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Genosse Mehring hat aber noch „irgendwelche“ Anklagen gegen Marx. Zwar ist er selbst gezwungen anzuerkennen, dass trotz aller Ohrenbläsereien des berüchtigten Utin, der angeblich Bakunin als ein feiles Werkzeug des Zarismus denunzierte, Marx „diese Beschuldigungen allerdings niemals übernommen“, aber, aber „nicht widersprochen hat, dass ihm so nahestehende Politiker wie Borkheim und Liebknecht sie kolportierten“.
Wir wollen nicht mit Genosse Mehring darüber streiten, wie „nahe“ Borkheim als Politiker Marx stand und inwieweit man Marx für alle Artikel Borkheims verantwortlich machen kann. Wir mögen auch darüber hinwegsehen, dass es eben Mehrings Verdienst ist, gezeigt zu haben, dass man keineswegs Marx für alles verantwortlich machen kann, was Liebknecht in den Jahren 1866 bis 1870 tat. Wir werden überhaupt nicht die Lächerlichkeit einer Beschuldigung unterstreichen, die von Marx fordert, er sollte gleich nach dem Erscheinen eines jeden der unzähligen Artikel, in denen man ihn missversteht oder mit seinem Namen einen „Unfug treibt“, eine Berichtigung an die betreffende Redaktion schreiben. Wir werden gleichsehen, dass Marx auch in dieser Beziehung Übermenschliches geleistet hat, obwohl die Lage zur Zeit der Internationale eine ganz andere war als in den fünfziger Jahren, wo, wie es jetzt auch Mehring sagt, der zurzeit nicht an „Marxpfafferei“ leidet, Marx in der englischen Presse ritterlich Bakunin gegen den Verdacht verteidigte, ein Werkzeug des Zaren zu sein. Bakunin schmachtete jetzt nicht mehr in russischen Kerkern, er war frei, und dass er kein Lamm war, sieht man aus seiner Antwort an den berüchtigten Marx – Francis Marx, nicht Karl Marx –, als dieser gleich nach seiner Rückkehr aus Sibirien die alte Anklage erhob: er erklärte sofort in einer anderen englischen „kleinen Zeitung“, dass man auf solche Beschuldigungen nicht „mit der Feder in der Hand, sondern mit der Hand ohne Feder“ antworte. Noch mehr. Bakunin hatte viel intimere Freunde als Marx, und trotzdem, als Borkheim im Sommer 1866 Bakunin angeblich in einer bürgerlichen Zeitung als russischen Agenten denunzierte, hielt es keiner von ihnen für nötig, für ihn eine Lanze zu brechen. Warum sie so „gemein“ handelten werden wir später sehen.
Trotz alledem können wir uns auf den rigoristischen Standpunkt der Anarchisten und des Genossen Mehring stellen. Nehmen wir an, dass, wenn man Bakunin wirklich auch in den sechziger Jahren als ein feiles Werkzeug des russischen Zarismus denunzierte, Marx sittlich verpflichtet war, ohne weiteres das zu tun, was die intimsten Freunde des russischen Revolutionärs zu tun unterließen. Aber – den Rigorismus der Anarchisten – des „Genossen“ Brupbacher und des Genossen Mehring in allen Ehren – vergessen wir nicht, dass es außer den „Gesetzen der Ethik“ noch „bisher geltende Gesetze der historischen Kritik“ gibt. Man braucht wirklich nicht an einer „Marxpfafferei“ zu leiden – wir bekennen offen, dass wir gegen diese Pest nicht so immun sind – wie es Mehring jüngst geworden ist –, um erst zu fragen: ist es aber wahr, dass Borkheim und Liebknecht überall kolportierten, Bakunin sei ein russischer Agent, und dass Marx das unwidersprochen ließ? Wer behauptet das? Auf welche Tatsachen, Äußerungen, Artikel stützt sich diese ganze Anklage? Hat man wirklich das gemacht, was die „bisher geltenden Gesetze der historischen Kritik“ fordern, hat man alle diese Aussagen mit den Tatsachen konfrontiert?
