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Der Baseler Kongress fand bekanntlich vom 5. bis 11. September 1869 statt. In diese Zeit fällt das Ehrengericht in der Angelegenheit Bakunin- Liebknecht. Wir müssen aber von Anfang an auf ein neues Missverständnis Hinweisen, dessen Opfer Genosse Bernstein geworden ist. Das Ehrengericht, von dem er spricht, war nicht ein Ehrengericht des Baseler Kongresses, sondern bloß ein Ehrengericht in Basel. Das ist keine Wortklauberei. Ein weltfremder Gelehrter wie Nettlau kann beide Sachen verwechseln, aber jeder Politiker, der auch in Organisationsfragen ein Wenig Bescheid weiß, wird, ganz leicht den wesentlichen Unterschied herausfinden. Daher spricht Guillaume nie über ein Ehrengericht des Baseler Kongresses, und auch „Genosse“ Brupbacher, der Guillaume abschreibt, sagt diesmal ganz exakt: ein Ehrengericht in Basel. Dadurch erklärt es sich, warum wir auch im ausführlichen Protokoll des Kongresses kein Wort über die ganze Ehrenaffäre finden.
Die ganze Geschichte ist uns ausschließlich aus der Darstellung bekannt, die Bakunin selbst gegeben hat. Auf seine Schilderung stützte sich Guillaume, als er im Jahre 1873 sie zum ersten Mal veröffentlichte. Liebknecht saß damals auf der Festung. Guillaume konnte ebenso wie Nettlau nicht genug scharfe Worte finden, um das Verhalten Marxens im Jahre 1853 zu tadeln, der angeblich so schamlos war, gegen Bakunin während der Zeit seiner Festungshaft schwere Anklagen zu erheben. Derselbe Guillaume hätte gewiss nun nicht gegen Liebknecht ebenso gehandelt, wenn er nicht alle Beweise in seiner Hand besah.
Im Jahre 1904 erzählt Guillaume die gleiche Geschichte mit dem gleichen Aufwand von moralischer Entrüstung. Diesmal aber mit einer wesentlichen Änderung, die den moralischen Stumpfsinn des „Soldaten der Revolution“ noch stumpfsinniger macht.
Im Jahre 1873 berichtete Guillaume, Liebknecht habe angeblich einen Artikel von Bakunin nicht veröffentlicht, und zweitens stattdessen gleich darauf Korrespondenzen aus Paris von M. Heß gedruckt, in denen dieselben Verleumdungen wiederholt wurden, die das Ehrengericht als infam bezeichnete. Im Jahre 1904 erzählt Guillaume, dass Liebknecht so perfid war, seinen Lesern die Erklärung des Ehrengerichts zu verheimlichen. Gewiss „aus irgendwelchen Gründen“.
Nach den „bisher geltenden Gesetzen der historischen Kritik“ ist von zwei Aussagen desselben Zeugen über denselben Gegenstand diejenige, die vier Jahre nach den Ereignissen gemacht wird, „wahrscheinlicher“, als eine, die 36 Jahre nachher geäußert wird. Selbstverständlich: caeteris paribus. [1] Hat der Betreffende seine Anschauung in der Zwischenzeit geändert, so wäre es ein bitteres Unrecht, wollten wir aus den alten Aussagen einen Strick für den Zeugen drehen. Hier ist es nicht der Fall. Guillaume hasst Marx und Liebknecht im Jahre 1904 ebenso leidenschaftlich wie im Jahre 1873. Außerdem ist die Hauptquelle dieselbe geblieben.
Und diese besteht nach wie vor einzig aus Bakunins Aussage. Zum Glück besitzen wir jetzt, dank der unermüdlichen Sammeltätigkeit Nettlaus, die authentische Erzählung Bakunins selbst.
Diese ist sehr ausführlich, sie hat aber einen großen Vorzug schon deshalb, weil sie in der ersten Hälfte des Oktober 1869 geschrieben wurde, also kaum einen Monat nach dem Baseler Kongress.
