David Rjazanov

Geschichtsschreibung
ohne Gänsefüßchen

(1914)


David Rjazanov, Geschichtsschreibung ohne Gänsefüßchen, Die neue Zeit, 32 Jg., 1. Bd. (1914), H. 13, S. 473–479.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Mehring erklärt, er habe meine Artikel nicht gelesen. Jedenfalls macht er nicht den leisesten Versuch, meine Darlegungen zu entkräften oder zu widerlegen. Er begnügt sich damit, mich als „wüsten Klopffechter“, voll der „verwegensten Entstellungen und Verdrehungen“, zu beschimpfen und meine Motive zu verdächtigen.

Seine Beschimpfungen, deren Berechtigung er mit keinem Worte zu erweisen sucht und die nur von ohnmächtiger Wut zeugen, lassen mich ebenso kalt wie das Lob, das er mir schon früher in seinem Feuilleton und jetzt, gleichzeitig mit seinen Beschimpfungen, in einer anderen Zeitschrift spendet. Und wenn er mir unterschiebt, meine Motive seien „keine sachlichen“, so verweise ich ihn auf Lessings Vademekum für Herrn Pastor Lange, wo er eine klassische Antwort auf derartige polemische Anspielungen finden wird.

Wenn Mehring meint, bloß für die Ehrenrettung eines Schweitzer bestünden sachliche Motive, dagegen gar keine für die Ehrenrettung eines Marx, Engels, Liebknecht, Bebel, so fallt es mir schwer, für diese Unterscheidung sachliche Motive zu entdecken.

Aber mit alledem kann er seine historischen Ungereimtheiten ebenso wenig aus der Welt schaffen wie der selige Pastor Lange seine philologischen Schnitzer. Um sie vergessen zu machen, greift er zu einer bewährten polemischen Waffe, die der bürgerliche Journalismus gern anwendet im Vertrauen darauf, dass das Gedächtnis der Leser kurz ist, noch kürzer als die schillernden Artikel der von ihm bewunderten glänzenden Stilisten.

Klassisch formulierte diese polemische Regel der russische Dichter Turgenjeff in einem seiner Gedichte in Prosa. Es lautet:

„Wenn Sie einen Ihrer Feinde recht tüchtig ärgern und kränken wollen,“ sagte mir einst ein abgefeimter alter Fuchs, „dann werfen Sie ihm denselben Fehler oder dasselbe Laster vor, an dem Sie selber kranken. Stellen Sie sich entrüstet und tadeln Sie ihn!

Denn erstens bringt das andere auf den Gedanken, dass Sie jenes Laster nicht an sich hätten.

Zweitens kann Ihre Entrüstung sogar eine aufrichtige sein und Sie können für Ihr eigenes Gewissen aus diesen Vorwürfen profitieren.

Sind Sie zum Beispiel ein Renegat, so werfen Sie Ihrem Gegner vor, er sei ein Mensch ohne Überzeugung.

Sind Sie selbst eine Lakaienseele, dann sagen Sie ihm in vorwurfsvollem Ton, er sei ein Lakai ..., meinetwegen ein Lakai der Zivilisation, der Bildung oder des Sozialismus.“

„Um Ende darf mail ihn gar einen Lakaien des Antilakaientums schelten!“ bemerkte ich.

„In der Tat, selbst das können Sie wagen,“ entgegliete mein alter Fuchs.

Nach diesem Rezept verfährt jetzt Mehring, wenn er mir vorwirft, meine ganze Arbeit der Aufdeckung der Beziehungen zwischen Bakunin und unseren Vorkämpfern sei bloßer „Literatenkrakeel“.

