N. Rjasanoff

Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware

VIII.

„Genosse“ Brupbacher, anständig wie er ist, „schämt“ sich, die „bürgerliche Zeitung“ zu nennen, von der die „Verleumdung“ Bakunins ihren Ausgang nahm, obwohl er gewiss keine Ahnung hat, dass auch sein wohlwollender Kritiker – man kann sagen: sein Entdecker [1] –, Genosse Franz Mehring, einer aus dieser Verbrecherbande war. So unwahrscheinlich diese Tatsache klingt, sie steht ebenso fest wie die Existenz jeder anderen, nach allen bisher geltenden Gesetzen der historischen Kritik beglaubigten Tatsache.

Ein anschauliches Bild des Treibens dieser Verbrecherbande – ebenso ruchlos wie die berüchtigte „Schwefelbande“ – gibt uns kein Geringerer als August Bebel. Es ist eine der wenigen Stellen, wo der Altmeister des Klassenkampfes als der humorvolle Plauderer hervortritt und aus dem reichen Schatze seiner persönlichen Erinnerungen ein köstliches Milieustück schildert:

Es war zum Beispiel in Berlin eine ziemlich starke Gruppe meist gutgestellter Bürger, die in Johann Jacoby ihr Ideal sahen und mit und sympathisierten. Sie gruppierten sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur der von ihm vorzüglich geleiteten Zukunft, eines großen demokratischen Tageblattes, das die vermögenden Jacobysten – wie wir die speziellen Anhänger Jacobys [2] kurz nannten – im Jahre 1867 gegründet hatten, aber wegen zu großer Opfer, die das Blatt erforderte, im Frühjahr 1871 eingehen lassen mussten.... Auch der damals noch sehr junge Franz Mehring, den ich durch Robert Schweichs! hatte kennen gelernt, gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin, so trafen wir in der Regel mit mehreren der Genannten, unter denen sich auch Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen. Nach stillschweigender Übereinkunft tranken alle einen billigen Moselwein, sogenannten Kutscher, den Schoppen zu 50 Pfennig. Nachher ging es nicht selten noch in ein Bierhaus. Meine Leistung im Trinken war allezeit eine minimale, aber Schweichel, Liebknecht, Guido Weiß, Mehring waren trinkfeste Mannen. Mehr als einmal gingen wir, doch stets aufrechten Hauptes, nach Hause, als schon die Sonne helleuchtend am Himmel stand. [3]

Unseres Wissens hat Genosse Mehring, der sehr viel an Bebel als Historiker zu bemängeln hat, diese Erzählung nie angezweifelt.

Übrigens wird er uns selbst noch einiges über die „ganze Richtung“ und über die Zukunft erzählen.

Jacoby hatte nichts hinter sich als eine Handvoll bürgerlicher Ideologen, die in der neugegründeten Zukunft von Guido Weiß ein Organ besahen, das ehrlichste und geistreichste, aber auch das am wenigsten gelesene Blatt der bürgerlichen Presse. [4]

War vielleicht Jacoby – auch ein jüdischer Riese – ebenso perfid Wie sein Rassengenosse Marx?

Wie bei jedem ganzen Manne alle Stärke und alle Schwäche aus demselben Prinzip fließt – schreibt Mehring –, so auch bei Jacoby. Er war die fleischgewordene Ethik Kants, die er noch reiner und strenger lebte, als sie der Meister selbst gelehrt hatte; Jacoby hätte nie mit Klauseln und Kniffen zu beweisen gesucht, dass ein Prediger Lehren, an die er nicht glaube, von. der Kanzel verbreiten dürfe. Hier liegt die wahre Konsequenz von Jacobys Leber, und ihr wird ... niemand bewundernde Anerkennung versagen. [5]

War vielleicht der wirkliche Redakteur der Zukunft, Guido Weiß, auch ein „kleiner deutscher Jude“ wie Borkheim, fähig, einen alten Revolutionär in gemeinster Weise zu verleumden?

Zwar hält ihn Genosse Mehring für einen besseren Politiker als Jacoby, er behauptet aber, dass er aus demselben ethischen Schrot und Korn war wie der „tugendhafte und weise“ preußische Demokrat.

Sonst sagen die Nekrologe der Tagespresse mit Recht, dass Weiß keinen persönlichen Feind gehabt habe. Es ist ein hohes und verdientes, aber für einen kämpfenden Politiker kein zweifelfreies Lob. [6]

Etwas schwerer steht der Fall mit dem „damals noch sehr jungen Franz Mehring“. Wir wissen nicht, wie groß sein Einfluss in der Zeitung war. Er selbst erzählt uns, dass er in die Redaktion als „junger Bursch“ eintrat. [7] Zieht man noch in Betracht, dass, wie er selbst angibt, der Artikel im Wandererim Sommer 1869 – „ziemlich das erste war, was er über Lassalle las“, kann man schwerlich annehmen, dass dieser junge Bursch – er war damals nur 23 Jahre alt – einen großen Einfluss in der Redaktion einer Zeitung ausüben konnte, die mehr Raum als jede andere bürgerliche Zeitung dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung widmete. Er konnte sich nur freuen, dass es ihm beschicken War, seine literarischen Sporen in der Schule eines so vortrefflichen Journalisten und Stilisten wie Guido Weiß zu verdienen, dessen „letzter Schüler“ er mit Recht genannt wird.

Wir sind daher geneigt anzunehmen, dass der damals noch sehr junge Franz Mehring keine Schuld an der ganzen Verleumdungskampagne der Zukunft gegen Bakunin trägt. Mitten in einer revolutionären Epoche, wo schon die Wellen der Arbeiterbewegung hochschlugen, wo Lassalle selbst jedem guterzogenen Fräulein, wenn auch nur aus Spielhagens Roman, bekannt war, war Mehring, wie er selbst angibt, damals noch so weltfremd und naiv, dass ziemlich das Erste, was er über diesen Lassalle las, ein dummer Artikel aus einem klerikalen Blatte war. Da wird selbst der in seinem malthusianischen Rigorismus unerbittliche Brupbacher einsehen, dass ein so grüner Junge keinen Protest erheben konnte, wenn seine Kollegen in der Redaktion den armen Bakunin verleumdeten.

Wir fürchten nur, dass Guillaume und Nettlau, die ungemein scharfsinnig werden, wenn sie Angaben von Marx und seinen Schülern prüfen [8], sagen werden, dass »es bei Mehring nur eine „faule Ausrede“ sei, dass er nicht den Mut habe, sein Verbrechen offen einzugestehen. Mitgefangen, mitgehangen!