Am 2. Oktober 1869 erschien in der französischen Zeitung Réveil, redigiert von Delescluze, dem späteren Kommunarden [2], ein Artikel von M. Heß: Die Kommunisten und die Kollektivisten auf dem Baseler Kongress, der gegen Bakunin und Schweitzer gerichtet war.
Außer sich vor Wut schrieb Bakunin an die Redaktion einen langen Brief ... über alle Machenschaften der Juden überhaupt und der deutschen Juden insbesondere:
Ich weiß sehr gut, dass, wenn ich offen meine intimen Gedanken über die Juden ausspreche, ich mich ungeheuren Gefahren aussetze. Viele teilen meine Meinung, wenige aber sind kühn genug, sie öffentlich auszusprechen, denn diese jüdische Sekte, vielgefährlicher als die Sekte der katholischen und protestantischen Jesuiten, bildet heutzutage in Europa eine wahre Macht. Despotisch regiert sie im Handel, im Bankwesen, und sie kommandiert auch drei Viertel der deutschen Journalistik sowie einen sehr bedeutenden Teil der Journalistik anderer Länder. Wehe dem, der das Unglück hat, ihr zu missfallen.
Bakunin ist aber so kühn, dass er auch gegen diese Macht losgeht. Zwar macht er eine Ausnahme für Jesus, den Apostel Paulus und. noch für die zwei jüdischen Riesen (juifs géants) Marx und Lassalle. Umso schlimmer ergeht es den jüdischen Zwergen (juifs pygmées) Heß und Borkheim. Er erzählt wieder die Geschichte mit den Verleumdungen in den englischen Zeitungen – von der Neuen Rheinischen Zeitung spricht er hier kein Wort [3] – und versichert die Redaktion, dass an allem die deutschen Juden schuld seien. Er geht noch weiter. Ihnen schreibt er es zu, dass man ihn auch während seines Aufenthaltes in Italien als Spitzel und Falschmünzer hinstellte. „Seine Freunde glaubten und glauben noch, dass alle diese Verleumder von der russischen Diplomatie gekauft sind. Es ist nicht unmöglich.“ Er ist aber so nachsichtig, nicht das gleiche von Borkheim und von Heß anzunehmen. „Sie werden nur von ihrer Perfidie und ihrer Dummheit inspiriert, voilà tout.“
So geht es weiter in diesem „für einen gebildeten Mann wirklich staunen-erregenden Stil“, wie eine zierlich-manierlich erzogene Miss oder sogar ein „bornierter Marxist“ sagen würde, wenn er das Anstandsgefühl des „Genossen“ Brupbacher besäße. [4]
Ich fühle aber, dass Genosse Mehring – jetzt mit Recht – ungeduldig wird. „Was hat mit der ganzen Sache Marx zu tun! Wie kann man ihn für einen Artikel von Heß in einer französischen Zeitung verantwortlich machen? Haben denn diese Kerle keine Ahnung von den Beziehungen zwischen beiden? Haben sie nie den Sozialdemokrat gelesen, den in den sechziger Jahren einer der begabtesten deutschen Journalisten, Schweitzer, herausgab? Wissen sie nicht, dass Heß diesem Manne noch treu blieb, als alle anderen – nicht nur eine ‚katilinarische Existenz‘ wie Reusche, sondern auch Marx, Engels, Herwegh, Johann Philipp Becker – sich von ihm schon längst losgesagt hatten? Wissen sie nicht, dass Heß in seinen Korrespondenzen aus Paris immer die Internationale und insbesondere Marx angegriffen hatte? Wissen sie nicht, dass Heß erst Ende 1868 mit Schweitzer brach? Wie können sie aus Heß einen treuen Schüler von Marx machen, der seine Artikel auf dessen Befehl aus London schreibt oder sie ihm vor der Veröffentlichung vorlegt? Blödes Geschwätz!“
Wir verstehen die Entrüstung des Genossen Mehring, der unzweifelhaft der beste Kenner des Schweitzerschen Sozialdemokrat ist. Wir müssen aber für Guillaume, Nettlau und auch den Verfasser der „fleißigen und sorgfältigen Studie, den „Genossen“ Brupbacher auf mildernde Umstände plädieren: wie Kinder oder fromme Lämmer wissen sie nicht, was sie sagen, oder sie sagen nur das, was ihnen bekannt ist. Gewiss aber, „aus irgendwelchen Gründen“!
