehlerhaften von Geburt, der Anbahnung des äußeren und inneren Gleichgewichts. Den Ausgangspunkt bilden Gesundheitspflege und Körperkultur. Die Gymnastik verschwistert sich mit Rhythmus und Ton, Bild und Linie. Die Erlösung körperlicher Hemmnisse an Hand dieser Erfahrungen macht das Turnen zum Tanz, zur künstlerischen Pose, zum Ausdruck ästhetischer Eingebungen. Zugleich werden die Sinne zu höchster Exaktheit ihrer Funktionen geschult, wie die Phantasie tausend Anregungen und Antriebe erfährt zur frei entfalteten Produktion in Wort, Farbe, Ton und Material.

Bald findet der Ausdruck inneren Erlebens seinen konkreten Niederschlag im produktiven Tun. Das Kind beginnt zu schaffen. Fröbel lehrte als erster die Erzieher, das Kind von Anfang an als schöpferisches Wesen zu würdigen. Indem sich die primitiven Handgriffe des Spiels und der häuslichen Beschäftigung zu kleinen Systemen ordnen, kommt eine planvolle Einwirkung auf die körperliche, geistige und seelische Verfassung des Kindes zustande. Bald macht der Kindergarten der Spielstube Platz.

In der heutigen Volksschule sorgt der Unterricht für eine bestimmte Menge von erlernbarem, mehr oder weniger mechanisch aufzuspeicherndem Wissensstoff, der eine geistige Orientierung in dem Umfang und Ausmaß verbürgt, als dem Bourgeois im allgemeinen erwünscht ist. Das Lernen läuft auf Verbalismus, Drill, Einpaukerei hinaus – die Menge des Wissens bedingt den Grad der Bildung. Daneben hat die Erziehung dem Charakter der Kinder eine Form zu geben, die dem Zwecke ihrer künftigen Verwendung im kapitalistischen Wirtschaftsprozeß, im Staatsorganismus (als Soldat, Steuerzahler, Untertan usw.) entspricht. An der Erweckung und Pflege des schöpferischen Könnens im Kinde, seiner Selbständigkeit, am Geltenlassen seines persönlichen Eigenwertes, an einer Selbstbestimmung und Selbständigkeit ist man nicht nur nicht interessiert, vielmehr man fürchtet sie. Also ist in der Erziehung davon auch keine Rede.

Soll die Erziehung nach dieser Rechtung wirken und so das Eigenste und Tiefste im Kinde frei machen helfen im Interesse einer ganz neuen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, muß vor allem erst die Arbeit einen anderen sozialen Charakter angenommen haben.

Seit der Herrschaft des Privateigentums und der damit im Zusammenhang stehenden Scheidung der Gesellschaft in Klassen ist die Arbeit die harte Pflicht der Armen und Beherrschten. Sie wirkt sich als Ausbeutung aus, die den Reichen und Herrschenden die Existenz sichert, sie von der Arbeit – insbesondere von der Handarbeit – befreit und ihnen die Möglichkeit zur Bereicherung über das Maß ihrer Lebensansprüche hinaus bietet. Wie alle Sklavenarbeit ist diese Arbeit geächtet, verhaßt; sie wird widerwillig verrichtet; man schämt sich ihrer. Wo, wann und unter welchen Umständen die herrschende Klasse an der Arbeit teilnimmt – immer geschieht dies lediglich in der Absicht und zu dem Zweck, die Arbeit als Ausbeutung aufrechtzuerhalten, sie zu dirigieren und im Effekt zu steigern. Das Ziel bleibt stets, von der Arbeit bald und völlig befreit zu sein. Solange Klassen bestehen, deren eine ihre Existenz auf die Unterjochung und Ausbeutung der andern gründet, wird die Arbeit das Mittel der Ausbeutung sein und ihren Charakter als soziales Knechtsschaftslos nicht verlieren.

