Otto Rühle

Zur Parteispaltung

(12. Januar 1916)


Vorwärts Nr.11 vom 12. Januar 1916.
Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd 1, 1914-1917, Dietz 1958, S. 301ff.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Ich will kein Wort verlieren über den Wert der Parteieinheit für den Kampf gegen die feindlichen Gewalten des Proletariats. Kein Wort auch darüber, wie unverantwortlich, ja gewissenlos es wäre, diese Geschlossenheit frivol gefähr­den oder zerstören zu wollen. Das sind für jeden Parteigenossen, welchem Lager er angehöre, selbstverständliche Erkenntnisse und Urteile.

Aber über Parteispaltung reden ist noch nicht Parteispaltung treiben. Mag man eine Diskussion über Parteispaltung als verfrüht und verfehlt einsehen, weil sie die Propaganda für Mehrheits- oder Minderheitsauffassung erschwert, mag man sie für klärend und nützlich halten, weil das Aussprechen dessen, was ist, ein elementares Gebot ehrlicher Politik bedeutet und letzten Endes sich doch als das taktisch Richtige erweist – ich erachte den Zeitpunkt für gekommen, wo das Thema Parteispaltung auf die Tagesordnung der Parteidiskussion ge­setzt werden muß.

Seit langem schon ist die Parteispaltung vorbereitet. Meinungsverschieden­heiten von rechts und links haben tiefe Gegensätze geschaffen und die Partei in zwei Lager geschieden. Wer nach dem Dresdener Parteitage [1] geglaubt hatte, die revisionistisch-opportunistische Strömung sei abgetan, sah sich getäuscht. Unverkennbar trieb mit jedem Jahre mehr die Gesamtpartei, ohne im allgemei­nen die radikale Theorie und Phraseologie aufzugeben, der reformistischen Praxis zu. Der entschiedenen Linken wurde es, wie die letzten Parteitage be­weisen, immer schwerer, ihre Position zu behaupten. In der Reichstagsfraktion entschied häufig genug die An- oder Abwesenheit eines Genossen, ob Be­schlüsse im grundsätzlichen oder opportunistischen Sinne gefaßt wurden. Ein unerquicklicher und auf die Dauer unhaltbarer Zustand. Der Krieg brachte die Krönung und den Sieg der opportunistischen Politik. Was normalerweise vielleicht noch Jahre zur Reife erfordert hätte, vollendete sich mit einem Schlage. Die erdrückende Fraktionsmehrheit, gestützt und gedeckt vom Parteivorstand, dem Parteiausschuß, der Pressekonferenz [2], der Generalkommission und den Zentralvorständen, setzte eine Kriegspolitik durch, die sich praktisch in nichts unterschied von der Politik der bürgerlichen Parteien und der Regierung. An­erkennung des Burgfriedens, Bewilligung der Kriegskredite, Bekenntnis zur nationalen Solidarität, Preisgabe der grundsätzlichen Budgetverweigerung, Neuorientierung der Taktik nach opportunistischen Gesichtspunkten – das sind die charakteristischen Momente der neuen Ära in der Partei.

Damit hatte die Sozialdemokratie aufgehört zu sein, was sie vor dem Kriege war. Eine neue Partei war offiziell an ihre Stelle getreten. Kolb, der offenste und konsequenteste unter den Opportunisten, gibt das rückhaltlos zu. Die oben­aufgekommene Richtung in der Partei, erklärt er, vertritt ein ganz neues System. Der Umschwung ist ein völliger Bruch mit der Vergangenheit. Nur die Minder­heit um Liebknecht hält noch die Grundsätze aufrecht, die vor dem 4. August 1914 in der Partei geltend waren.

Es stehen sich also gegenwärtig innerhalb der Partei zwei Parteien gegen­über. Die alte (Minderheit) mit den alten Parteigrundsätzen mit dem Ziele der Überwindung des Kapitalismus, die neue (Mehrheit) mit dem opportunisti­schen Prinzip des Reformismus und der Anpassung an den Kapitalismus. Die konsequente Rechte erblickt in der Auffassung der Linken unfruchtbare Nega­tion und hoffnungslose Phantasterei, die konsequente Linke verurteilt die Ab­kehr der Rechten als Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus und Ausliefe­rung des Proletariats an seine Feinde. Zwischen beiden Auffassungen und La­gern ist keine Verständigung und Überbrückung mehr möglich. Wozu diese Tatsache vertuschen, wozu die Augen vor ihr verschließen?

