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Was haben Liebknecht und Bebel eigentlich verbrochen und was ließ Marx unwidersprochen?
Hören wir den ersten Zeugen, den „Genossen“ Brupbacher:
Übrigens waren kurz vor dem (Baseler) Kongress wieder Gerüchte verbreitet worden, dass Bakunin ein Polizeispitzel sei. Man scheint eben in dieser Zeit schon in gewissen Kreisen mit Bakunin nicht recht zufrieden gewesen zu sein. Es war Bakunin zu Ohren gekommen, dass man ihn als Polizeispitzel verdächtigte. Liebknecht hatte unter Freunden in einer halböffentlichen Versammlung gesagt, dass Bakunin augenscheinlich ein sehr gefährlicher Agent der russischen Regierung sei und dass er alle Beweise dafür in den Händen habe; Bakunin habe die Internationale durch die Gründung der Alliance zerstören wollen; er sei verschlagen und diplomatisch wie alle Russen, und so sei es ihm gelungen, den alten Philipp Becker zu täuschen. Liebknecht behauptete außerdem, die Flucht Bakunins aus Sibirien, sei durch die russische Regierung begünstigt worden. Ebenso hatte Bebel einen Brief an Becker geschrieben, dass wahrscheinlich Bakunin ein Polizeispitzel sei und wahrscheinlich mit Schweitzer, dem Agenten Bismarcks, im Einvernehmen stehe. Da Bakunin Liebknecht für den Urheber der Verleumdung betrachtete, ließ er Liebknecht auffordern, die Beweise auf den Kongress nach Basel mitzubringen. Es wurde in Basel ein Ehrengericht über den Fall konstituiert, das erklärte: Liebknecht habe mit verdammenswertem Leichtsinn gehandelt, dass er auf den Artikel einer bürgerlichen Zeitung hin solche Verleumdungen ausgestreut habe. Diese Erklärung wurde Bakunin schriftlich gegeben. Liebknecht reichte Bakunin, die Hand. Bakunin verbrannte die Erklärung in der Gegenwart des ganzen Gerichtes. Kurz nach dieser Geschichte publizierte Liebknecht in seinem Blatte die gleichen Verleumdungen.
So der Verfasser des „nützlichen und verdienstlichen Werkes“, das „der Münchener Parteiverlag herausgegeben hat: dankenswerterweise wie gleich hinzugefügt werden mag“. [1]
Wir wissen, dass Liebknecht und Bebel für Genossen Mehring schwer verdächtig sind. Haben sie doch Schweitzer als „Polizeispitzel“ hingestellt, warum nicht einen Russen, Bakunin? Es mag sein, dass er es daher für überflüssig hielt, auch diese Anklage mit den Tatsachen zu konfrontieren. Umso mehr, als Genosse Bernstein schon die ganze Geschichte bestätigt hatte, der sie in dem Buche las, auf das der „Genosse“ Brupbacher sich „in der ersten Linie stützt“.
Genosse Bernstein erzählte diese Geschichte noch im Jahre 1908 respektive 1910 einmal den Russen, das andere Mal den deutschen Lesern.
Das gegenseitige Misstrauen nahm immer mehr zu. Wilhelm Liebknecht in Leipzig, der damals als das Mundstück von Marx galt, hatte um jene Zeit verschiedenen zu hören gegeben, er habe die Beweise in der Hand, dass Bakunin Agent der russischen Regierung sei. Ein Ehrengericht des Baseler Kongresses, das Bakunin verlangt hatte und vor dem Bakunin und Liebknecht erschienen, erklärte, wie Bakunin schreibt, einstimmig, dass die Tatsachen, auf welche Liebknecht sich berief, keinerlei Verdacht begründeten, und Liebknecht zog in Basel den Vorwurf auch zurück. Da (!!) er aber nach wie vor (?!?) von der Richtigkeit feiner Anklage überzeugt blieb, unterließ er es, Bakunin eine öffentliche Ehrenerklärung zu geben. Ebenso führte S. L. Borkheim in der demokratischen Zukunft und im Volksstaat dem von Liebknecht redigierten Organ der neugegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei Eisenacher Programms, einen Verdächtigungsfeldzug gegen Bakunin. [2]
Man braucht kein Rigorist zu sein, man braucht kein Anhänger der Konischen Ethik zu sein, um angesichts dieser Ben Akibaschen Seelenruhe etwas stutzig zu werden, die uns diese empörende Tatsache mitteilt, ohne ein Entrüstungswort hinzuzufügen. Liebknecht erklärt Bakunin für einen Spitzel, zieht unter Bakunins Drohung in Basel seine Anklage zurück, reist nach Leipzig, „da er aber nach wie vor von der Richtigkeit seiner Anklage überzeugt blieb“, beginnt er das Spiel von neuem!