Kehren wir aber zurück zu Jacoby. Zieht man in Betracht, dass er ein alter Freund Bakunins war, dass sie beide eine Reihe von gemeinsamen Freunden hatten, dass noch im April 1868 Bakunin einen ebenso schmeichelhaften Brief an Jacoby [9] wie im Dezember 1868 an Marx schrieb, so, wird die Haltung der Redaktion der Zukunft und Jacobys wirklich unbegreiflich.

Der Mann, dem Bakunin schreibt, dass er seit zwanzig Jahren „überzeugt, fest und unerschütterlich auf seinem Posten verbleibe“, dass ein Mann wie Jacoby „manchmal eine ganze Armee wert ist“, dieser Mann nimmt in seine Zeitung Artikel auf, in denen schwarz auf weiß gedruckt steht: Bakunin ist ein russischer Spitzel. Wie kann man diese unerhörte „moralische Verirrung“ eines Mannes erklären, von dem man mit viel mehr Recht als „Genosse,“ Brupbacher von Guillaume sagen kann, dass er ein „sonderbar reiner Mensch war, der sich in die Politik verirrt hat“?

Bakunin, der, wie uns Nettlau versichert, schon im Jahre 1864 genau wusste, dass es im Jahre 1869 zwischen ihm und Marx zum Kampfe kommen werde, der, wie uns „Genosse“ Brupbacher versichert, „künstlerisches oder instinktives Schauen besaß“ und „die Welt mit Augen, Händen und Gedanken auf einmal sah“, hat auch dieses psychologische Rätsel spielend gelöst.

Merke Dir, dass alle diese Feinde, dass alle diese Kläffer gegen uns Juden sind: Marx, Heß, Borkheim, Liebknecht, Jacoby, Weiß, Kohn, Utin und viele andere sind Juden. Alle gehören dieser geschäftigen, intriganten, ausbeuterischen, durch und durch bürgerlichen Nationalität an, teils durch Überlieferung, teils durch Instinkt.

Es ist ein wahres Glück, dass der „damals noch sehr junge Franz Mehring“ Bakunin unbekannt blieb. Sonst wäre er mit demselben Recht wie Liebknecht [10] in die Abteilung der „kleinen deutschen Juden“ gekommen. Und da noch viele andere an alles, was Bakunin „selbst angibt“, ebenso fest glauben wie Genosse Mehring, wäre ich gezwungen, ihn nicht nur von der Teilnahme an einer ruchlosen Bande, sondern auch von der Anklage, dass er ein „kleiner deutscher Jude“ war, gehörig „reinzuwaschen“. Mitgefangen, mitgehangen! Man kann nie ahnen, in welche Situationen ein ehrlicher Mann kommen kann, wenn er mit Leuten zu tun hat, die wie „Genosse“ Brupbacher noch bis jetzt Utin seinen jüdischen Ursprung nicht vergeben können!

Wann schrieb Bakunin diesen durch einen „wirklich staunenerregenden Stil“ ausgezeichneten Brief? Am 1. April 1870. Wir bitten höflichst Genossen Mehring, das Datum festzuhalten.

Der Leser kennt schon Bakunins Judenhass. Er sieht, dass es keine momentane Laune war, sondern eine feste Überzeugung. Es ist hier nicht der Ort, diese den europäischen Lesern wenig bekannte Eigentümlichkeit des großen russischen Internationalisten psychologisch zu erklären. Es genügt, zu sagen, dass er bei den Jurassiern „aus irgendwelchen Gründen“ ein. williges Ohr fand, dass er sich später noch übertroffen hat und im Jahre 1873 in einer langen Epistel an die Jurassier ein Pamphlet gegen die Juden vom Stapel ließ, das Krokodilstränen der Entrüstung bei allen Drumonts, Reichslügenverbändlern [11] und den russischen Schwarzhundertlern hervorrufen würde. [12]

Und dass Bakunin Schule gemacht hat, beweist am besten Guillaume [13] und die antisemitische Strömung in dem französischen Syndikalismus.

Aber so sehr wir auch unsererseits Bakunins „künstlerisches Schauen“ bewundern, wir sind doch gezwungen, eine andere Erklärung für die Haltung der Berliner Verbrecherbande zu suchen. Schon der Umstand, dass zu dieser Bande Arier gehörten, die das Kreuzverhör nicht nur des „Genossen“ Brupbacher, sondern auch des Kiewer Staatsanwaltes, des Herrn Wipper, leicht aushalten würden – Schweichel, Liebknecht, Bebel, den „damals noch ganz jungen Franz Mehring“ nicht mitgerechnet –, zwingt uns, Bakunins Hypothese oder, wie Genosse Mehring sagen würde, „blödes Geschwätz“ fallen zu lassen.

Vielleicht wird uns irgendeiner der Ohrenbläser helfen? Ist es nicht möglich, dass es Marx gewesen sei, der durch sein williges Werkzeug, Liebknecht, die von ihm inspirierten Artikel Borkheims der Redaktion der Zukunft aufzwang? In einer Stunde, wo auch diese „trinkfesten Mannen“ nicht aufrechten Hauptes nach Hause gingen?

Leider ist auch diese Hypothese nicht stich- und hiebfest, was dem Genossen Mehring als Redakteur des Marx-Engelsschen Briefwechsels gut bekannt sein dürfte. Da ich der „Marxpfafferei“ dringend verdächtig bin, schiebe ich Genossen Bernstein vor. In seiner Vorbemerkung zu dem vierten Bande des Briefwechsels sagt er:

Was Bakunin anbetrifft, so sehen wir noch im November 1868 Marx und Engels einen Versuch S. L. Borkheims abweisen, die Artikel von Engels aus der Neuen Rheinischen Zeitung über Bakunins Slawenmanifest von 1848 erneut gegen diesen auszuspielen. (Briefe vom 6. und 7. November 1868) [14] Erst mit dem Bekanntwerden von Bakunins Versuch, seine „Sozialdemokratische Alliance“ als Organisation in die Internationale hineinzupflanzen, ändert sich der Ton, in dem von ihm gesprochen wird, zum schlechteren ... Dass sie für diesen Zweck (das Lebensinteresse einer großen Bewegung gegen einen zersetzenden Eindringling wahrzunehmen) ihren ganzen Einfluss ins Spiel brachten, kann ihnen umso weniger zum Vorwurf gemacht werden, als wir sie stets bemüht sehen, den Kampf auf dem Boden des Statuts der Internationale zu führen. Das geht aus diesen Briefen mit unwiderleglicher Beweiskraft hervor. Der Kampf war von Hause aus durchaus grundsätzlicher Natur, erst durch Hineintragen anderer Momente, wie örtliche und nationale Rivalitäten, persönliche Zwischenträgerei und dergleichen, erhielt er verbitternden Charakter. Aber wie scharf auch Marx-Engels nunmehr über Bakunin sich äußerten, so haben sie ihm Wohl panslawistische Tendenzen vorgeworfen, wie sie auch ein schroffer Gegner des Zarismus haben konnte, aber zu Verdächtigungen seiner politischen Unabhängigkeit haben sie sich nicht verstiegen. Es muss dies deshalb hervorgehoben werden, weil man auf bakunistischer Seite Marx-Engels für Beschuldigungen verantwortlich gemacht hat, die S. L. Borkheim und wahrscheinlich auf Briefe von ihm W. Liebknecht damals verbreitet haben.