Dabei hantiert er aber wie ein Novize in diesem Geschäft. Ein Edmund Burke, ein Henri Rochefort, ein Maximilian Harden – alle drei glänzende Stilisten und Meister in der Kunst, die Früchte der mühevollen Arbeit anderer an Artikeln zusammenzudrängen, – die noch kürzer sind als die Beine der Lüge – hätten nie einem ihrer Artikel den Titel gegeben: Ein neues Renegatentum von E. Burke, oder Eine neue Metamorphose von H. Rochefort, oder Ein neuer Purzelbaum von M. Harden. Mehring aber, der in dem ihm jetzt ganz fremd gewordenen Kostüm auf Schritt und Tritt stolpert, schreibt getrost: „Ein neuer Literatenkrakeel von Franz Mehring!“ Er ahnt nicht, dass jeder Leser, auch der ihm befreundete, bei diesem Titel kaum ein Lächeln unterdrücken kann. Denk dieser Titel stammt von demselben Mehring, dem alle Augenblicke die Anzettelung eines neuen Literatenkrakeels vorgeworfen wird, der selbst seine vierbändige Geschichte der deutschen Sozialdemokratie dazu ausnützt, alte Literatenkrakeels weiterzuspinnen; von demselben Mehring, der soeben in originellster Weise die ganze Tragödie der Haager Konferenz auf die für jeden Literaten so wichtige Frage reduziert, ob Bakunin einen Vorschuss abgearbeitet habe.

Es wäre für mich eine leichte Sache, den Spieß umzudrehen und mich in die Positur jenes Praktikers zu stellen, an den jetzt der scheu gewordene Mehring plötzlich appelliert, eines Praktikers, der notgedrungen Geschichte schreibt, weil er keine Geschichte machen kann und keine Geschichten machen will. Ich überlasse aber gern dies Gebiet dem Genossen Mehring und werde mich bemühen, ihm klarzumachen, warum die Frage Bakunin ebenso wie die Frage Schweitzer kein Literatenkrakeel, sondern eine „Parteifrage“ ist, nur mit dem Unterschied, dass die erste nicht nur eine deutsche, sondern eine internationale „Parteifrage“ ist, die in der letzten Zeit wieder eine der brennendsten der internationalen Arbeiterbewegung in allen Ländern außerhalb Deutschlands geworden ist.
 

II.

Dem offiziellen Tode der alten Internationale ging ein leidenschaftlicher Kampf zweier Richtungen voraus, die man gewöhnlich mit den Namen von Marx und Bakunin verbindet. Die Antwort auf die Frage, wer den Sieg davongetragen, schien die Geschichte schon längst gegeben zu haben. Die ungeheure Mehrheit des internationalen Proletariats hat sich für Marx ausgesprochen.

Es blieb den Anarchisten nichts übrig, als die Sieger der Skrupellosigkeit zu bezichtigen und zu behaupten, dass Bakunin und seine Freunde nur deshalb unterlagen, weil Marx ein Teufel, Bakunin aber ein Engel war. Wären Marx und Engels – man muss es ein für alle Mal betonen, dass einer von dem anderen in dieser Frage nicht zu trennen ist – ein wenig „anständiger“ und „ehrlicher“ gewesen, hätten sie ihre diktatorischen Gelüste etwas gezügelt, hätten sie nie zu verschiedenen Gemeinheiten oder, wie Mehring sagt, „unschönen“ Mitteln gegriffen, dann wäre es gewiss in der alten Internationale nie zu einer Spaltung gekommen.

Der typischste und gründlichste Vertreter dieser Richtung war bis vor kurzer Zeit NettIau, der eine monumentale Biographie Bakunins in drei großen Foliobänden verfasste. Es gibt keine noch so sinnlose Anklage gegen Marx, Engels, Liebknecht, Bebel, Lafargue, die er nicht sorgfältig registrierte. Dafür macht er aus Bakunin einen idealen Heros, die Lichtgestalt eines Siegfried, der in dem Kampf unterliegt, weil ihm die tückischen Mächte der Finsternis gegenüberstehen, wie der perfide Hagen. Dies Werk erschien bald nach- dem die Anarchisten in der neuen Internationale ihre endgültige Niederlage auf dem Londoner internationalen Kongress von 1896 erlitten hatten, die kleineren Niederlagen auf den Kongressen von Paris (1889), Brüssel (1891) und Zürich (1893) vorausgegangen waren. Die. Anarchisten haben in dem Nettlauschen Werke den entscheidenden Beweis dafür, dass der Bankrott des Bakunismus nicht so sehr in den objektiven Verhältnissen begründet war, als vielmehr durch die Intrigen der Marxschen „Clique“ herbeigeführt wurde. Waren doch die Führer in dem Kampf, der gegen sie in den neunziger Jahren. geführt wurde, dieselben Engels, Lafargue, Liebknecht, Bebel, die schon in den sechziger und siebziger Jahren im Kampfe gegen Bakunin vor keiner Gemeinheit zurückgeschreckt waren.