Wie dem auch sei: Herzen, dem Bakunin seinen Brief schickte, war nicht wenig erstaunt – und er kannte seinen Bakunin –, als er die neueste, mit der besten Tinte geschriebene Produktion Bakunins las. Er lehnte es kategorisch ab, den Brief in dieser Form der Redaktion des Réveil zu übergeben. Erstens konnte er nicht verstehen, was die Rassenfrage, die Judenfrage mit der ganzen Sache zu tun hätte. Vielleicht würde Nettlau sagen, weil er ein vulgärer Philosemit war. Zweitens – er war damals noch fest davon überzeugt, dass Marx der geistige Urheber alles Übels sei und Heß sein williges Werkzeug – schien es ihm befremdend, dass Bakunin den großen Dieb ruhig laufen ließ und nur die kleinen Diebe hängen wollte oder statt des jüdischen Riesen die jüdischen Zwerge attackierte.
Wir bedauern sehr, dass wir hier nicht Bakunins Antwort vollständig ab-drucken können und uns auf einige Stellen daraus beschränken müssen. Wir bitten nur den Leser, festzuhalten, dass sie am 28. Oktober 1869 geschrieben ist.
Was Marx anbelangt, ist meine Antwort die: Ich weiß ebenso gut wie Du, dass Marx uns gegenüber ebenso schuldig ist wie alle anderen, und dass er der Urheber und Anstifter aller gegen uns gerichteten Infamien war.
Genosse Bernstein kann jetzt sehen, bei wem die Versöhnungen nicht ganz vorbehaltlos waren, bei Marx oder bei Bakunin.
Am 22. Dezember 1868 hatte noch Bakunin an Marx über Herzen geschrieben:
Aber ich bitte Dich, mir zu glauben, dass absolut keine Solidarität zwischen ihm und mir besteht. Namentlich seit 1868 sind alle politischen und jetzt selbst die privaten Beziehungen zwischen uns abgebrochen.
Ja ja! Bakunin war „ein Mensch ohne Hintergedanken“. Und er war gerecht wie Salomo, trotzdem oder gerade, weil er kein Jude war.
Warum aber habe ich Marx (in seinem Briefe an die Redaktion) geschont und sogar gelobt, ihn als einen Riesen bezeichnet? Aus zwei Gründen, Herzen. Der erste Grund ist Gerechtigkeit.
Marx dient der Sache des Sozialismus treu, klug und energisch seit fünfundzwanzig Jahren und ist einer, wenn nicht der Hauptgründer der Internationale – sagt Bakunin. Guillaume, Nettlau, „Genosse“ Brupbacher und auch die Genossen Bernstein und Mehring sehen darin einen Beweis des durch keine persönliche Voreingenommenheit getrübten Gerechtigkeitssinnes Bakunins. Es ist auch richtig, dass Marx für alle diese „Komplimente“ ein taubes Ohr hatte. Gewiss, wenn nicht aus Bosheit, doch „aus irgendwelchen Gründen“!
Der zweite Grund – schreibt weiter Bakunin-— ist die Politik und meiner Ansicht nach eine ganz richtige Taktik. Ich weiß, dass Du mich für einen miserablen Politiker hältst.