Nach dem Willen der Mehrheit soll die Kriegspolitik der Fraktion zur dauernd geltenden Parteipolitik werden. Wir haben die Rede Heines in Stutt­gart und Davids Proklamation der Blockpolitik vernommen, wir wissen, daß die Stellung der Sozialdemokratie zur Monarchie, zum Militarismus, zur Kolo­nial- und Weltpolitik einer grundsätzlichen Revision unterzogen werden soll. Kolb erklärt: entweder befolgt die Sozialdemokratie künftig eine konsequent reformistische Politik, oder sie ist auf lange Zeit hinaus bankrott.

Die Minderheit ist entgegengesetzter Auffassung. Sie hält die gegenwärtig von der Mehrheit verfolgte und für die Zukunft propagierte Politik für unver­träglich mit den Interessen der Arbeiterklasse, ja geradezu für ein Unglück und für den Bankrott des Sozialismus. Ihrer Überzeugung nach führt zur Befreiung des Proletariats einzig der Weg, der bis zum 4. August 1914 beschritten worden ist. Deshalb erstrebt sie mit allen Kräften die Rückkehr zur „alten, bewährten, sieggekrönten Taktik“.

Was soll nun werden?

Nehmen wir an, die Mehrheit behauptet sich noch während der ganzen Dauer des Krieges. Soll sich dann die Minderheit andauernd unterordnen und alles über sich ergehen lassen, unbekümmert ob dabei Grundsätze und feierlich beschworene Beschlüsse über Bord geworfen werden und die Interessen der Ar­beiterklasse schwersten Schaden erleiden?

Die Unterordnung unter den Mehrheitswillen, entsprechend demokratischer Gepflogenheit, war ratsam und unbedenklich, solange mit einer kurzen Kriegs­dauer und der baldigen Abhaltung des Parteitags zu rechnen war. Daran ist, wie die Dinge jetzt liegen, nicht mehr zu denken. Große politische Ereignisse werden sich vollziehen, Entscheidungen werden erfolgen, die für das Proleta­riat von allergrößter Bedeutung sind. Soll, ja darf sich die Minderheit ausschal­ten lassen, um ruhig und tatenlos zuzusehen, wie die Mehrheitspolitik – ihrer Überzeugung nach – schlimmstes Unheil anrichtet? Oder hat sie nicht vielmehr die Pflicht, ohne Rücksicht auf die formalen Gebote der Disziplin, einzugreifen und aktive Politik in ihrem Sinne zu machen? Diese Frage stellen heißt sie be­jahen. Mit ähnlichen Gedankengängen hat Kautsky deshalb eine Sonderaktion der Minderheit begründet und gerechtfertigt; ein Teil der Minderheit hat die Argumente und Schlußfolgerungen in parlamentarische Handlungen umgesetzt. Diese Sonderaktion sehe ich für den ersten Schritt der Fraktionsspaltung und – konsequent weitergedacht – auch der Parteispaltung an.

Gesetzt den Fall, der nächste Parteitag gäbe der Mehrheit recht. Was wird dann die Minderheit tun? Wird sie, nachdem sie bereits im Parlament ihren eigenen Weg zu gehen und Politik auf eigene Faust zu treiben begonnen hat, sich dann dem Mehrheitswirken unterwerfen? Wird sie ihre Überzeugung auf­stecken, ihre Grundsätze begraben, um den meinungslosen Troß der Opportu­nisten zu bilden? Davon kann absolut keine Rede sein. Also bleibt nur die Ab­spaltung.

Oder aber angenommen, die Minderheit wird während des Krieges noch, spätestens nach dem Kriege zur Mehrheit. Was wird dann die Rechte tun? Wird sie sich zerstreuen und von der radikalen Mehrheit aufsaugen lassen? Wird sie sich den Phantasten, Dogmatikern, Kladderadatschpolitikem löblich unterwerfen, um in Zukunft radikale Politik zu machen? Ausgeschlossen. Der Opportunismus wird keineswegs verschwinden, denn die Bedingungen, die seine Entstehung und Entwicklung begünstigten, werden fortbestehen, vielleicht gar besser werden; der Opportunismus ist eben doch keine bloße Erfindung oder Irrung von Menschen, sondern der – wenn auch schiefe und einseitig betonte – Ausdruck bestimmter ökonomischer und sozialer Voraussetzungen. Bei der Kon­sequenz, mit der bisher die opportunistische Richtung ihre Ziele verfolgte, ist außer Zweifel, daß sie, kann sie sich in der Fraktion und Partei nicht mehr be­haupten, resolut die Abspaltung vollziehen wird. Das Auftreten der Legien, David, Heine usw. bestätigt dies.