In der sozialistischen Gesellschaft hingegen wird der Mensch eine ganz neue, anders geartete Beziehung zur Arbeit haben. Das gemeinsame Besitzrecht aller an allen Arbeitsmitteln, das von der Arbeitsleistung abgeleitete Anspruchsrecht am Arbeitsertrag, der Abbau des Lohnsystems usw. sichern ihm einen völlig neuen Standpunkt im Wirtschaftsprozeß, dessen neuer Sinn der sein wird: durch solidarische Leistung der Gesamtheit jede Existenz mit Existenzmitteln ausreichend zu versorgen, das materielle Dasein der Menschen auf eine breitere, reichere Basis zu stellen, die Menge der verfügbaren Kulturgüter zu steigern, das Maß des allgemeinen Kulturgenusses zu erhöhen. Diese Arbeit wird nicht mehr den Charakter einer harten Pflicht, einer dem Menschen feindlichen Macht, einer fremden Gewalt von außen tragen, sondern eine schöne Selbstverständlichkeit, die natürliche Bestimmung des Menschen sein. Wie die Erziehung zur Arbeitsverachtung (bei den Reichen) oder zum Arbeitstier (bei den Armen) die seelische Einstellung zur Arbeit bei den Menschen von heute bestimmt, so wird die Erziehung zur Arbeitsfreudigkeit, die in der Arbeit ein elementares, selbstverständliches Lebensbedürfnis sieht, das Verhältnis der sozialistischen Menschen zur Arbeit beherrschen. Erst aus diesem Verhältnis heraus wird eine Arbeitserziehung und Arbeitsschule möglich sein, eine Erziehung und eine Schule in dem Sinne und mit den Mitteln der neuen Arbeit.

In Moskau hat Blonski eine solche Arbeitsschule aufgebaut, die freilich nur ein erster Anfang ist. Der Betrieb geht vom Haus über die Werkstätte zur Fabrik. Ziel ist nicht das Betreiben eines Handwerks oder die Heranbildung von Kräften für die Industrie, sondern eine allgemeine, werktätige Arbeitsausbildung, die Entbindung aller schöpferischen Kräfte im Menschen, die Vervielseitigung der Ausdrucksfähigkeit, die Vollendung des Menschen zu einer harmonischen Persönlichkeit im Organismus der auf Solidarität und Kommunismus gegründeten Gemeinschaft.

Mit Kaserne, Fabrik und Gefängnis verschwindet die Schule. Lehrer wird jeder vorbildliche Mensch. Bildungs- und Erziehungsstätte wird die gesellschaftliche Produktion auf allen Gebieten. Der Gegensatz von Hand- und Kopfarbeit, Landwirtschaft und Industrie wird mehr und mehr ausgeglichen. Wichtigste und betonteste Methode wird, da sie die Freiheit und Selbständigkeit der Persönlichkeit zur Voraussetzung und zugleich zum Ziel hat, die Selbsterziehung sein.

Bei dem Problem Sozialismus, Arbeit und Erziehung handelt es sich nicht um ein neues Fach, eine neue Methode, eine neue Besetzung der Lehrämter, eine neue Schule – es handelt sich um die Revolutionierung der ganzen Erziehung. Diese Revolutionierung ist grundsätzliche und bedingungslose Abkehr von Schule, Lehrer, Lernen, Buch, Wissen. Und grundsätzliches, bedingungsloses Bekenntnis zu Produktionsbetrieb, Werkstätte, Arbeit, schöpferischem Erleben, Können, Selbständigsein, Qualität.

Neue Erziehung im Rahmen neuer Kultur wird neue, bessere Sicherung im Interesse der neuen Gesellschaft sein.




Leitsätze für den Kursus (4 Abende):

I. Gesellschaft und Erziehung

Die tiefsten menschlichen Instinkte sind auf Sicherung gerichtet (Erhaltung von Individuum und Rasse durch Ernährung, Existenz, Fürsorge, Fortpflanzung).

Gemeinschaft, Sprache, Vernunft, Arbeit, Wirtschaft, Ehe, Moral, Wissenschaft, Kunst, Religion sind Sicherungsmittel gegen die Nöte und Gefahren des Lebens.

Als Kultur bezeichnen wir das ganze System menschlicher Sicherung. Aufgabe und Ziel der Kultur ist die Bewältigung der Dinge, die Überwindung des Organischen durch das Überorganische, die Ablösung der Tierheit durch die Menschheit.

Glück ist die Lustempfindung bei gelungener Sicherung.

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Die primitive Gemeinschaft wurde gespalten mit dem Aufkommen von Privateigentum und Privatwirtschaft.

Gesellschaftsklassen. Klassenkultur.

Die herrschende Klasse reißt den Kulturapparat an sich und stellt ihn in ihren ausschließlichen Dienst. (Erwachsenen-Kultur, maskuline Kultur).

Mittel der Kulturüberlieferung ist die Erziehung. Sinn und Aufgabe der Erziehung: Die neue Generation im Interesse erhöhter Sicherung für ihre kulturelle Verpflichtung tauglich zu machen. (Nietzsche: zweite Zeugung-)

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Alle Erziehung ist sozial-ökonomisch bedingt. Inhalt, Form, Ziel ergeben sich aus dem ökonomischen System, der sozialen Struktur, dem Komplex ideologischer Lebensformen jeder Epoche.