Für den noch keineswegs erledigten Streit über das Verhalten von Marx-Engels zu Bakunin und umgekehrt erbringt der Briefwechsel somit nicht nur aufklärendes, sondern auch sehr versöhnendes Material. Ziemlich alle, die darüber geschrieben haben, werden ihr Urteil berichtigen müssen.

Bernstein hat also auf Grund des Briefwechsels sein früheres Urteil nach „links“ revidiert. Dafür hat es Mehring fertig gebracht – unter dem faszinierenden Einfluß der „fleißigen und sorgfältigen Studie“ des „Genossen“ Brupbacher sein Urteil nach rechts oder nach rückwärts zu berichtigen. So gut Genosse Bernstein den Eindruck der Briefe Marx-Engels’ wiedergibt, irrt er sich doch auch diesmal in zwei wesentlichen Punkten.

Erstens ist es nicht richtig, dass Marx und Engels von 1864 bis 1869 Bakunin seine „panslawistischen Tendenzen“ vorgeworfen haben. Umgekehrt. Der ganze Streit zwischen Marx und dem tapferen, aber eigensinnigen Kanonier des badischen Ausstandes, dem wirklichen Haupt der berüchtigten „Schwefelbande“, dem „kleinen deutschen Juden“, Sigismund Ludwig Borkheim, dieser ganze Streit, der in dem Briefwechsel so stark hervortritt, erklärt sich eben daraus, dass Marx zu viel Vertrauen in Bakunin und zu wenig Vertrauen in Borkheim hatte.

Wir haben gesehen, wie der „leichtgläubige“ Marx von Bakunin entzückt war. War der letztere doch „einer der wenigen Leute, die Marx nach sechzehn Jahren nicht zurück-, sondern weiterentwickelt“ gefunden hatte. Freilich wurde Marxens Leichtgläubigkeit auf eine harte Probe gestellt. Er konnte es aber nicht leicht verstehen, wie man seine Ansichten so schnell und so oft wie ein Hemd wechseln kann. [15] War doch Bakunin politisch mit Herzen überworfen seit 1863, und dass Herzen ein „Panslawist“ war, unterlag für Marx keinem Zweifel. Er brauchte dazu nicht die russische Sprache zu studieren. Über Bakunin aber kannte Marx – außer den alten Sachen – nur noch seine Aussagen, und Bakunins literarische Tätigkeit in den Jahren 1862 bis 1863 blieb ihm damals gänzlich unbekannt. Dass Bakunin kein Freund der russischen Regierung sei, konnte er auch aus der italienischen Zeitschrift Libertà e Giustizia sehen, die einen Artikel gegen Mazzini enthielt und in dessen Verfasser er Bakunin vermutete. [16]

Es war im September 1867. In diese Zeit fällt die erste Begegnung zwischen dem „kleinen deutschen Juden“ und dem großen Russen. Borkheim war ebenso Delegierter auf dem Kongress der Freiheits- und Friedensliga zu Genf wie Bakunin und hielt eine geharnischte Rede gegen den Hort der europäischen Reaktion, gegen Russland.

Wir wollen nicht auf diese Rede eingehen. Es ist bekannt – aus Marxens Briefen an Kugelmann –, dass Marx von Borkheims Auftreten nicht sehr erbaut war. [17] Nach Borkheims Rückkehr nach London entspann sich zwischen beiden ein eifriger Streit, dessen deutliche Spuren wir in dem Briefwechsel Marx-Engels’ finden. So sonderbar es für alle Freunde Bakunins klingen mag, tatsächlich ist es Marx, der in seiner Voreingenommenheit für Bakunin so weit geht, dass er Borkheim nicht glauben will, sogar dort, wo der letztere unbedingt recht hat und sein Urteil auf besserer Kenntnis der Sache beruht.

Borkheim hatte damals einen großen Vorzug vor beiden Freunden. Hatte Engels Anfang der fünfziger Jahre Russisch zu lernen begonnen – offenbar mit der „perfiden“ Absicht, seine Kenntnisse während der nächsten fälligen Revolution gegen Bakunin auszunutzen –, so vernachlässigte er diese Studien später. Umgekehrt Borkheim. Schon während des Krimkriegs, als er verschiedene Sachen für die englische Armee besorgte, hatte er Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit der russischen Sprache, die er vielleicht seinem Freunde aus der „Schwefelbande“ verdankte [18], noch mehr zu vertiefen. Später warf er sich auf das theoretische Studium der russischen Sprache mit der ganzen Leidenschaft, die ihm eigen war und von der uns Marx in seinen Briefen an Engels ein rührendes Bild, entwirft.

Er hatte aber noch einen anderen Vorzug vor den beiden Freunden. In Genf begegnete er einem „Stockrussen“, von dem er erfuhr, dass es in Russland noch „Republikaner und Sozialisten“ gebe, die nicht nur gar nichts mit Herzen gemein hätten, sondern seine Gegner seien. Von diesem Stockrussen hörte.er zum ersten Mal die Namen eines Tschernyschewsky und eines Dobroljuboff und eines ihrer Schüler, Serno Solowiewitsch. Er fand nachher des letzteren Broschüre gegen Herzen und fasste gleich den Beschluss, sie ins Deutsche zu übersetzen. Diese Broschüre las er noch im Manuskript Marx vor. Trotz alledem wollte sein Freund nicht verstehen, warum Angriffe gegen das Slawophilentum eines Herzen auch gegen Bakunin gerichtet seien. Es half auch nichts, dass Borkheim Marx den Brief Sernos mitteilte, in dem dieser schrieb, Bakunin sagte, man solle Serno für die Broschüre mit Stöcken durchprügeln.

