MIA > Deutsch > Marxisten > Rjasanow > Flagge
Wir haben gesehen, dass Marx in seinem Bericht über die Beziehungen zu Bakunin ganz genau jene Tatsachen konstatiert, deren Mitteilung man bis jetzt geneigt war, wenn nicht als „Lüge“, wie die Anarchisten sagen, so doch als Lapsus memoriae.von Marx zu betrachten. [1] Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die ganze Konstruktion, die Nettlau mit einem solchen Aufwand von Mühe in seiner großen Biographie aufgebaut und die er unlängst in einer großen Abhandlung über Bakunin in Italien wiederholt hat [2], wird mit einem Male über den Haufen geworfen. Wollten wir seinem Beispiel folgen und jedes Mal, wo in Bakunins Briefen oder Zirkulären oder vertraulichen Mitteilungen ein Fehler oder Irrtum vorliegt, gleich eine Lüge, Unterschlagung, Perfidie wittern, so ginge es dem armen Bakunin sehr schlecht. Nur ein Beispiel.
Wir haben schon erwähnt, dass von Bakunin zwei Versionen über seine Begegnung mit Marx in London existieren. Eine, die schon Ende 1871 veröffentlicht wurde. In dieser findet sich aber kein Wort über das, was auf die Begegnung folgte. Man sieht dort nur, dass Bakunin 1871 wieder fest daran glaubte, es seien Marx und des letzteren Freunds gewesen, die ihn im Jahre 1853 als russischen Spitzel verleumdeten. [3]
Viel ausführlicher ist er in seinem Manuskript – Meine persönlichen Beziehungen mit Marx (zirka 1871) –, das von Nettlau angeführt wird.
Im Oktober 1864 kam ich wieder nach London. Damals bekam ich von Marx einen Brief, den ich noch habe und in dem er bei mir anfragt, ob er mich am nächsten Tage besuchen dürfe. Ich antwortete bejahend, und er kam zu mir. Wir haben uns ausgesprochen, er schwor, dass er nichts gegen mich gesagt, nichts getan und im Gegenteil für mich immer aufrichtige Freundschaft und große Achtung bewahrt habe. Ich wusste, dass alles, was er sagte, nicht wahr sei, ich habe es ihm aber wahrlich schon längst vergeben. Übrigens interessierte mich viel die Erneuerung seiner Bekanntschaft von einem anderen Standpunkt. Ich wusste, dass er in hervorragendstem Maße an der Gründung der Internationale beteiligt war. Ich hatte schon das Manifest gelesen, dass er im Namen des Generalrats verfasste, ein Manifest, das, wie alles, was aus seiner Feder stammt, wenn es nicht persönliche Polemik ist, bemerkenswert, ernst und tief war. Wir trennten uns dann äußerlich als beste Freunde, ohne dass ich ihm seinen Besuch erwiderte ... Ich wechselte mit Marx einige Briefe. Später haben wir einander aus den Augen verloren. [4]
Wollten wir mit Worten der Nettlau, Guillaume oder des vom Genossen Mehring neu entdeckten „Genossen“ Brupbacher Bakunins Haltung nach dem, was uns jetzt bekannt geworden ist, charakterisieren, so könnten wir sehr leicht eine hysterische Rede über die „frechen Lügen“ halten, die Bakunins Aussage enthält, und über die „Perfidie“, mit der dieser „Mensch ohne Hintergedanken“ Marx einen Brief zu schreiben imstande ist, wie den von uns zitierten. Jeder Mensch ist in seinem Leben mitunter gezwungen – auch in Briefen –, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, und ist wirklich nicht verpflichtet, jedem brutal seine Meinung vorzutragen. Glaubte aber Bakunin, dass Marx „formell und materiell gelogen hatte“, so wäre sein ganzes Benehmen ein neues „psychologisches Rätsel“ ... wenn er wirklich im Jahre 1871 nicht den tatsächlichen Hergang vergessen hätte und wenn er wirklich der schlaue Machiavelli gewesen wäre, als den ihn uns auch Nettlau schildert.