Das plötzliche Aufblühen des Syndikalismus in Frankreich und Italien hat der anarchistischen Geschichtschreibung im letzten Jahrzehnt einen neuen Anstoß gegeben. In der „Confédération générale du travail“ feierte man die Auferstehung der alten Bakuninschen Internationale. Man trieb jetzt den Bakuninismus noch weiter als früher. Man nachte aus ihm und seinen Mitkämpfern die Väter des revolutionären Syndikalismus, man gab und gibt noch alle seine Werke heraus, man feiert ihn als den größten Agitator und den größten Denker. Jetzt gingen und gehen noch gegen Marx los nicht nur die Anarchisten, sondern auch alle jungen „Theoretiker“ des revolutionären Syndikalismus, die die eigenartigen Zustände der französischen, italienischen und schweizerischen Sozialdemokratie ausnützten, um auch als Mitglieder der sozialdemokratischen Starteten nachzuweisen, dass die Niederlage des Bakunismus Marxschen Verleumdungen lind Fälschungen zuzuschreiben sei.

Das Haupt der neuen Richtung ist nicht der naive und weltfremde Nettlau, sondern ein altes Mitglied der Internationale, der eifrigste Schüler Bakunins, der zusammen mit diesem auf dein Haager Kongress aus der Internationale ausgeschlossene James Guillaume.

Nach dem Untergang der alten Internationale lebte er fünfundzwanzig Jahre lang zurückgezogen vom politischen Leben und widmete sich während dieser Zeit historischen Arbeiten, die ihm auch in der bürgerlichen Wissenschaft einen sehr geachteten Namen verschafften. Alter Pädagog und Philologe, gab er in sechs großen Foliobänden alle Dokumente heraus, die uns das Bild der mannigfaltigen Tätigkeit der großen französischen Revolution auf verschiedenen Gebieten des Erziehungswesens aufrollen.

In dem neuen Syndikalismus begrüßte er, der schon anfangs der siebziger Jahre mehr Verständnis für die Gewerkschaftsbewegung gezeigt hatte als Bakunin, die Auferstehung der toten Jurassischen Föderation. Mit einer Energie, die nur noch bei den Revolutionären der alten Schule zu finden ist, wirft er sich nun von neuem in den Kampf und wird einer der fleißigsten – und der einflussreichste – Mitarbeiter der syndikalistischen Blätter. Es ist ein Vergnügen zu lesen, wie er alle seine alten Feinde wieder attackiert und abtut. Die alten Feinde und diejenigen, die er für ihre neuen Freunde hält! Einmal fällt er über den toten Lafargue her, und gleich darauf macht er aus dem ahnungslosen Mehring ein Frikassee.

Man kann sich vorstellen, welche Freude alle Anarchisten und Syndikalisten erfasste, als sie erfuhren, Guillaume, der jetzt hochgeschätzte Historiker der französischen Revolution, habe die Absicht, eine große Geschichte der Internationale zu schreiben. Von allen Seiten bekam er Zeitschriften, Dokumente, Briefe. Nettlau stellte ihm das ungeheure, im Lause von beinahe zwanzig Jahren von ihm gesammelte Material zur Verfügung, und so gelang es dem schneidigsten Publizisten der alten Jurassischen Föderation, der schon einmal ihre Geschichte geschrieben, im Laufe von sechs Jahren ein vierbändiges Werk über die Internationale herzustellen (Paris 1904 bis 1910).