Es half Borkheim nichts. Im Jahre 1868 schrieb er in dem von Liebknecht redigierten Demokratischen Wochenblatt einige Artikel gegen Herzen. [19] Sie wirkten aber auf Marx, Engels und Becker so wenig, dass alle drei fortwährend gegen Borkheim „intrigierten“ und „Minen“ legten. Je mehr sich Borkheim versteifte, je mehr er Bakunins Panslawismus denunzierte, desto weniger Glauben fand er bei Marx und Engels, Vielleicht war es Misstrauen der „Literaten“ einem „Praktiker“ gegenüber, dem sie die Fähigkeit nicht zutrauten, Bakunins russische Sachen richtig aufzufassen und zu beurteilen. Ebenso wenig Vertrauen hatten sie in Serno, einen ihnen gänzlich unbekannten Russen, obwohl er in seinen Briefen an Borkheim entschieden gegen Bakunin austrat. Noch mehr. Marx und Engels waren nicht nur entschieden dagegen, dass Borkheim ihre alten Artikel gegen Bakunin ausnützte – so fest waren sie jetzt davon überzeugt, dass Bakunin kein Panslawist mehr sei und mit Herzen nichts gemein habe –, sondern sie taten alles, um das Erscheinen der Artikel gegen Bakunin zu verhindern. Daher keine Fortsetzung seiner Briefe im „Demokratischen Wochenblatt“, daher auch Beckers Weigerung, Borkheims Artikel im Vorboten zu veröffentlichen. [20] Es war aber nicht leicht, mit dem eigensinnigen Kanonier fertig zu werden. Versperrte man ihm das Demokratische Wochenblatt und den Vorboten, so fand er den Weg in die Zukunft. Dass er dort gute Beziehungen ohne Liebknecht hatte, ist dem Genossen Mehring besser bekannt als mir.

Bevor wir aber zu diesen Artikeln übergehen, müssen wir sagen, dass der „Praktiker“ in der Hauptsache gegen die „Literaten“ Marx-Engels recht hatte. Bon „Ohrenbläsereien“ ist hier keine Rede. Borkheims Quellen waren Bakunins Schriften in den Jahren 1862 bis 1863 und Sernos Angaben.

Ich weiß sehr gut, dass ich mit dieser Denunziation für immer die gute Reputation Sernos bei allen Freunden Bakunins vernichte. Man lese nur alles Gute, was über ihn von Guillaume und Nettlau geschrieben wurde. Es freut uns sehr, dass wir in diesem Punkte mit diesen Historikern einer Meinung sind. Serno war wirklich einer der talentvollsten und tüchtigsten Vertreter der jungen russischen Emigration, und selbst „Genosse“ Brupbacher hätte bei ihm keinen Tropfen jüdischen Bluts entdeckt. Trotzdem war er gegen Bakunin. Warum? Gewiss „aus irgendwelchen Gründen“.

In ihrer Voreingenommenheit für Bakunin haben Marx und Engels dem jungen Serno bitteres Unrecht getan. Erst später erfuhren sie, dass sie an einem der besten Vertreter der russischen revolutionären Intelligenz beinahe achtlos vorbeigegangen waren und dass der, wie Marx ironisch sagt, von Borkheim entdeckte Russe ihr Vertrauen vollauf verdiente. [21]

Borkheim hatte aber auch recht in einem anderen Punkte. Bakunin war, wenn man Will, revolutionärer Panslawist sticht nur in den Jahren 1848 bis 1849, sondern auch in den Jahren 1862 bis 1863. Hätte Marx nur eine blasse Ahnung davon gehabt, was Bakunin in diesen Jahren schrieb, wäre er etwas misstrauischer geworden und hätte nie solche Hoffnungen auf Bakunin gesetzt. Er hätte sich auch die spätere Enttäuschung mit ihrer natürlichen Reaktion erspart.

Wir müssen aber davor warnen, jetzt etwa in Serno den Anstifter des ganzen Unheils seit 1868 zu entdecken. Umgekehrt. Eben der Umstand, dass Serno Borkheims Informator war, muss Zweifel daran erwecken, dass Bork- Heim je die Anklage des Spitzeltums gegen Bakunin erhoben hat. Dagegen spricht auch Marx’ und Engels’ Haltung. Leider sucht Genosse Bernstein auch jetzt den Schuldigen in Marx’ Nähe, und nachdem ihm klar geworden ist, dass Marx und Engels ganz frei von diesem Verdacht sind, wälzt er die ganze Schuld auf Borkheim und Liebknecht ab.

„Es muss dies deshalb hervorgehoben werden,“ schreibt er weiter in seiner Vorbemerkung, „weil man auf bakunistischer Seite Marx-Engels für Beschuldigungen, dieser Art verantwortlich gemacht hat, die S. L. Borkheim und (wahrscheinlich auf Briefe von diesem hin) W. Liebknecht verbreitet haben.“

Nur eines kann für diese Hypothese sprechen. Aus dem Marx-Engels’ Briefwechsel folgt, dass Borkheim auch von Bakunin als Revolutionär keine so hohe Meinung hatte wie beide Freunde. Aber auch das hatte er von Serno erfahren, der ebenso unbeugsam wie sein großer Lehrer Tschernyschewsky sich nie mit den Methoden der politischen Tätigkeit und mit Bakunins Haltung in Sibirien versöhnen konnte. Später erfuhren beide Freunde, dass sie im Unrecht waren, und wieder tritt bei beiden eine zu starke Reaktion ein.

Es ist aber noch ein großer Unterschied zwischen dem Nachweis, dass Bakunin kein Muster revolutionärer Tugend war, zu der gemeinen Verleumdung, dass er ein Spitzel der russischen Regierung war. Hätten die Genossen Bernstein und Mehring den Briefwechsel Marx-Engels’ noch aufmerksamer gelesen, dann mussten sie sich sagen: Wie ist es möglich, dass bei dem großen Einfluss, den Marx und Engels auf Liebknecht ausübten, sie es nie vermochten, in einer Frage, die keine deutsche war und in der es sich um die Ehre eines alten Revolutionärs handelte, ihm dieselbe Auffassung beizubringen, die, wie es jetzt unerschütterlich feststeht, ihre innerste Überzeugung war? Und Genosse Mehring konnte sich noch eine andere Frage stellen: Bst es denkbar, dass Bakunins alte Freunde Johann Jacoby und Guido Weiß in ihrem Blatte eine solche infame Beschuldigung aufnahmen?