„Bakunin wusste ganz gut, dass es zu einem Kampfe der autoritären mit der freiheitlichen Richtung kommen muhte, und er bereitete den künftigen Sieg der freiheitlichen Richtung durch seine jahrelange private Tätigkeit kräftig vor.“ Oper wie es in der neuen Redaktion heißt: „Hierin liegt die Erklärung, warum Bakunin, der sonst die Internationale mit Freuden begrüßt hätte, sie jahrelang beiseiteließ, nicht trotzdem, sondern weil Marx, in dessen Loyalität er nun einmal kein Vertrauen hatte, sie ihm so warm empfohlen hatte.“ [5]
Nettlau weiß jetzt sehr gut, dass Marx den Bakunin nicht „belog“, obwohl er es nicht für nötig hält, in seiner neuen Darstellung Bakunins Irrtum richtigzustellen. Und er wird jetzt erfahren, dass es umgekehrt Bakunin war, der „log“, wenn er sein Eintreten in die Internationale im Jahre 1864 und sein Versprechen, für sie zu arbeiten, immer hartnäckig „unterschlug“.
Marx erzählte in seiner „konfidentiellen Mitteilung“, 1870:
Der Russe Bakunin ... hatte kurz nach der Stiftung der „Internationale“ eine Zusammenkunft mit Marx in London. Letzterer nahm ihn dort in die Gesellschaft auf, für welche Bakunin mit besten Kräften zu wirken versprach. Bakunin reiste nach Italien, erhielt dort von Marx die provisorischen Statuten und die Adresse an die arbeitenden Klassen.zugeschickt, antwortete „sehr enthusiastisch“, tat nichts.
Man vergleiche diese lakonische Erzählung von Marx mit den Bakuninschen Erzählungen – und man wird gleich den Vorzug einsehen, den das trockene Denken mit dem Verstand vor dem saftigen Denken mit dem ganzen Organismus unzweifelhaft hat.
Aber auch Marx „verschwieg“ etwas. Vielleicht „schämte“ er sich, seine „Leichtgläubigkeit“ noch schärfer bloßzustellen. Noch im April 1866 hoffte er, „durch Bakunin in Florenz Gegenminen [6] gegen Mazzini zu legen“. Und als der Streit mit den italienischen Delegierten im Generalrat fortdauerte, hoffte er noch im Mai 1865, dass Bakunin für einige lebendige Italiener sorgen werde. Es vergingen noch Monate, und die angeblich in Druck gegebene italienische Übersetzung der Inauguraladresse blieb noch immer aus.
Bakunin schwieg. Bestimmt „aus irgendwelchen Gründen“. Wirkte er vielleicht für die „Internationale“ in anderer Weise? Nein. Der General rat oder, wenn man will, Marx hat nie etwas davon erfahren. Was er bis zum September 1867 tat, ist für uns jetzt nicht wichtig. Für die Internationale tat er nichts. Zwar wissen wir jetzt, dank dem unermüdlichen Fleiß von Nettlau und verschiedenen Briefen, die das Licht der Öffentlichkeit erblickten, lange nachdem Marx seine Augen geschlossen, was Bakunin in diesen drei Jahren „tat“, wir verstehen jetzt, warum ihn während dieser drei Jahre nicht der Genfer und nicht der Lausanner Kongress der Internationale aus Italien locken konnten. Aber dass Bakunin, der jenen Kongressen fernblieb, auf die erste Kunde von der Abhaltung eines Kongresses der bürgerlichen Friedens- und Freiheitsliga in Genf zu diesem eilte, das musste selbst den „leichtgläubigen“ Marx stutzig machen, der sich erinnerte, dass Bakunin ihn noch im Jahre 1864 versichert hatte, er werde sich von jetzt an, nach dem Falle des polnischen Ausstandes, nur noch an der sozialistischen Bewegung beteiligen, und dass Bakunin diese Versicherung noch in seinem Briefe vom Februar 1866 wiederholte.