Nein. Was uns anbelangt, müssen wir über ein derartiges Verhalten dasselbe wiederholen, was Bernstein in demselben Artikel über Marx und Bakunin sagt: „Unter dem rein menschlichen Gesichtspunkt erscheint in diesem Kampfe Bakunin in wesentlich günstigerem Lichte als sein Widersacher!“
Wir verstehen einen Guillaume, der diese Geschichte von Perfidie und Feigheit schon 1873 erzählte und folgende Worte schrieb, aus denen die tiefste moralische Entrüstung über diesen unerhörten moralischen Stumpfsinn wie Jehovas Donner auf den feigen „Soldaten der Revolution“ herabsaust:
Glaubt man, dass, wenn Liebknecht der Herr seines Willens und seiner Gefühle gewesen wäre, er auch mit solcher Treulosigkeit gehandelt hätte? Das ist unmöglich. Die einzige mögliche Sache, die einzige wirkliche Erklärung dieser unglaublichen Verirrung des Moralgefühles ist, dass der Diktator dem Liebknecht, nachdem er nach Leipzig zurückgekehrt war, seine Haltung in Basel und sein Versprechen an Bakunin als eine sentimentale Schultz und Schwäche vorgehalten und ihm verboten hat, sein Versprechen zu halten.
Wenn man in Betracht zieht, dass alle diese Donnerschläge von einem Manne herrühren, der – so sagt „Genosse“ Brupbacher – ein „sonderbar reiner Mensch ist, der sich in die Politik hinein verirrt“, der „bei allen, zu denen er sprach, auch nicht eine Spur von niederen Instinkten Voraussetzte“, wird es uns wirklich um Marx, Engels, Liebknecht und Bebel bange.
Überwinden wir aber für ein Moment unsere moralische Entrüstung. Guillaume mag gewiss „ein sonderbar reiner Mensch“ sein, Bakunin auch „ein Mensch ohne Hintergedanken“, und wir setzen wie immer voraus, dass beide subjektiv die reinste Wahrheit erzählen. Aber auch das unschuldsvollste Lamm, es kann noch so entrüstet schreien, gibt nicht immer viel und nicht immer die beste Wolle.
Genosse Mehring stützt sich in erster Linie auf „Genossen“ Brupbacher, der sich seinerseits in erster Linie auf Guillaume stützt und in zweiter Linie aus Genossen Bernstein, der sich seinerseits in erster Linie auf Guillaume und in zweiter Linie auf Nettlau stützt. In letzter Linie stützen sie sich aber alle auf Bakunin. Obwohl Guillaume Delegierter auf dem Baseler Kongress war, stützt auch er sich in erster und letzter Linie auf Bakunin. Was er selbst hinzufügt, bezieht sich auf Ereignisse, die nach dem Kongress vorfielen. Leider haben wir kein Wort von Liebknecht, Bebel und Becker, das uns eine Erklärung über jene Dinge geben könnte. Wir sind daher gezwungen, die ganze Geschichte an der Hand der Aussagen bloß einer Partei zu analysieren.
Hören wir also Bakunin. Schon Nettlau hat in seiner großen Biographie Bakunins Brief an Becker veröffentlicht, in dem die Anklage gegen Liebknecht § und Bebel erhoben wird. Es ist derselbe Brief, den Guillaume später in seiner Geschichte der Internationale in französischer Übersetzung mitteilte und der augenscheinlich auf Bernstein einen großen Eindruck machte. Nettlau hatte eine Kopie zu seiner Verfügung. Wir geben den Brief nach dem Original wieder, das wir in Beckers Papieren fanden:
Den 4. August 1869. Genf, 123 Montbrillant
Mein lieber Becker! Unser Freund Wertheim hat mir gesagt und noch gestern Abend in Deiner Gegenwart bestätigt, dass es dem Herrn Liebknecht, dem deutschen Sozialisten und Ehrenmann, gefällt, mich auf die niederträchtigste Weise zu verleumden. Er habe öffentlich in der Gegenwart Wertheims behauptet:
1. ich sei ein russischer Agent; er habe unwiderlegbare Beweise dafür;
2. meine Flucht aus Sibirien sei von der russischen Regierung begünstigt worden;
3. durch die Gründung der Alliance habe ich böswilliger Weise einen Keil in den Internationalen Arbeiterverein hineingetrieben;
4. der zu alte Becker hat sich durch den schlauen Russen Bakunin düpieren lassen.