Stellt man die Frage so – und alle bisher geltenden Gesetze historischer Kritik zwingen uns, jede Tatsache nach allen Seiten zu prüfen –, beantwortet man sie hypothetisch: nein, es ist unwahrscheinlich – es handelt sich doch um Leute wie Marx, Engels, Liebknecht, Jacoby, Guido Weiß, Mehring nicht mitgerechnet –, dann bleibt noch eine Hypothese.

Ist nicht die ganze Geschichte nur aus den Fingern – sie mögen noch so rein und nobel sein – gesogen? Ist sie nicht das Produkt einer krankhaften Phantasie, das, ohne jemals bisher ernst geprüft zu sein, wie von einem Kranken dem anderen suggeriert, endlich sich auch ganz gesunden Leuten aufzwingt, eine Art von Massenpsychose, die aber nicht abergläubische Bauern und Kleinbürger des Mittelalters, sondern gebildete Leute ansteckt, die mit allen bisher geltenden Gesetzen der historischen Kritik wohlvertraut sind?/p>

Die Sache ist doch sehr einfach. Man braucht nur einen Gang in die Königliche Bibliothek oder in die Bibliothek des Parteiarchivs zu machen, wo der liebenswürdige Archivar uns ein Exemplar der Zukunft gleich zur Verfügung stellen wird.

Wir nehmen den großen Folioband aus dem Jahre 1869, suchen wie Nettlau mit Bakunins Hilfe alle infamen Artikel des „kleinen deutschen Juden“ auf, wir finden sie endlich, und so schwer es jetzt ist, sich durch diese stark veralteten, in dem von Marx so gut charakterisierten Barockstil geschriebenen Artikel durchzuarbeiten, lesen wir sie Zeile für Zeile.

Schon im ersten Briefe finden wir die Berufung auf Engels’ Artikel. Es ist also Marx, Engels, Becker nicht gelungen, den eigensinnigen Kanonier, der fest überzeugt war, dass Bakunin ein Panslawist sei, zu überreden. Wir lesen aber weiter und stoßen auf den achten Absatz, und siehe da: das Wort – zwar nicht Spitzel, sondern Spion – ist da.

Es ist entsetzlich. Die letzte Hoffnung ist hin. Wir fassen uns noch einmal und lesen klopfenden Herzens den ganzen Absatz Silbe für Silbe.

Wie man sieht, stellte Bakunin selbst sich als Verfechter des Panslawismus hin. Nur Nichtverständnis der Lage slawischer Dinge und Hass gegen jede Bewegung konnte und könnte ihn als russischen, von der Petersburger Regierung bezahlten „Spion“ bezeichnen.

Falsch Gebild und Wort
Verändern Sinn und Ort! [22]

Man reibt sich die Augen: Trug war alles, Lug und Schein.

Lesen wir aber weiter. Vielleicht „begeifert“ Borkheim die Haltung Bakunins während des Dresdener Aufstandes und behandelt ihn ebenso wie Born?

Darf man auch annehmen, dass in den gerichtlichen Untersuchungen die sächsischen Barrikadenbauer sich möglichst durch Vorschiebung des Russischen decken, so ist doch weder der physische noch der moralische Mut Bakunins anzuzweifeln.

Genosse Mehring wird jetzt verstehen, warum Marx „nicht widersprochen hat“, dass ihm so nahestehende Politiker wie Borkheim und Liebknecht die Beschuldigung – Bakunin sei ein feiles Werkzeug der russischen Regierung – „kolportierten“.

Er unterließ das nicht aus „irgendwelchen Gründen“, sondern aus einem sehr einfachen Grunde: er hatte Borkheims Artikel wirklich gelesen! [23]

Und das unterscheidet Marx nicht nur von Mehring, sondern auch von Nettlau, wie wir gleich sehen werden.

In allen drei Artikeln, die von Bakunin erwähnt sind, findet sich nichts als eine – mitunter sehr scharfe – Kritik des Panslawismus und der Illusionen, die dem russischen Gemeindebesitz eine wunderbare Heilkraft beimaßen. Borkheims Argumente sind nicht immer gelungen, dass er aber Marx gegenüber vollständig recht hatte, als er auf Grund aller Schriften Bakunins – auch nach dessen Rückkehr aus Sibirien – ihn als Panslawisten bezeichnete, kann nur der bestreiten, der von der ganzen Sache keine Ahnung hat und bereit ist, diese Qualifizierung als eine „freche Verleumdung“ zu betrachten.

Ich habe soeben gesagt: in allen drei Artikeln, die von Bakunin erwähnt sind. Dass er selbst aus ihnen etwas herauslesen kannte, was nicht drinstand, wird jetzt den Leser nicht wundern. Befremdend ist nur, wie Nettlau das herauszulesen vermochte. Die einzige Erklärung – man kann doch nicht annehmen, dass er Deutsch nicht oder nicht besser als Russisch lesen kann – ist die: sein Vertrauen in Bakunins Worte ist so stark, dass er es für überflüssig hielt, diese Artikel zu lesen.

Noch mehr. Er hat sie nie gesehen. Wie er selbst in der Anmerkung Nr. 1869 seines monumentalen Werkes sagt, kennt er „davon nur Auszüge im Lassalleanischen Sozialdemokrat, 4. August 1869, der diese Gemeinheiten in sehr anständiger Weise zurückweist“ [24]

Zum Glücke für Nettlau hat Bakunin die Nummern der Zukunft richtig angegeben. Aus dem Sozialdemokrat weiß er noch, dass die Artikel im Sommer erschienen sind. Und das ist alles, was der unzweifelhaft „beste deutsche Bakuninkenner“ uns über diese Artikel mitteilen kann und was ihm das Recht gibt, über Borkheim folgendes zu schreiben:

Die infamsten Beschuldigungen Bakunins leistete ein gewisser S. L. Borkheim, der wegen seiner Intimität mit den Kreisen um Marx nicht der sonst verdienten Vergessenheit überlassen werden kann ... Er setzte sein Treiben in der Berliner Zukunft, dem von I. Jacoby gegründeten Organ der preußischen Demokratie, fort. Nr. 167, 187, 189 von 1869. [25]

Man bewundere jetzt auch dieses „Muster ruhiger und sachlicher Darstellung“ und den „verdammenswerten Leichtsinn“, mit dem man auf Grund ungelesener Artikel ein so hartes Urteil fällt.