Es folgt eine Beweisführung dafür, dass dem nicht so sei. So interessant diese Bekenntnisse für Bakunins Charakteristik auch sind, insbesondere für seine Theorie der doppelten Moral, wir lassen sie weg. Wir schreiben jetzt kein Lebensbild des großen Revolutionslöwen:
Ich habe ihn (Marx) auch aus Gründen der Taktik, aus persönlicher Politik geschont und gelobt. Wie kannst Du blind dafür sein, dass alle diese Herren unsere gemeinsamen Feinde sind, dass sie eine Phalanx bilden, die man zuerst auseinanderreißen, spalten muss, um sie leichter auf den Kopf zu schlagen. Du bist gelehrter als ich und weißt besser als ich, wer zuerst sagte: divide et impera. Hätte ich jetzt offen den Krieg gegen Marx eröffnet, drei Viertel der internationalen Welt hätten sich gegen mich gewendet, und ich wäre im Nachteil. Wenn ich aber den Krieg mit einem Angriff auf sein Gesindel [5] eröffne, werde ich für mich die Mehrheit haben, und selbst Marx, in dem, wie Du weißt, soviel Schadenfreude [6] steckt, wird sehr zufrieden sein, dass ich seine Freunde so bearbeite. Nun, wenn ich mich verrechne und Marx für sie eintritt, dann wird doch er derjenige sein, der zuerst den offenen Krieg beginnt. Wohlan! Ich bin dann in der Defensive und erscheine in einer schönen Rolle. [7]
Wir wissen nicht, ob der so früh verstorbene Jäckh diesen Brief gelesen hat. Nahm er Bakunins Worte ernst, konnte er wirklich in ihm eine „monströse politische Verbrechernatur“ entdecken. So schlimm aber steht die Sache nicht. Zwar kann man alles das „höchstens psychologisch erklären lassen“, und es wird „außer ein paar Fanatikern auf der ganzen Erde niemanden geben“ – ausgenommen vielleicht ein paar stupide Freunde –, der nach alledem noch behaupten wird, dass Bakunin „ein Mensch ohne Hintergedanken“ war.
„Wir tun deshalb Marx keineswegs unrecht, wenn wir sagen, dass er bald nach dem Baseler Kongress auszuholen begann gegen Bakunin. Wir können es aber nur bedauern, dass das nicht offen und nicht auf dem Kampffeld der Ideen geschah.“ [8]
Und wann begann Bakunin gegen Marx „auszuholen“, Verehrtester „Genosse“ Brupbacher? Tun wir Bakunin unrecht, wenn wir – ebenfalls mit Bedauern – konstatieren, dass „das nicht offen und nicht auf dem Kampffeld der Ideen geschah“?
„Man wird nur von seinen Freunden verraten,“ sagt einmal höhnisch „Genosse“ Brupbacher. Das ist zu abstrakt. Es kommt zwar vor, aber als Regel kann es mir gelten, wenn man sagen würde: „Man wird nur von stupiden Freunden verraten.“
Wir müssen Bakunin gegen diese seine Bewunderer in Schutznehmen. War seine Taktik reiner Machiavellismus, so war es ein ganz harmloser Machiavellismus. Schon aus dem Grunde, weil er auf einer völligen Unkenntnis über Raum und Zeit beruhte, die, mit Zwangsvorstellungen verbunden, manchmal sehr gefährliche Folgen haben kann, dem Betreffenden aber nie als moralische Schuld aufgebürdet werden darf.
Leider waren nicht alle Freunde Bakunins so vernünftig wie Herzen, der alles tat, was in seinen Kräften lag, um die Veröffentlichung dieses Briefes zu verhindern. Man kann sich leicht denken, was für einen Eindruck er – Ende 1869 – gemacht hätte.
Zum Glücke für Bakunin erschien der Brief damals nicht. Sogar ein kurzer Brief, in dem er sich etwas milder fasste und sich nur begnügte, eine Broschüre über die deutschen Juden anzukündigen [9], erschien Herzen zu stark, und er schrieb für Bakunin eine kurze Erklärung, die im Réveil erschien. Freilich mit einer Bemerkung.
Und was sagte die Redaktion? Entschuldigt sie sich? Mit keinem Worte. Aus einem einfachen Grunde. So schwach – von unserem Standpunkt – der Artikel von Heß war, es steht in ihm kein Wort über Bakunin als Agenten oder Spitzel der russischen Regierung. Er richtet gegen Bakunin und Schweitzer die Anklage, dass der eine im Interesse des Panslawismus, der andere im Interesse des Pangermanismus arbeite. Außerdem einige Kritiken gegen Bakunins Ansichten und Taktik auf dem Kongress. So unbegründet alle diese Anklagen sein mochte, so unerwartet ist der Schluss, den Bakunin aus ihnen zieht. Sie bedeuten nichts anderes und können nichts anderes bedeuten, sagt er, als: Bakunin ist ein Agent provocateur der russischen Regierung, ein Spitzel. [10] Und doch hatte Heß, der soeben in Basel die Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, wie empfindlich in diesem Punkte Bakunin war, es noch unterstrichen, dass er nicht im Mindesten Bakunins „revolutionäre Ehrlichkeit“ bezweifle, was er von Schweitzer nicht behauptet.