Wie aber nun, wenn weder im einen noch im anderen Falle die jeweilige Minderheit sich zur freiwilligen Abspaltung entschließt? Wenn jede – so oder so – erklärt: Einheit der Partei um jeden Preis!?

Die Linke, zum Siege gelangt, kann um ihrer selbst willen den Opportunis­mus nicht gewähren lassen, kann nicht zugeben, daß die Opportunisten als Ver­trauensleute in den Ämtern und Redaktionen, Mandaten und einflußreichen Stellungen verbleiben, wenn anders sie nicht gewärtigen will, daß über kurz oder lang der Opportunismus sie wieder überflügelt und beim nächsten Kriege einen neuen Zusammenbruch herbeiführt. Also muß sie die Minderheit, die sich nicht politisch unterwirft, aus der Partei ausschließen. Mit dem Erfolg, daß diese sich als neue Partei konstituiert. Also Spaltung.

Umgekehrt wird die Rechte als Siegerin in der Partei keine Minute zögern, sich von der unbequemen Opposition der Radikalen zu befreien. Die Versuche in der Fraktion in dieser Richtung, die Anträge Legien-, Giebel usw. gegen Liebknecht zeigen zur Genüge, was zu gewärtigen ist. Die Ausgeschlossenen würden sich natürlich sofort wieder zu einer Partei zusammenfinden. Also Spaltung.

Man mag die Dinge drehen und betrachten wie man will, es bleibt nur die Spaltung übrig, und ich halte dies für das konsequenteste, überhaupt das einzig mögliche Verfahren zur Beendigung des Konfliktes in der Partei.

Es könnte uns kein größeres Unglück passieren, als wenn nach Monaten und Jahren leidenschaftlichster Parteikämpfe, nach einer beispiellosen Zerrüttung des ganzen Parteilebens, nach tausendfachen persönlichen Herabsetzungen, Verdächtigungen, Verketzerungen und Verunglimpfungen ein Mittel gefunden werden sollte, um all die widerstrebenden Elemente, all die heterogenen Ten­denzen wieder unter einen Hut zu bringen. Ich wenigstens würde mich für die­sen Einheitsparteibrei, diesen form- und wesenlosen Sumpf entschieden bedan­ken, denn er wäre nicht nur ein Sumpf der Grundsatzlosigkeit, sondern auch der Charakterlosigkeit. Für den Kampf wäre damit absolut nichts gewonnen, wohl aber alles verloren. Wie sollte ein solches Monstrum von Partei vor dem Feinde bestehen können. Also keine Rede davon!

Gewiß ist es schwer, sich mit dem Gedanken der Parteispaltung vertraut zu machen. Es ist ein Kampf, der große Opfer fordert. Aber schließlich ist die Partei doch nur das Werkzeug zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Er­kämpfung der Demokratie. Hauptsache ist und bleibt der Sozialismus.

Ich weiß mich frei von jeder Schuld, die Spaltung der Partei je frivol gewollt oder gefördert zu haben, deshalb berühren mich all die Anwürfe und Schmähungen nicht, die gegen mich geschleudert werden. Aber ich werde befreit aufatmen, wenn die Spaltung vollzogen ist. Denn nur dann ist, meiner Überzeugung nach, wieder ein klarer, entschlossener Kampf für die Ziele des Sozialismus möglich.

Anmerkungen der Herausgeber

1. Der Dresdner Parteitag der SPD 1903 verurteilte entschieden die revisionistischen Bestrebungen und legte ein Bekenntnis zum revolutionären Klassenkampf ab. Da der Par­teitag in erster Linie die Taktik der Revisionisten zurückwies, ohne die Gefahr der ideolo­gischen Zersetzung der Partei klar zu erkennen, gelang es den Revisionisten, in den folgen­den Jahren bestimmenden Einfluß vor allem auf den verbürokratisierenden Parteiapparat zu erlangen.

2. Vermutlich sind die Konferenzen der Redakteure der Parteipresse gemeint, die wahrend des Krieges dreimal stattfanden, und zwar am 28. September 1914, 15. Mai 1915 und 19. August 1916. Die Konferenz vom September 1914 stimmte dem Vorschlag des Parteivor­standes über die Haltung der Parteipresse im Kriege zu.



Zuletzt aktualisiert am 28.12.2008