Wir „bornierten Marxisten“, wie uns Nettlau liebenswürdig nennt, sind auch gegenüber unseren Lehrern, die, wie Guillaume „selbst angibt“, ebenso unwissend waren wie wir, etwas misstrauischer gestimmt. Zwar hatten Wir alle drei Artikel in ihrem Nachlass, zwar steht auf dem dritten (in der Nr. 189): Schluss, es schien uns aber, dass auch der dritte Artikel plötzlich abgebrochen sei. Es kam uns ein Gedanke auf: vielleicht existiert noch ein Artikel, vielleicht hat nach dem Baseler Kongress Borkheim seine „infamsten Beschuldigungen“ doch irgendwo gedruckt. [26] Im Demokratischen Wochenblatt haben wir keine Spur gefunden. Wir wissen jetzt, dass Marx alles getan hat, um das Erscheinen dieser Artikel in Liebknechts Blatt zu verhindern. [27] Im Vorboten auch keine Spur. Es blieb uns also nichts übrig, als in der Zukunft weiter nachzuforschen.

Es dauerte recht lange. Der letzte oder der dritte Artikel ist an: 16. August 1869 erschienen. Wir blätterten weiter. Im September – nichts, im Oktober – nichts. Erst in der Nummer 256, die am 2. November 1869 herausgegeben worden ist, „entdeckten“ wir noch einen Artikel über Bakunin. Diesmal gingen wir etwas ruhiger an das Lesen. Wir wussten, dass wir kaum Schlimmeres finden würden als die drei Artikel, für deren „leichtsinnige Kolportierung“ Liebknecht auf dem Baseler Kongress so schwer bestraft wurde.

Wir können aber Nettlau, der uns gewiss Dank sagen wird für unsere Entdeckung, versichern, dass auch in diesem Artikel kein Wort von Bakunin als Spitzel steht. Zwar ist jetzt, nach dem Baseler Kongress, der Ton noch ungebundener – Borkheim war nie ein solches „Muster ruhiger und sachlicher Darstellung“ wie Nettlau und Guillaume –, zwar wird außer Bakunins Panslawismus auch seine plötzliche Verwandlung aus einem Schüler Proudhons in einen „Kollektivisten“ ebenso wie seine Transformation aus einen: Freunde Herzens in einen Feind und umgekehrt „begeifert“, aber auch in diesem Artikel versteigt sich unser fanatischer Russlandgegner nie zu einer Verdächtigung der politischen Ehre Bakunins. Allerdings gibt es noch einen Unterschied von den früheren Artikeln. Borkheim schreibt jetzt mit größerer Zuversicht, und als ob er seinen Sieg über die beiden „Literaten“ Marx und Engels unterstreichen wollte, die so lange geglaubt hatten, dass Bakunin wirklich „einer der wenigen Leute sei, die sich nach sechzehn Jahren nicht zurück-, sondern weiterentwickelt hatten“, hält er dem Generalrat oder, wenn man will, Marx folgende Lektion:

Sobald die „internationale Assoziation der Arbeit“ auch die Beschäftigung mit den direkten, rein politischen internationalen Beziehungen offiziell als eine von ihnen zu unternehmende Hauptarbeit anerkannt haben wird, was sie tun muss, wenn sie am Leben bleiben will, dann werden die Zwecke des arbeiter-freundlichen Panslawisten Eifers klarer zutage treten. – Ihn zu überwachen, ist aus Gründen der simpelsten Strategie zuvörderst die Pflicht der Deutschen.

Wir sehen, dass trotz seiner antirussischen Schrullen, trotzdem er nie „Marxist“ war, der „kleine deutsche Jude“ nicht so dumm war, wie es uns Bakunin und seine Freunde – auf Grund nie gelesener Artikel -— versichern wollen.

Borkheim „begeiferte“ so wenig alle russischen Revolutionäre, dass wir ihm vielmehr Dank dafür sagen können, dass er Marxens Aufmerksamkeit auf den „großen russischen Gelehrten und Kritiker“, auf Tschernyschewsky lenkte; er war es auch, der Marx veranlasste, sich auf die russische Sprache, im Winter 1869, zu werfen, um sich ein selbständiges Urteil über Bakunin und feine Gegner in Russland zu bilden.

Es bleiben uns jetzt einige Schlüsse zu ziehen. Zuerst möchten wir Bakunins Freunde aus jener Zeit entlasten. Wir verstehen jetzt, warum keiner von ihnen – Herzen voran –, als Bakunin sich über die Artikel beschwerte, gegen die „infamsten Beschuldigungen“ einen Protest erhob. Man konnte noch so ungehalten über Borkheims Kritik des bakunistischen Panslawismus sein, es blieb nichts übrig, als eine Entgegnung zu schreiben, und die musste natürlich Bakunin selbst Massen. Warum zog er es vor, auch in diesen: Falle Herzen vorzuschieben? Die beste Antwort gibt der von Gustav Mäher veröffentlichte Brief Bakunins an Jacoby, worin er sich auch „von jetzt an“ als Gegner des Panslawismus empfiehlt. [28] Und wenn Herzen es ablehnte, gegen Borkheims Artikel zu protestieren, so tat er es nicht nur, weil er in Borkheims Artikel die „alte Marxsche Mache“ – mit welchem Rechte, wissen wir jetzt – erkannte, sondern auch deshalb, weil er sich als erfahrener Journalist und nicht so gegen jede Kritik krankhaft empfindlich wie Bakunin, vor Jacoby nicht blamieren wollte.

Zweitens freuen wir uns, zu konstatieren, dass die ganze Berliner Verbrecherbande ebenso schuldlos war wie die von Vogt entdeckte „Schwefelbande“. Und am meisten freut es uns, dass es uns auch gelungen ist, „den damals noch sehr jungen Franz Mehring“ von dem Verdacht völlig „reinzuwaschen“, ein wenn auch etwas naiver Mitwisser und Mittäter dieser „infamsten Verleumdungskampagne“ gegen Bakunin gewesen zu sein. Ist er doch der letzte Mohikaner dieser alten demokratischen Garde! [29]

Drittens können wir jetzt getrost sagen, dass die ganze Geschichte mit dem angeblichen Ehrengericht in Basel in der Wirklichkeit ganz anders ausgesehen haben muss, als Bakunin sie schildert.