Soziale Position der Herrenklasse: Herrschaft, Leitung, Genuß, Vollwertigkeit; der Sklavenklasse: Arbeit, Knechtschaft, Entbehrung, Minderwertigkeit.

Kulturüberlieferung und Kulturanteil mittels Erziehung einzig nach Maßgabe des Interesses der Herrenklasse (Todesstrafe, wer Sklaven unterrichtet).

Erziehungsideal: Bei Binnenstaaten mit herrschender Großgrundbesitzerkaste das konservative Junkertum (absolutes Königtum) – orientierendes Prinzip: Gebundenheit an Grund und Boden, Stand, Überlieferung, Autorität); alles hat der Mensch nur zu Lehen (Leben, Gut, Kirchensegen, Gottesgnade). „Der dümmste Bauer ist der beste.“ Katholizismus. – Bei Seestaaten mit Handel und Industrie das kaufmännisch gewandte Bürgertum (Städterepubliken) – orientierendes Prinzip: Freiheit (in Handel, Warenverschleiß, Geldverkehr, Ausbeutung. Gewinn. „Stadtluft macht frei“, „Bildung macht frei.“ Aufkommen von Stadtschulen; Zünfte, Handwerkerbildung, Protestantismus (Calvinismus für Industrie- und Seestaat, Luthertum für grundbesitzenden Binnenstaat), Reformation bringt Religionsunterricht in die Schule (Luthers Katechismus).

Vertiefung der Klassengegensätze bewirkt Scheidung in Kopf- und Handarbeit, intellektuelle und manuelle Tätigkeit. Im Zusammenhange damit: Höhere Schulen (Universität), Sprachen, Philosophie, Rechts- und Staatskunde für die Oberschicht („Gelehrte Sekretäre“, ziviles Kadettenhaus); kaufmännische Kenntnisse, Realien, Warenkunde, Buchführung für den Bürger; Handarbeit, armselige Bildungselemente, Sklaventugenden für das Proletariat.

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Der Logik des Privateigentums entspricht die Persönlichkeit (Verkörperung subjektiven Geltungs- und Wertbewußtseins); ihre Ideologie ist orientiert am Individualismus.

Philosophie des Aufklärungszeitalters.

Pädagogische Maxime: Vollendung des Menschen im Menschen um seiner selbst willen!

Die Entwicklung des Kapitalismus (Differenzierung der Arbeit, Massenproduktion, Kollektivarbeitsprozeß, Maschine) führt dahin, den Einzelnen als Fiktion zu erkennen und den Wert des Menschen im organischen Zusammenhange zu begreifen. (Der „vergesellschaftete“ Mensch.)

Die ökonomische Voraussetzung für soziale Pädagogik entwickelt sich.

Die Bourgeoisie will keine Gemeinschaft. (Dualismus = Zweiklassengesellschaft.)

Erziehung muß unmittelbarer Bestandteil des Klassenkampfes werden.


II. Familie und Erziehung

Als Großfamilie aus der Sippe hervorgegangen, ist die Familie im bürgerlichen Zeitalter die typische Kleinfamilie (Gemeinschaft von Erzeugern und Erzeugten). Zelle der auf Privatbesitz beruhenden Gesellschaft.

Ehedem Arbeits-, Wirtschafts-, Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (Bauer, Handwerker) „Kulturborn“. Von elementarer Wichtigkeit für Erhaltung der dem Klasseninteresse günstigsten Mentalität und Ideologie (Individualismus, Egoismus, „Mein Haus, meine Welt“).

Bürgerliche Familie: seßhaft, bodenständig, Eigenhaus, mindestens Eigenhaushalt, Tradition, Familiensinn („trautes Heim“), erste Erziehungsstätte (Mutterschule Pestalozzis). Noch heute in Ansehen, auch beim kleinbürgerlich eingestellten Proletariat.

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Der Kapitalismus hat die Arbeit aus dem Hause und der Werkstätte in die Fabrik verlegt.

Lohnarbeit des Vaters. Frauenarbeit. Kinderausbeutung.

Familie in voller Zersetzung. (Nur noch Wohn-, Essens- und Schlafensgemeinschaft.) Aller Kulturgehalt verlorengegangen.

Dazu Wohnungselend, Heimatlosigkeit, Existenzunsicherheit, zunehmende wirtschaftliche Notlage (Auswanderung, Selbstmorde).