Wir verstehen jetzt, warum Delescluze glaubte, er hätte mit kranken Leuten zu tun. Als er, um sie los zu werden, endlich Herzens Brief abdruckte, ließ er die Note hinzufügen, die Redaktion habe ebenso wenig wie Heß jemals beabsichtigt, Bakunins politische Ehre zu bezweifeln, obwohl sie seine politischen Ansichten bekämpfe und noch weiter bekämpfen werde. Der Leser glaubt gewiss, dass Bakunin mit dieser Erklärung unzufrieden war. Keineswegs. Er fand sie ganz loyal.
Wo bleibt aber Liebknecht? Hatte er vielleicht ebenso viel mit dem Heßschen Artikel zu tun wie Marx?
Liebknecht wird in dem ganzen Briefe nicht einmal mit seinem Namen genannt. Er figuriert nur als einer der Führer der neuen deutschen sozial-demokratischen Partei. Die ganze Geschichte mit dem sogenannten Ehrengericht wird von Bakunin erzählt, nicht um Liebknecht zu kränken – er hatte sich mit ihm vollständig versöhnt und hielt ihn für einen noblen Gegner –, sondern um der Redaktion des Réveil die ganze moralische Verwerflichkeit des „kleinen deutschen Juden“ Moses Heß zu erweisen, der angeblich ein Mitglied des Ehrengerichtes gewesen war. Zwar sagt Bakunin selbst: „Ich erinnere mich nicht ganz genau, ob Moses Heß einer von ihnen war, es scheint mir aber doch so.“ Und weiter noch einmal: „Ich kann nicht bestimmt sagen, ob Moses Heß ein Mitglied des Ehrengerichtes war, ich bin aber fast sicher, jedenfalls, und das Weitz ich ganz genau, dass ihm alles, was ich Ihnen erzähle, bekannt geworden ist. Sie können jetzt die Moral dieses Mannes beurteilen.“ Wir wissen jetzt, dass, wenn Heß etwas verbrochen hat, es nicht mehr war als eine Kritik von Bakunins „russischem Kommunismus“. Wir haben hier einen neuen Beweis, wie schwach Bakunins Gedächtnis war. Trotzdem nehmen wir an, dass er im Falle Liebknecht die Tatsachen genau erzählte.
Zwar sagt jetzt Bakunin, dass Liebknecht ihn nicht öffentlich, sondern in einer „halböffentlichen Versammlung seiner Freunde“ beschuldigte. Zwar sagt er, dass Liebknecht alles in Abrede gestellt habe. Er behauptet aber, dass trotz dieser Ableugnung das Ehrengericht, in dem fünf Freunde Liebknechts saßen, einstimmig.erklärte. Liebknecht habe leichtfertig gehandelt, als er auf Grund einiger Artikel in einem bürgerlichen Blatt Bakunin beschuldigte, er sei ein Agent der russischen Regierung. So unwahrscheinlich diese Geschichte klingt, nehmen wir an, dass alles sich so zutrug.
Diese Erklärung – schreibt weiter Bakunin – ist mir schriftlich gegeben Worden. Ich muss übrigens sagen, dass mein Gegner so nobel war, vor den Richtern zu erklären, er sei über mich irregeführt worden. Er reichte mir die Hand, und ich verbrannte die von dem Ehrengericht geschriebene und unterzeichnete Erklärung.