Es ist hier nicht der Platz, eine Kritik dieser. Arbeit zu schreiben. Wir haben es an einer anderen Stelle getan [1] und kommen noch auf sie zurück. Tatsache ist, dass dieses Werk nicht nur von unwissenden Leuten wie dem „Genossen“ Brupbacher, sondern auch von so gründlichen Historikern wie Georges Bourgin für das grundlegende Werk über die Internationale gehalten wird. Es beherrscht jetzt die gesamte bürgerliche Wissenschaft, soweit sie sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befasst. Und die stattliche Reihe der kleineren und größeren Werke, die sich in erster und letzter Linie auf Guillaumes Buch stützen, wächst jeden Tag, weil das Interesse für die Geschichte der Internationale – namentlich in den romanischen Ländern – mit der Verbreitung des Syndikalismus zunimmt.

Zwar ist das theoretische Niveau dieser Literatur nicht höher geworden. Schon der geschichtsphilosophische Standpunkt, der in ihr herrscht, macht jede streng wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes unmöglich. In den Vordergrund wird wie früher der Kampf zwischen Marx und Bakunin gestellt. Man bemüht sich – insbesondere in der letzten Zeit –, zu betonen, dass man gegen die ökonomischen Lehren von Marx eigentlich nichts einzuwenden hat. Umso heftiger aber wendet man sich gegen ihn als „Politiker“, als „Taktiker“, als Vertreter einer besonderen Organisationsform der Arbeiterbewegung, als Menschen. Kann man doch die Jugend am leichtesten dann gewinnen, wenn man ihr mit „Dokumenten in den Händen“ beweist, dass Marx und seine Freunde in ihrer ganzen politischen Tätigkeit nichts waren als gemeine Verleumder und gerissene Fälscher, die ihren Kampf stets mit „unschönen Mitteln“ führten. Die Jugend bleibt immer Jugend und kann sich nicht leicht mit der Weisheit eines Mehring versöhnen, der ein fester und überzeugter Marxist bleibt, auch wenn er sich noch so sehr von der sittlichen Minderwertigkeit eines Marx oder eines Engels überzeugt.

„Freilich,“ meint Mehring in seinem „Literatenkrakeel“, „wenn die Frage Bakunin nur eine Frage des Anstandes und der Ehrlichkeit ist, so könnte es umso bedenklicher für die Marxisten erscheinen, dass sie diese Frage nicht richtig zu beantworten wissen.“

Und Genosse Mehring bezeugt seine Fähigkeit, diese Frage richtig zu beantworten, dadurch, dass er einem Brupbacher alles aufs Wort glaubt Und kritiklos alle Anklagen gegen Marx, Engels, Liebknecht und Bebel übernimmt.

Man kann für Mehring zwei mildernde Umstände Vorbringen. Erstens oberflächliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand und totale Unkenntnis der einschlägigen Literatur, soweit sie nicht deutsch ist. Zweitens die Gewissensbisse, die ihn bedrücken, da er der einzige Vertreter der marxistischen Literatur ist, der Bakunin noch dreißig Jahre nach den Kämpfen der Internationale viel gehässiger behandelte, als Bakunins direkte Gegner inmitten des heißesten Kampfes getan hatten. Jäckh [2] ist darin nur Mehrings treuester Schüler, der sein Buch „unter tätiger Mitwirkung“ seines Meisters schrieb.

Dieser selbst erklärt heute noch:

Dass Bakunin ein Agent der russischen Regierung gewesen sei, ist oft behauptet, aber nie bewiesen worden, und die Gründe, die dafür zu sprechen scheinen, lassen sich sehr wohl aus Bakunins panslawistischen Neigungen erklären, wegen deren er schon in den Revolutionsjahren von seinen alten Freunden Marx und Engels bekämpft worden war ... Aber so viel ist auch richtig, dass persönlicher Ehrgeiz und persönliche Eifersucht auf Marx mitspielten bei Bakunins Versuchen, die Herrschaft über die Internationale zu gewinnen, zu diesem Zwecke ihre Organisation zu zerrütten und die europäische Arbeiterbewegung auf eine längst überwundene Stufe ihrer historischen Entwicklung zurückzuwerfen. [3]
 

III.