Die Sache wird jetzt für Marx wirklich schlimm. Handelt es sich doch um Tatsachen, die Liebknecht, Bebel und die deutsche Sozialdemokratie angehen. Die Sache wird umso schlimmer, wenn man bedenkt, dass Genosse Eisner, der talentvollste Biograph der „Soldaten der Revolution“, dass der Genosse Mehring, der Verfasser der klassischen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, die auf einer unvergleichlichen Kenntnis der ganzen einschlägigen Literatur beruht, dass der Genosse Bernstein, Verfasser der so ausführlichen „Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung“ und einer Biographie von Ignaz Auer – dass alle diese Genossen nicht nur die ganze grausame, das feine sittliche Gefühl nicht allein des „Genossen“ Brupbacher peinlich verletzende Geschichte unwidersprochen ließen, sondern sie auch noch bestätigten. Das könnte auch einen blinden Verehrer Von Marx zum Schluss führen, dass –wie es uns der Verfasser des „verdienstlichen und nützlichen Werkes“ über „Bakunin und Marx“ sagt – „es außer ein paar Fanatikern auf der ganzen Erde niemanden geben wird“, dem diese Haltung „von Marx nicht als ein Schandfleck im Charakter von Marx erscheinen wird, der sich nie wird auswischen – höchstens psychologisch erklären lassen“.
Zwar gießt Genosse Mehring als alter Mentor ein wenig Öl auf die entrüsteten Wogen des ernst-sittlichen Gemüts des neuen Schweizer Rigoristen:
Es ist nun einmal so in dieser unvollkommenen Welt, dass Revolutionen niemals mit Rosenöl gemacht werden. Meinen Sie nur nicht, dass jeder, der kein „Muster lakonischer Sittenstrenge“ ist, schon den Verdacht rechtfertige, “ein ausgemachter Schurke zu seist. Na, na, Genosse Brupbacher!
Vielleicht wird auch „Genosse“ Brupbacher mit den Jahren aufhören, so streng gegen den armen Marx zu sein. Jetzt aber kann er sich mit Fug und Recht darauf berufen, dass nicht nur der „angesehenste Vertreter der deutschen Sozialdemokratie“ wie Genosse Bernstein, sondern auch ihr hervorragendste, geistreichster und glänzendster Historiker alle von ihm „fleißig und sorgfältig“ aus der „exaktesten“ Geschichte der Internationale abgeschriebenen Tatsachen als richtig anerkannten!
Es tut mir leid, dass ich auch diese Freude ein wenig stören muss. Trotz Mehring, trotz Bernstein, trotz Eisner werde ich gleich beweisen, dass auch diese Geschichten bei der ersten Konfrontierung mit realen Tatsachen wie Schall und Rauch in alle Winde zerstreut werden, dass man sie höchstens psychiatrisch erklären kann als Produkt einer Unzurechnungsfähigkeit aus Verfolgungswahn, einer totalen Unfähigkeit, die einfachste Tatsache nicht „objektiv“ – das ist unmöglich –, sondern annähernd richtig wiederzugeben. Wir müssen aber den Leser um ein wenig Geduld bitten, Wir haben gegen uns jetzt die Autorität nicht eines unwissenden Kompilators, sondern die Autorität eines Mehring, und wir müssen unseren Beweis mit „deutscher Gründlichkeit“ führen. Auch Genosse Mehring wird uns zugeben, dass die „Neinwaschung“ eines Bebel, Liebknecht, Marx oder Engels ebenso die Mühe lohnt wie die „Reinwaschung“ eines Schweitzer. Diese Episode verdient aber eine ausführliche Analyse noch aus einem anderen Grunde: sie bildet Len eigentlichen Ausgangspunkt des „persönlichen“ Kampfes zwischen dem Lamm Bakunin und seiner Schafherde und dem Beelzebub Marx und seiner Schwefelbande. Eben deshalb spricht der gewissenhafteste Biograph Bakunins, Nettlau, nur im Zusammenhang mit dieser Geschichte von „den Anfängen der Marxschen Intrige“.
Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025