Nach dieser Versöhnung gab er Liebknecht einen Abdruck der Rede, die er auf dem Berner Kongress der Freiheits- und Friedensliga gehalten hatte, sowie seiner italienischen Artikel, die er im Jahre 1867 angeblich gegen den Panslawismus geschrieben. Zwei Tage später kam Liebknecht zu ihm und sagte:
Ich sehe, dass ich mir eine ganz falsche Vorstellung von Ihnen gemacht habe. Sie sind ein Proudhonist, weil Sie die Abschaffung des Staates wollen. Ich werde Sie in meiner Zeitschrift bekämpfen, weil meine Überzeugung ganz das Gegenteil von der Ihren ist. Ich bitte Sie aber, mir Ihre Artikel zu lassen. Ich werde sie publizieren, ich bin Ihnen diese Satisfaktion schuldig. [11]
Und Bakunin fügt hinzu: „Ich verließ mich auf dies Versprechen und warte noch bis jetzt.“
Wir wissen jetzt, worin die Schuld Liebknechts besteht. Bakunin forderte nicht, dass sein Gegner die Erklärung in seiner Zeitung abdruckte. So „stupid“ wie manche seiner Freunde war er nicht. Hatte er doch die Erklärung selbst in Gegenwart des Ehrengerichtes verbrannt – seine Freunde bewundern noch bis jetzt die „schöne Geste“ –, und dass er keine Kopie davon vorher machte, beweist der Umstand, dass Nettlau bis jetzt keine gefunden hat. Bei aller Mühe gelang es diesem nur, festzustellen – Kropotkin hörte es von Elisée Reclus, der es von Bakunin selbst hörte –, dass Bakunin diese Erklärung nicht einfach verbrannte, sondern mit ihr eine Zigarette anzündete. [12] Dieses Auto-da-fé tut uns herzlich leid, weil wir dadurch nie erfahren werden – wenn uns nicht ein glücklicher Zufall hilft –, was eigentlich Liebknecht verbrochen hat und was das Ehrengericht eigentlich feststellte.
Zwar ist es verdächtig, dass sich Guillaume im Jahre 1873 mit keinem Worte über die Nichtveröffentlichung der nicht mehr existierenden Erklärung beschwert, die Bakunin als Zeichen der vollständigen Versöhnung mit seinem noblen Gegner großherzig vernichtet hatte. Auch Nettlau, der gegen Liebknecht sehr vieles einzuwenden hat, sagt kein Wort über diesen „Wortbruch“. [13] Selbst Guillaume entdeckte ihn zum ersten Mal im Jahre 1904! Gewiss, auf „irgendwelche“ Quellen gestützt, die nur ihm bekannt sind.
Sogar „Genosse“ Brupbacher, bei seinem ganzen Respekt vor Guillaume, ahnt, dass hier etwas nicht ganz in Ordnung sei, und „verschweigt“ Liebknechts ersten Wortbruch. Nur Genosse Bernstein merkte es nicht und fand es unrecht, dass sein ohnedies schwer beschuldigter alter Kampfgenosse die Veröffentlichung einer für immer vernichteten Ehrenerklärung unterließ.
Bevor wir aber andere Verbrechen des perfiden und feigen „Soldaten
der Revolution“ untersuchen, laden wir den Leser ein, mit uns
einen Blick in die Welt zu werfen, in der die infamen Verleumdungen
gegen Bakunin als bare Münze ausgenommen und veröffentlicht
wurden. Hat Liebknecht mit „verdammenswertem Leichtsinn“
gehandelt, indem er diese Verleumdungen „kolportierte“,
wie Genosse Mehring sagt, so haben die Leute, die diese Infamien
veröffentlichten, gewiss mit noch verdammenswerterer
Treulosigkeit und Perfidie gehandelt. Wer waren aber alle diese an
moralischem Stumpfsinn leidenden Subjekte, alle diese ruchlosen
Jagos, die die unschuldsvolle Desdemona[14]
Bakunin verleumdeten? Was für ein Revolverblatt war diese
„bürgerliche Zeitung“, die so infam und gemein
war?
1. Für „Genossen“ Brupbacher ist es ein Mangel. „Marx isolierte die abstrahierten (!) Bestandteile des Lebens und sagte: caeteris paribus.“ Eine der zahlreichen Beobachtungen, die, wie Genosse Mehring versichert, „immer anregen“.