So pendelt Mehring, stets auf „irgendwelche“ Quellen gestützt, hin und her zwischen dem „ehrgeizigen“ und „eifersüchtigen“ Bakunin und dem ebenso „ehrgeizigen“ und „eifersüchtigen“ Marx, wie ihn uns „Genosse“ Brupbacher vorführt.

Selbst jetzt noch bleibt ihm der eigentliche Streitpunkt zwischen Marx und Bakunin vollständig unbekannt, der in praktischer Beziehung viel wichtiger war als der rein prinzipielle Unterschied, und der erklärt, warum Marx, der – im Rahmen der Internationale – so ausnehmend tolerant gegen alle andersdenkenden Elemente war, notgedrungen gegen Bakunin den Kampf bis aufs äußerste führen musste.

Über diesen Streitpunkt wird sich Mehring am besten bei seinem alten Lehrer Friedrich Engels Klarheit holen, den er jetzt leichten Herzens in „einer Frage des Anstandes und der Ehrlichkeit“ vollständig preisgibt. Den Anlass gab Heritier, der sich nun die schweizerische Arbeiterbewegung wohlverdient gemacht hat. In einer Reihe von Artikeln in der Berliner Volkstribüne unternahm er den ersten Versuch, Bakunin zu rehabilitieren – auf Kosten von Marx, obwohl in viel anständigerer Weise als der „Genosse“ Brupbacher. Engels antwortete etwas schroff – gewiss aus „persönlichen“ Motiven und schloss mit folgenden Worten:

Genug. Der Verfasser ist oder tut wie ein unschuldiges Kindlein, das dem armen verleumdeten anarchistischen Schafslämmchen alles aufs Wort glaubt. Von dem, was diese Herren nicht zu sagen für gut fanden, weiß unser Gewährsmann kein Wort, also auch Nichts davon, was dem ganzen Streit zum Hintergrund diente. Hinter der öffentlichen, von Bakunin gestifteten „Alliance der Sozialdemokratie“ steckte eine geheime Alliance mit dem Zweck, den Anarchisten die Herrschaft über die gesamte Internationale in die Hand zu spielen. Diese geheime Alliance war im Jura, in Italien und Spanien sehr ausgebreitet. Aus Spanien erhielt der Generalrat zuerst Beweise hierfür, und sodann aus Genf die Statuten und zahlreiche andere Aktenstücke dieses unschuldigen Komplottes gegen die europäische Arbeiterbewegung. Diese Aktenstücke waren es, über die der Haager Kongress 1872 zu Gericht saß, als er Bakunin und Guillaume aus der Internationale ausstieß. [4]

Und Genosse Mehring, dies „unschuldige marxistische Kindlein“, lallt jetzt den deutschen Genossen vor, dass Engels und Marx auf dem Haager Kongress Bakunin um seinen ehrlichen Namen deshalb zu bringen versuchten, weil er bei seinem Verleger mit einem Vorschuss von 300 Rubel hängen geblieben war. Und „das arme anarchistische Lämmchen, dein er aufs Wort glaubt“? „Man mag die Einzelheiten der unschönen Sache bei Brupbacher nachlesen!“

Ja, „die Frage Bakunin ist nur eine Frage des Anstandes und der Ehrlichkeit“. Fordern aber nicht Anstand und Ehrlichkeit – vor allem wissenschaftliche Ehrlichkeit –, dass wir Marxisten nicht papageimäßig einfach alles nachschwätzen, was uns der erste Beste über unsere Lehrer vorredet, die Mehring schon in Hunderten von Artikeln gefeiert hat?