Dass Wertheim eine dumme Klatschbase war, geht schon aus seinem Brief an Becker hervor. Da die Artikel Borkheims Aufsehen erregten, bildeten sie den Gegenstand der Unterhaltung in Parteikreisen. Es wird vielleicht noch einmal gelingen, festzustellen, wo diese „halböffentliche Versammlung der Freunde“ stattfand, in der Liebknecht angeblich Bakunin als Spion bezeichnete – in Berlin oder in Wien. Da der erste Artikel Borkheims am 21. Juli und der zweite am 23. Juli 1869 erschien, und Liebknecht um diese Zeit in Wien war, wo er am 25. Juli 1869 eine Versammlung abhielt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er sein „Verbrechen“ in Wien begangen hat, und Wertheim, der gleich nachdem nach Genf kam, erzählte dort die ganze Geschichte.

Bakunin wollte aber unter allen Umständen ein Exempel statuieren. Das Ehrengericht hielt seine Sitzung. Es ist nicht sehr schwer, sich vorzustellen, was Liebknecht den Mitgliedern des Ehrengerichtes gesagt haben mag, unter denen fünf seine Freunde waren, Becker, der auch dabei war, nicht mitgerechnet. Etwa folgendes:

Wertheim ist ein unheilbarer Idiot und ganz gemeiner Kerl, der einen Klatsch nicht einmal mit dem Scheine der Wahrheit umgeben kann. Nie habe ich und mein Freund Borkheim Bakunin als Spion bezeichnet. Wohl aber war ich der Meinung, dass Bakunin ein Panslawist sei. Ist er es nicht, bleibt ihm immer der Weg eines literarischen Kampfes offen. Wahr ist es auch, dass ich die Gründung der Alliance als schädlich für die Internationale betrachte.

Man lese in Bakunins Brief nach, was er selbst über die Rede Liebknechts vor dem Ehrengericht mitteilt [30] und der Leser wird sich überzeugen, dass ich nur eine Kleinigkeit änderte. Man kann doch nicht so naiv sein wie Bakunin oder Guillaume, um zu glauben, dass Liebknecht in Gegenwart von Becker, um sich zu retten, Borkheim etwas imputiert hätte, was in dessen Artikel gar nicht stand.

Das ist auch die Erklärung, warum Bakunin sich so leicht nur Liebknecht versöhnte. Nur stupide Freunde können glauben, dass Bakunin so dumm war, von dem Ehrengericht eine Bestätigung zu fordern, dass er kein Spitzel der russischen Regierung sei. Man hat wahrscheinlich als Resultat der ganzen Verhandlung in einer Resolution die Sache erledigt, und Bakunin war so klug – von Noblesse kann in diesem Falle, wo nichts zu verzeihen war, keine Rede sein –, diese Erklärung zu verbrennen. Die Tatsache, die Nettlau nach einigen Jahren mühsamer Nachforschungen festgestellt hat, dass Bakunin mit dieser Erklärung eine Zigarette anzündete, hat natürlich für diesen Biographen, der noch gewissenhafter ist als Düntzer, eine große Bedeutung. Wir wollen sie aber auch unsererseits sehr gern als eine nach allen bisher geltenden Gesetzen der historischen Kritik beglaubigte Tatsache ansehen. Amen!

Warum aber so viel Lärm um eine Zigarette?

Wie Marx, hatte auch Shakespeare seine Vorläufer, auf deren Schultern er steht. Einer darunter war Massinger. Dieser schuf die Gestalt des Sir Overreach [31] (Haudaneben). Um seine Sache zu beweisen, schleppt er ein wichtiges Dokument heran. Es war aber ein Stück Pergament ohne Wachs und ohne Worte,

„Was für ein Wunder ist das!“ ruft er entrüstet aus. „Ich bin ganz erstaunt. Welch perfider Geist hat die Inschrift ausgemerzt?“

Da sage einer, man solle nicht an Wunder glauben!
 

* * *

Anmerkungen

1. Bis jetzt war „Genosse“ Brupbacher den deutschen Genossen nur als Verfasser einer für alle Gebärstreikler sehr wichtigen Broschüre: Kindersegen – und kein Ende? Ein Wort an denkende Arbeiter, Druck und Verlag von G. Birk & Co. Verbesserte und vermehrte Ausgabe, 1909, bekannt. Jetzt ist er dank dem Genossen Mehring eine Leuchte der historischen Wissenschaft geworden, eine der besten Hoffnungen des nicht „verknöcherten“ Marxismus!

2. Johann Jacoby (1805–1877) was a left-liberal German-Jewish politician.

3. August Bebel, Aus meinem Leben, Zweiter Teil, S. 241 bis 242.

4. Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweite, verbesserte Auflage, dritter Band, S. 312.

5. Franz Mehring, Johann Jacoby, Die neue Zeit, 23. Jg., 2. Bd. (1905), H. 32, S. 171. Soweit uns bekannt ist, hat Mehring seitdem diese Meinung nicht geändert.

6. Franz Mehring, Zwei Nachrufe, Die neue Zeit, 17. Jg., 1. Bd. (1899), H. 18, S. 846. Es ist uns nicht bekannt, dass Mehring seitdem diese Meinung geändert.

7. Franz Mehring, Johann Jacoby und die wissenschaftlichen Sozialisten, Archiv für die Geschichte des Sozialismus usw., 1911, S. 484.

8. Guillaume ist noch bis jetzt überzeugt, dass die Schüler ebenso unwissend wie ihr Lehrer sind, Nettlau, dass alle Marxisten „borniert“ sind, und „Genosse“ Brupbacher, dass nur Anarchisten Hirn haben.

9. Briefe von Alexander Herzen und Michael Bakunin an Johann Jacoby, Archiv für die Geschichte des Sozialismus, Hrsg. von Carl Grünberg, Band 1 (1911), S. 478–483. Sie werden von dem bekannten Biographen Schweitzers, Gustav Mayer, mitgeteilt.

10. Ich freue mich sehr, konstatieren zu können, dass Nettlau nicht alles Bakunin aufs Wort glaubt. „Der arme Liebknecht“ – sagt er – „ist hier unter die schlechte Kategorie der Juden geraten, nicht ohne eigene Schuld, aber doch unberechtigt.“ Unter den Deutschen oder den Slawen gibt es bekanntlich keine „schlechte Kategorie“.

11. Members of the Reich’s Association of Liars. A reference to the Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (Reich Association against Social Democracy) founded in 1904 in Berlin, usually referred to as the Reichslügenverband (Reich Association of Liars) by SPD politicians.

12. Nie habe ich so die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit Nettlaus schützen gelernt als in dem Moment, wo ich diese Epistel in seinem leider so wenig zugänglichen großen Werke las. „Ich habe diese Äußerung Bakunins über die Juden so ausführlich angeführt, damit Sie nicht einmal von einem Gegner entdeckt und ausgebeutet werde.“ A. a. O., S. 374. Nettlau irrt sich aber, wenn er glaubt, dass man die Beweise noch in der „geheimen“ bakunistischen Literatur suchen muss. In seinen russischen Werken kann man sie in Hülle und Fülle finden.