2. „Er lebte nur für Gerechtigkeit. Sie war sein Talent, sein Gewissen, der Polarstern seines Lebens. Er rief sie an, er bekannte sie dreißig Jahre lang im Exil, in den Gefängnissen, unter allen Beschimpfungen, die ihm zugefügt wurden, die Verfolgungen missachtend, die seinen Körper zerbrachen. Als Jakobiner fiel er an der Seite von Männern aus dem Volke, um sie zu verteidigen.“ Lissagaray, Geschichte der Kommune von 1871, S. 882. Stuttgart 1904, Verlag von I. H. W. Dietz Nachf.
3. Wir wiederholen es noch einmal. Bakunin hat nie – auch in der größten Erbitterung – diese für ihn längst erledigte Geschichte ausgebeutet. Das überließ er seinen „stupiden Freunden“.
4. Der alte Guillaume ist von dem Briefe entzückt. Bakunin „erzürnte sich – er hatte allen Grund dazu – und ergriff feine gute Feder, um mit seiner besten Tinte eine Antwort zu schreiben“!
5. Im russischen Original сволочь: Gesindel, Pack, Lumpengesellschaft.
6. Bakunin gibt selbst das Wort Deutsch.
7. Bakunins Briefe an Herzen und Ogarefs, Genf 1898 (russisch). Es ist schwer, die ganze „Schlauheit“ des Passus wiederzugeben. Die französische Ausgabe sagt: “je me mettrai aussi en campagne et j’aurai le beau role.” Die deutsche Ausgabe habe ich jetzt nicht bei der Hand.
8. Brupbacher, Marx und Bakunin, S. 71.
9. Unter dem Titel, den sogar Guillaume „recht sonderbar“ findet: „Glaubensbekenntnis eines russischen Sozialdemokraten, eingeleitet durch eine Studie über die deutschen Juden.“
10. Vergleiche M. Bakunin, Oeuvres, V. Paris 1S11, S. 263 bis 266.
11. Guillaume, der noch auf dem Kongress in La Chaux-de-Fonds (April 1870) unvorsichtig genug war, Liebknechts Namen zu nennen – er war damals noch sehr jung und ein großer Enthusiast –, zitiert diese Rede in seinem berühmten Memoire in folgender Weise: „Ich habe mich geirrt, sagte er, ich habe nicht verstanden, dass Sie ein Proudhonist seien. Ich habe geholfen, verleumderische Anklagen gegen Sie zu verbreiten, ich bin Ihnen eine Genugtuung schuldig.“ Wir werden nicht entrüstet schreien, das sei eine freche Fälschung usw. usw. Jeder Mensch irrt sich, es ist nur nicht gut, wenn er in diesem Irrtum beharrt wider besseres Wissen. Vergessen wir nicht, dass Nettlau sagt, Guillaumes Memoire sei „der wichtigste historische Beitrag zur Geschichte der Internationale und ein Muster ruhiger, sachlicher Schilderung“! Umgekehrt – erzählt uns derselbe Nettlau – ist die bekannte Broschüre über die bakunistische Alliance „in ihrer ganzen Anlage total verlogen und wimmelt von Unrichtigkeiten und Fälschungen im Detail; kein Zitat darin darf man ungeprüft akzeptieren“. Und Nettlau ist gewiss ein ehrenwerter Mann!
12. Vergleiche sein großes Werk. Anmerkung, Nr. 1882.
13. „Als Bakunin das Urteil übergeben wurde, dachte er nicht an eine Veröffentlichung desselben, sondern reichte Liebknecht die Hand und zündete sich mit dem Dokument eine Zigarette an. Wie ihm Liebknecht diese Großmut vergalt, ist bekannt; sie steigerte Wohl nur seinen Hass.“ Nachbarin, Euer Fläschchen!
14. The name Desdemona is a feminine name of Greek origin that means “ill-fated” or “unfortunate”, known as the name of the tragic heroine in William Shakespeare’s play Othello.
Zuletzt aktualisiert am 11. Januar 2025