Seelische Depression. Denkbar ungünstigste Disposition für erzieherische Aufgaben.

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Erziehungsgrundsätze und Erziehungsmethoden der Familie: Autorität (Befehl, Lob, Tadel, Lohn, Strafe, Prügel). Ziel: Das gehorsame Kind.

Parallele: Unternehmer – Arbeiter; Staat – Untertan; Behörde – Publikum; Offizier – Soldat; Eltern – Kind.

Mittel der Einschüchterung und Domestikation: Religion, Stock, Erwerbsarbeit.

Mittel der Befreiung und Selbständigkeit: Aufklärung, sexuelle Erziehung, Produktivität.

Spiel (Vorversuche zum Leben. Soziale Erziehung).

Neben- und Miterzieher: Straße, Nachbarn, Freunde, Kino, Buch, Schaufenster, Zeitung.

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Der Staat hat die Erziehungsaufgabe der Familie teilweise der Schule überwiesen.

Inkonsequenz: Eltern – Erhaltungspflicht ohne Verfügungsgewalt; Staat – Verfügungsgewalt ohne Versorgungsleistung.

Schule – Fabrik – Kaserne – Gefängnis.

Lehrer: Staatlich vorgebildet, angestellt, kontrolliert, besoldet, in fühlbarer materieller und geistiger Abhängigkeit gehalten.

Unterricht: Normal-Kind, Normal-Lehrplan, Normal-Stundenplan, Normal-Methode. (Militarismus als Vorbild, Unteroffiziere als Lehrer.)

Alle Reformen werden sabotiert.

Revolutionierung der Erziehung ist grundsätzliche Beseitigung von Schule, Lehrer, Unterricht, Buch, Wissensdrill.




III. Kind und Erziehung

Grundgefühl der menschlichen Psyche ist das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit gegenüber Natur, Leben, Erwachsenen, Kultur. (Messen, vergleichen, einschätzen; Streben nach seelischer Gleichgewichtslage. Ziel: Vollwertigkeit, Sicherheit.)

Das Kind beginnt den Kampf gegen die ihm feindliche Umwelt in der ersten Stunde seines Lebens (Leitlinien, Bereitschaften, typische Verhaltungsweisen, Charakter).

Organminderwertigkeit und ungünstige soziale Konstitution als dauernde Antriebe der seelischen Entwicklung.

Klassenpsyche.

Beziehungslosigkeit zu Familie, Heimat, Natur, Gemeinschaft, können das Unsicherheitsgefühl steigern.

Vor allem aber der Druck der Autorität in Haus- und Schulerziehung. (Schimpfworte, Verachtung und Zurücksetzung, Prügel.)

Beim proletarischen Kind sind die das Minderwertigkeitsgefühl weckenden, auslösenden und fördernden Ursachen gehäuft.

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Das Kind reagiert auf sein Minderwertigkeitsgefühl mit einer Abwehrhaltung. („Ich will ein Mann sein!“ = „Männlicher Protest“.) Ziel: Macht zu gewinnen, um das Leben erträglicher zu machen.

Direkte Aggression: Das trotzige Kind. (Kampf gegen Autorität mit männlichen Mitteln.) Aktivität = Geltendmachung der Autorität. Abwehr gegen das als Vergewaltigungsmaschinerie aufgefaßte Leben. Trotz, Auflehnung, Revolte sind gemeinschaftsstörende, gemeinschaftsfeindliche Haltungen.

Indirekte Aggression: Das gehorsame Kind (Kampf gegen Autorität mit weiblichen Mitteln) Verstellung, Lüge, List, Unterwürfigkeit, Schmeichelei = indirekte Geltendmachung der Autorität. Auch diese Haltung ist, weil sie die schöpferische Initiative ertötet, unsozial, gemeinschaftsfeindlich.

Beim proletarischen Kind entsprechen Gehorsam und Trotz dem Verhalten des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie in den ersten Phasen der kapitalistischen Entwicklung.

Wird die Abwehrhaltung infolge der Entwicklung eine Massenerscheinung, drängen die individuellen Akte des Protestes zur Vereinigung (Straßenjungen, Banden, Organisation).

Der Kampf des Kindes gegen die Ursachen seiner Minderwertigkeit wird geführt:

a) negativ (vereinzelt):

Verwahrlosung (Auskneifen, Vagabundage, Schulschwänzungen, Angst vor Mißerfolg).