Ich unterlasse andere Kleinigkeiten, deren eigentlich jede eine Ohrfeige verdient hätte.
Andererseits hat derselbe Freund Wertheim mir einen an Dich gerichteten Brief von Herrn Bebel gezeigt, in welchem Herr Bebel die Vermutung klar ausspricht, dass ich, wahrscheinlicher Agent Russlands, wahrscheinlicher Weise mit Herrn v. Schweitzer, als Agenten Bismarcks, unter einer Decke stecke.
Ich hätte wohl das Recht, auch Herrn Bebel zur Rechenschaft zu ziehen, da kein ehrlicher Mensch es sich erlauben darf, in leichtsinniger Weise, auf bloßes Hörensagen hin, Infamien gegen einen anderen, ihm gänzlich Unbekannten in die Welt zu schicken. Da ich aber Grund habe anzunehmen, dass der geistige Urheber aller dieser Niederträchtigkeiten der mir gleichfalls völlig unbekannte Herr Liebknecht ist, so will ich mich für heute an ihn halten.
Als Freund und Parteigenosse bitte ich Dich, lieber Becker, und als Bruder unserer Alliance, an deren Gründung Du so lebhaften Anteil genommen hast, fordere ich Dich auf, dem Herrn Liebknecht in meinem Namen zu erklären, dass ich ihm doch so viel ernst zumuten darf, um zu wissen, dass, wenn man ein Vergnügen daran findet, einen Menschen zu verleumden, man auch den Mut haben muss, dafür einzustehen, und dass man vor allem verpflichtet ist, seine Worte mit stichhaltigen Beweisen zu belegen.
Nun lasse ich ihm einen Monat Frist, um alle möglichen Beweise gegen mich zu sammeln. Auf dem Baseler Kongress wird er entweder meine Niederträchtigkeit öffentlich beweisen müssen oder von mir, in Gegenwart aller, für eine infame Canaille, auf Deutsch: für einen niederträchtigen Schurken erklärt werden.
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Dein Freund Mikhail Bakunin |
MZ. Ich bestehe darauf, lieber Freund, dass dieser Brief nicht nur den Herren Liebknecht und Bebel allein, sondern auch allen Kongressmitgliedern in Eisenach mitgeteilt und womöglich in einer öffentlichen Kongress Sitzung verlesen werde.
Die von Nettlau veröffentlichte Kopie stimmt bis auf das letzte Tüpfelchen, die von Guillaume besorgte französische Übersetzung ist mit der nur einem alten Professor der Philologie eigenen wortgetreuen Genauigkeit gemacht. In dieser Beziehung kann unseren beiden Historikern auf Grund „aller bisher geltenden Gesetze der historischen Kritik“ nur höchstes Lob gespendet werden.
Aber jedes Dokument, es mag noch so echt sein, hat noch außer seiner philologischen Hülle einen Inhalt, und die Genauigkeit seiner Wiedergebung garantiert noch gar nicht die Richtigkeit der von ihm mitgeteilten Tatsachen.
Wir wollen keine Psychologie treiben. Dass Bakunin ein sehr „schwaches Gedächtnis“ hatte, dass er die schreiendsten Widersprüche in einem Briefe nicht merkte, haben wir schon früher gesehen. So ist er auch in diesem Briefe darüber empört, dass Liebknecht „auf bloßes Hörensagen hin“ ihn verleumdet, und bemerkt nicht, dass er selbst auf „bloßes Hörensagen hin“ Liebknecht als einen „niederträchtigen Schurken“ zu bezeichnen bereit ist. Seine einzige Quelle ist die Erzählung Wertheims. Und wie unzuverlässig Wertheim war [3], hat er schon an demselben Tage erfahren.
Wir wissen nicht, was vorgekommen ist, welche Rücksprache Bakunin mit dem alten Becker hielt, dem „zu alten Becker“, wie Bakunin gewiss ohne Hintergedanken mit einer sonderbaren Delikatesse auf „bloßes Hörensagen hin“ ihm mitzuteilen beflissen war. Der alte Bürstenbinder Becker, obwohl ein echter Deutscher [4], hatte mit Bakunin nicht nur das gemein, dass auch bei ihm „sein Propagandaeifer zuweilen mit seinem Kopfe durchbrannte“. Ebenso wie Bakunin führte er „in seinem Leibe den Satan“ und hatte obendrein noch viel reichlicher als jener bewiesen, dass er ebenso bereit sei, mit-der Hand ohne Feder wie mit der Feder in der Hand zu manipulieren. Es ist wahrscheinlich, dass die beiden Alten – Physisch waren sie einander ebenbürtig – lange gestritten und gepoltert haben. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass „Papa Becker“ – vielleicht weil er nur mit seinem gesunden Verstand dachte – schon damals Bakunin auf den sonderbaren Widerspruch in seinem Briefe, hinwies, den Bernstein im Jahre 1908 nicht merkte: Liebknecht bezeichnete angeblich so kategorisch Bakunin als einen notorischen Agenten Russlands, wofür er alle Beweise in seiner Hand hatte. Wie konnte derselbe Liebknecht der „geistige Urheber“ der Bebelschen „Verleumdung“ sein, die doch nur von einem „wahrscheinlichen“ Agenten spricht. [5]
Wie dem auch sei, Bakunin war. gezwungen, einen neuen Brief zu schreiben. Dieser ist datiert „Le 6 août 1869ldquo;, also einen Tag später.