Das ist der Grund, der mich gezwungen hat, schon jetzt gegeit diese so „anständige“ und noch mehr „ehrliche“ Methode aufzutreten. Bisher war die neue Entwicklung der anarcho-syndikalistischen Geschichtsschreibung den deutschen Lesern mitbekamt geblieben. Jetzt ist die Sache ganz anders geworden. „Genosse“ Brupbacher hat unter der Flagge eines sozialdemokratischen Verlags, als Konterbande, dieselbe Ware nach Deutschland einzuschmuggeln versucht, die er schon jahrelang in verschiedenen – fremden und eigenen – anarchistischen und syndikalistischen Zeitschriften in kleinen Dosen verzapft. In der Neuen Zeit, die nicht nur ein lokales deutsches Blatt ist, sondern, das einzige wissenschaftliche Organ des ganzen internationalen Marxismus, hat Mehring den Versuch gemacht, aus einen nichts weniger als marxistischen „Literaten“ den berufensten Vertreter eines allerdings nicht „verknöcherten“, dafür aber in allen Knochen erweichten „Marxismus“ zu machen, der eine wichtige marxistische Mission zu erfüllen hat!

Es war mir unmöglich, alle Blüten dieser „exakter“ Geschichtsschreibung unter die Lupe Zu nehmen. Man kann so viel Lügen auf ein paar Seiten zusammenbringen, dass man sie kaum in sechs Bänden aufzudecken vermag.

Und hinter den Mehringschen, ohne Gänsefüßchen paradierenden, aber auf beiden Füßen hinkenden sechs Seiten seiner Besprechung Brupbachers marschieren, ohne dass er davon die blasseste Ahnung hätte Guillaume mit seinen schier zweitausend Seiten und Nettlau mit ebenso viel Seiten und, noch mehr Anmerkungen. Den Sack schlägt man, den Esel meint man!

Glaubt Genosse Mehring auch weiter, dass, der von ihm so glücklich aufgefischte „Genosse“ Brupbacher „im Wesentlichen seinen Beweis geführt“ hat, dann ist er verpflichtet, seine Scheu vor Gänsefüßchen und Zitaten abzulegen und den Lesern der Neuen Zeit zu beweisen, dass alle meine Gegenbeweise ebenso faul sind wie meines Erachtens die von, ihm aus Brupbacher wie immer ohne Gänsefüßchen abgeschriebenen Behauptungen. Nur gerade heraus mit den Quellen und den Gründen! Es sollen aber keine „irgendwelche“ Gründe oder nur Ihnen bekannte Quellen sein, Genosse Mehring! Geben Sie uns Namen, Daten, Tatsachen!

Genosse Mehring schließt seine Entgegnung mit einer Anekdote aus der deutschen Geschichte. Ich will ihm auch mit einer dienen.

Der Wohlstand der alten Ostseestädte beruhte Unter anderem auf dem Handel mit dein „kleinen gesalzenen Meerfisch“. Aber der Hering – er hat auch seine Launen –, der früher in endlosen Schwärmen in die Ostsee ein- drang, hat plötzlich aus „irgendwelchen Gründen“ – man sagte damals „aus nur ihm bekannten Gründen“ – vor dem Sund Kehrt gemacht. Er wedelte mit feinem fein stilisierten Schwänzchen nach links, nach rechts und, verschwand für immer. Seitdem ist es mit der Ostsee als Tischreservoir für Europa ist Ende, und die ganze Herrlichkeit des alten Bismarck ist dahin. Dem Hering ist es noch bis jetzt gelungen, die „nur ihm bekannten Gründe“ zu verheimlichen, und die historische Wissenschaft steht noch immer hilf- und ratlos da!

Hoffen wir, dass Genosse Mehring nicht so grausam sein wird und uns nicht ebenso seine Gründe vorenthält. Denn: Quod licet bovi, non licet Jovi [“What is permissible for Jupiter is not permissible for a cow”]. Oder, auf Deutsch: Was einem Hering gestattet ist, einem elenden Stümper, ziemt nicht dem literarischen Testamentsvollstrecker eines Marx und eines Engels, das ziemt keinem Mehring!
 

* * *

Anmerkungen

1. In der Artikelserie „Ein ‚exakter‘ Historiker der Internationale“, Fränkische Tagespost, September und Oktober 1913.

2. Gustav Jaeckh, Die Internationale. Eine Denkschrift zur vierzigjährigen Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation, Leipzig: Verlag der Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft, 1904.

3. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 8. Auflage, Stuttgart 1918, S. 62 ff.

4. Berliner Volkstribüne, 18. November 1882.


Zuletzt aktualisiert am 12. Januar 2025