13. So schrieb er in seinem berühmten Memoire: „Diese gut unterrichtete Person War eine Frau Dmitrieff, eine Freundin Utins, Russin wie er und – sagen wir, denn das ist ein bezeichnendes Detail – eins Jüdin wie er, wie Marx, wie Borkheim, wie Moses Heß, wie Hepner, der Redakteur des Volksstaats, wie Frankel, Mitglied der Pariser Kommune.“ Ja ja! Was für sonderbare Leute sich manchmal unter den Internationalisten finden!

14. Und das, trotzdem Bakunin es unterließ, sich bei Marx für das Dedikationsexemplar des Kapital zu bedanken, und einen Monat vor dem Briefe, in dem Bakunin, nach beinahe vierjährigem Schweigen, sich plötzlich als Marx’ Schüler und treuer Freund präsentierte.

15. „Genosse“ Brupbacher, der in dieser Beziehung sogar mit Fregoli getrost die Konkurrenz aufnehmen kann, sagt daher, dass Marx seine Ideen als seine lebendigen Kinder ansah „und wurde, wenn jemand sie angriff, nervös, wie eine liebende Katzenmütter nervös wird, wenn man ihren Kindern etwas zuleide tut.“ Viel sympathischer ist ihm der schlaue Kuckuck, der seine Brut leichten Herzens zur Verpflegung in fremde Nester weggibt.

16. Das war auch einer der Gründe, warum er trotz des unerklärlichen Schweigens Bakunins ihm das Kapital schickte und seine Adresse erfahren wollte. Die „Sache“ ging ihm immer über kleinliche persönliche Rücksichten.

17. Briefe von Karl Marx an Dr. L. Kugelmann, Die neue Zeit / Feuilleton, 20. Jg., Band 2 (1902), Heft 3, S. 93–96. Kautsky bemerkt ganz richtig: „Formell ist sie sicher in manchen Wendungen gesucht geistreich und burschikos, verdient aber doch nicht das strenge Urteil, das Marx über sie fällt.“

18. Es war ein Deutscher Eduard Rosenblum, geboren in Odessa, auch ein Freischärler. Dringend verdächtig als deutscher Jude!

19. Russische politische Flüchtlinge in Westeuropa von S. B., Demokratisches Wochenblatt, Nr. 5, 6, 17, 20. Februar, April, Mai 1868.

20. In Beckers Papieren fand ich Engels’ Artikel gegen Bakunin, abgeschrieben und eingeleitet von Borkheim. Wie ungehalten der letztere über Beckers Haltung war, beweist Marxens Brief vom 24. Oktober 1868.

21. Serno beging im Herbst 1868 Selbstmord.

22. Johann Wolfgang von Goethe, Faust – Der Tragödie, erster Teil.

23. In Engels-Marx’ Papieren fand ich den ersten Artikel in einem besonderen Abdruck, den zweiten und dritten als Ausschnitte. Sie sind von Borkheim mit Korrekturen versehen. Außerdem zeigt er eine Streichung an, die beweist, dass die Redaktion die Artikel sehr aufmerksam geprüft hat. Die ausgelassenen Worte haben aber mit Bakunin nichts zu tun. Ich werde Borkheims Artikel demnächst wieder veröffentlichen – mit seinen Korrekturen –, um jedem, der es wünscht, die Möglichkeit zu geben, mich zu kontrollieren. „Geduld will aber bei dem Werke sein!“

24. Ein Wink für Genossen Mehring: er sieht, dass die gegenseitigen Sympathien der Schweitzerianer und der Bakunisten füreinander noch vor dem Baseler Kongress zum Vorschein kommen. Nichts ist interessanter als diese Allianz zwischen den strammen preußischen Zentralsten und den amorphen Autonomisten. Wir kommen noch auf diese Erscheinung zurück, die manches Licht auf die Geschicke der Internationale in Deutschland wirft.

25. Max Nettlau, a. a. O., S. 360.

26. „Marx war nach dem Baseler Kongress auf Bakunin recht schlecht zu sprechen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass aus der Feder von ‚Freunden von Marx‘ verleumderische Artikel gegen Bakunin erschienen.“ So „Genosse“ Brupbacher (S. 71), dessen „Exaktheit“ einen solchen kolossalen Eindruck auf Mehring machte.

27. Nettlau hat auch das Demokratische Wochenblatt nie gesehen. Das hindert ihn aber nicht, zu behaupten, dass sich in diesem Blatte im Jahre 1869 „schmachvolle Artikel“ des berüchtigten Borkheim finden, wo Bakunin „in offiziöser Weise“ verleumdet wird. Auch eine Art künstlerischen Schauens!

28. Es ist zu bedauern, dass auch so ein ernster Forscher wie Gustav Mayer kritiklos alles, was ihm Nettlau mitteilte, als feststehende Tatsachen hinnimmt. Er wird jetzt sehen, dass alle Angaben des „besten deutschen Bakuninkenners“, soweit sie auf Angaben von Bakunin beruhen, nichts als Schall und Rauch sind. Er wird jetzt auch sehen, dass seine Hypothese, Jacoby habe die Artikel vor ihrem Druck nicht gelesen, ganz überflüssig ist.

29. Offen gestanden, fällt es mir schwer, zu glauben, dass Mehring wirklich so spät seine Bekanntschaft mit Lassalle machte, wie er „selbst angibt“. Ich vermute hier einen Lapsus memoriae, der nicht nur einem Bebel passieren kann. Ich gehe so weit, folgende Hypothese aufzustellen: Der Artikel im Wanderer – im Sommer 1866 – machte auf Mehring einen solchen großen Eindruck nicht, weil er ziemlich das erste war, was er über Lassalle las, sondern weil ziemlich der erste Artikel, den er in der „Zukunft“ als „junger Bursche“ schrieb, ein Referat über den Wanderer-Artikel war. Lesen Sie ihn noch einmal durch, Genosse Mehring, sie finden ihn in der Nummer 145 vom 25. Juni 1869.

30. Bakunin, Oeuvres, Tome V, S. 274.

31. A New Way to Pay Old Debts (c. 1625, printed 1633) is an English Renaissance drama, the most popular play by Philip Massinger (1583–1640). Its central character, Sir Giles Overreach, became one of the more popular villains on English and American stages through the 19th century.


Zuletzt aktualisiert am 11. Januar 2025