Es erübrigt sich aber, ihn hier abzudrucken. Er ist fast in allen Teilen mit dem ersten identisch. Mit einem Unterschied. Alles, was Bebel anbelangt, ist weggelassen. [6] Wie die erste Version ist er für die eventuelle Öffentlichkeit geschrieben, nicht in dem Sinne, in dem Bakunin in seinem Briefe das Wort gebraucht. Schon „in der Gegenwart Wertheims“ ist für Bakunin gleichbedeutend mit der „Öffentlichkeit“. Sogar „Genosse“ Brupbacher ahnt es und sagt vorsichtig: „Liebknecht hatte unter Freunden in einer halböffentlichen Versammlung“, die gewiss „irgendwo und irgendwann“ stattfand, Bakunin angeklagt. Leider hat bis jetzt sogar Nettlau das Protokoll, geschweige den Ort und die Zeit dieser Versammlung nicht „eruiert“. Genosse Bernstein verwandelt die Freunde in „verschiedene“, und Genosse Mehring schreibt getrost: Liebknecht kolportierte! Diesmal ist „Genosse“ Brupbacher mit seiner psychologischen Sonde glücklicher davongekommen.
Hat Becker Bakunins Wunsch erfüllt? Wir wissen es nicht, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er Liebknecht den Brief nicht zeigte. Öffentlich ist er in Eisenach nicht vorgelesen worden. Einen besseren Dienst konnte man Bakunin nicht erweisen. Liebknecht wurde zum Delegierten beim Baseler Kongress gewählt, und in ein paar Wochen sollte er Bakunin in Basel persönlich treffen.
Bebel „als Verleumder“ wird also von Bakunin selbst ausgeschaltet. Von ihm ist auch weiter keine Rede mehr. Wir hoffen, dass Nettlau in der neuen Ausgabe seines großen Werkes alle liebenswürdigen Bemerkungen, die er in diesem Zusammenhang über Bebel sagte, zurücknehmen wird. Von Guillaume und vom „Genossen Brupbacher“ können wir derartiges schwerlich erwarten.
Und jetzt gehen wir an die „Reinwaschung“ Liebknechts.
1. In diesem Punkte sind wir mit Genosse Mehring ganz einverstanden. Der Münchener Parteiverlag hat ein für alle Mal die anarchistische Legende zerstört, dass die deutsche Sozialdemokratie intolerant sei. Man nenne uns einen anarchistischen Verlag in der ganzen Welt, der so bereitwillig ein Buch herausgibt, in dem die besten Köpfe des Anarchismus in der niederträchtigsten Weise verleumdet werden!
2. Bernstein, Marx und Bakunin, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 32. Band, S. 20–21.
3. Bakunins Brief an Becker ist von einem Briefe Wertheims begleitet, der ebenfalls vom 4. August 1889 datiert ist.
4. „Marx war der große Psychologe der Westeuropäer; vor allem kannte er den deutschen Menschen seiner Zeit, und der hatte nichts Ermutigendes für einen Revolutionär.“ Eine der feinen psychologischen Beobachtungen des „Genossen“ Brupbacher. Wir wissen leider nicht, ob sie ebenso „anregend“ auf Mehring wirkte wie andere, ebenso tiefe und feine „Sondierungen“ des neuen Völkerpsychologen.
5. Auf andere Wahrscheinlichkeiten komme ich später zurück. Vorläufig sei bemerkt, dass ich bis jetzt nur einen Brief von Bebel an Becker aus den sechziger Jahren gefunden habe.
6. Von „Andererseits hat derselbe Freund“ bis „an ihn halten“ inklusive. Andere Unterschiede sind belanglose stilistische Änderungen. Auch dieser Brief wird von mir zusammen mit anderen Briefen Bakunins an Becker in kurzer Zeit veröffentlicht werden.
Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025