Prostitution (Angst vor der weiblichen Rolle, Auflehnung gegen Moralgesetze, .Kampf gegen die Vorrechtsstellung der Männer, Entwer-timgsdrang gegenüber der geltenden Sexualordnung).

Kriminalität (Rechtsbruch als Geltungsmittel – Folge: Schutz der Gesellschaft vor ihren eigenen Produkten).

Sexualperversität (Der Knabe flieht das Weib, das Mädchen sein Weiberschicksal. Ersatzbefriedigung: Onanie, Homosexualität, – asozial).

Neurose (Krankheit als Ausfluchtsmittel).

Selbstmord (Äußerste Konsequenz des im Kampf Unterliegenden, der keinen Weg zur Gemeinschaft findet).

b) Positiv (verbunden):

Zusammenschluß zu Organisationen (Kinderfreunde, Jugendverbände, Kindergruppen).

Anbahnung neuer Erziehung (Erziehung muß unmittelbarer Bestandteil des Klassenkampfes werden).




IV. Proletariat und Erziehung

Utopischer Sozialismus (Überschätzung der sozialen Macht der Erziehung. Rousseau. Fourier. Owen).

Marxistischer Sozialismus (Erziehung als Faktor sozialer Gesetzmäßigkeit. Nicht Schöpferin, sondern Vollstreckerin gesellschaftlicher Entwicklung).

Marx („Kapital“) über Erziehung. Resolution der I. Internationale.

Parteien und Gewerkschaften (Programme!), kommen in ihrer Stellung zu Schule und Erziehung nicht über kleinbürgerlichen Reformismus hinaus.

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Die Revolution der Erziehung bedeutet:

1. Erziehung durch gesellschaftliche Produktion (Arbeitserziehung und Arbeitsschule in der Phraseologie der Schulreformer: Knabenhandarbeit, Illustrier-Unterricht, Produktionsschule). Antagonismus von Schule und Arbeitsstätte.

Erst neuer Sinn und Inhalt der Arbeit (Beseitigung des Privateigentums und der Lohnarbeit) machen die Revolution der Erziehung im Geiste des Sozialismus möglich (Weg zeit Blonski, Die Arbeitsschule).

2. Erziehung durch neue Gemeinschaft (Gemeinschaftsideal in der Phraseologie autoritärer Verbände. – Ohne Oberwindung von Autorität und Zentralismus keine wahre Gemeinschaft!).

Arbeitsgemeinschaft – Lebensgemeinschaft – Erziehungsgemeinschaft.

Menschliche Vollwertigkeit nur in der Gemeinschaft gewährleistet.

Aufhebung der sozialen Klassen, der Überlegenheit des männlichen Geschlechts über das weibliche, der Erwachsenen übsr die Kinder.

Das Ende materieller und sozialer Abhängigkeit ist der Anfang neuer Kultur, neuer Ideologie, neuer seelischer Verfassung.

Erziehung wird Kameradschaft, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Selbsterziehung.

Nicht, daß die Menschen Engel werden – nur ihre Sicherung wird erwirkt mit vollkommeneren Mitteln und größerem Effekt.

Die Bewältigung der außermenschlichen Dinge (Widerstände, Nöte, Gefahren} erfährt einen gewaltigen Fortschritt. Allgemeine Lustempfindung bei gelungener Sicherung: höheres soziales Glück.

Sozialismus: Die Vermehrung sozialer Energien und Steigerung gesellschaftlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit (ethisch), die Ablösung des Machtwillens und der Autorität durch Gemeinschaftsbewußtsein und Gemeinschaftsleben (psychologisch), die größere Freiheit und Selbständigkeit der Menschen gegenüber ihren sozialökonomischen Existenzbedingungen (soziologisch), die höhere Tauglichkeit der Menschen für die Aufgaben der gesellschaftlichen Entwicklung (pädagogisch).




Literatur

Otto Rühle, Grundfragen der Erziehung. (Verlag Am andern Ufer, Dresden-Buchholz-Fr.)

Max Adler, Neue Menschen. (Verlag der Laubschen Buchhandlung, Berlin.)

S. Kawerau, Soziologische Pädagogik. (Verlag Quelle & Meyer, Leipzig.)

P.P. Blonskij, Die Arbeiterschule. (Verlag Die neue Gesellschaft, Berlin-Fichtenau.)

Otto Rühle, Das kommunistische Schulprogramm. (Verlag Die Aktion, Berlin.)

Otto Rühle, Umgang mit Kindern. (Verlag Am andern Ufer, Dresden-Buchholz.)


28.12.2008