„Nach Jahren, worin man nichts von ihm hört, taucht er wieder in der Schweiz auf,“ schreibt weiter Marx. „Doch schließt er sich nicht an die ‚Internationale‘ an, sondern an die ‚Friedens- und Freiheitsliga‘.“
Marx „verschweigt“ wieder etwas. – Er will den deutschen „Praktikern“ seine unverbesserliche Leichtgläubigkeit nicht verraten. War doch Bakunin „einer der wenigen Leute, die ich nach sechzehn Jahren nicht zurück-, sondern weiterentwickelt“ gefunden hatte. Und die Russen sind schon so! Vielleicht kann man ihn noch, trotz alledem, für die „Sache“ gewinnen.
Marx, der soeben das Kapital veröffentlicht hatte, wendete sich – durch seine Frau – an Becker, um Bakunins Adresse zu erfahren.
„Ich bin überzeugt,“ schreibt Frau Marx, „dass Sie sie leicht in Genf vielleicht via Herzen auftreiben können. Er (Marx) will ihm gerne sein Buch schicken und über andere Sachen schreiben.“ [7]
Wir wissen nicht, ob Marx auch wirklich schrieb. Es steht nur fest, dass er Bakunin das Kapital, schickte. Das bestätigt auch Bakunin.
Es vergingen wieder drei Monate. Bakunin schweigt weiter. Auf diese Zeit bezieht sich folgende Stelle aus einem anderen Briefs von Frau Marx an Becker, die schon in der Neuen Zeit veröffentlicht worden ist. Leider nicht ohne Fehler. [8]
Haben Sie nichts von Bakunin gesehen und gehört? Mein Mann schickte [9] ihm als altem Hegelianer sein Buch – kein Zeichen nah und fern. Hat er’s bekommen? [10] Man kann all den Russen nicht recht trauen, halten sie’s nicht mit „Väterchen“ in Russland, so halten sie’s oder werden gehalten von Herzens Väterchen, was am Ende auf eins herauskommt. Gehopst wie gesprungen.
Nettlau ist über diese Stelle empört. Der Ton, der Ton! Er bemerkt sarkastisch, dass dieser Brief „in für Ane gebildete Dame wirklich staunenerregendem Stil“ geschrieben ist. Eine „gebildete Dame“, die einen Brief schreibt, ohne sich an alle Anstandsregeln zu halten, und mitunter ein Wort gebraucht, das eine „gut erzogene“ englische Miss „shocking“ finden kann. Es ist überhaupt in der ganzen historischen Literatur – die Hofhistoriographie nicht ausgeschlossen – schwer, Historiker zu finden, die sich an „Anständigkeit“ mit Bakunins Biographen messen können. So will der „Genosse“ Brupbacher in seinem Buche die Schimpfworte, mit denen Utin und Konsorten die Jurassier bewarfen, nicht wiederholen, weil man sie „in einem anständigen Buch nicht wiedergeben kann“. Wir werden noch Gelegenheit haben, einige Stilblüten und Schimpfworte der „Jurassier“ kennen zu lernen, die ein sehr seltsames Anständigkeitsgefühl verraten und die „Genosse“ Brupbacher verschweigt, um auf diese billige Weise sein Buch „anständiger“ zu machen.
Eins ist aber in dem Briefe von Frau Marx ganz klar. Das seltsame Schweigen Bakunins vermochte sie wie auch Marx sich nur durch Herzens Einfluss zu erklären. Bakunins Haltung konnte wirklich nicht den Glauben in die Zuverlässigkeit der „Russen“ befestigen.
Bakunin schwieg aber weiter. Jetzt lagen indes die Verhältnisse anders als früher. Bakunins Tätigkeit in der Friedens- und Freiheitsliga konnte Marx nicht unbekannt bleiben. Sogar Guillaume, sogar „Genosse“ Brupbacher sehen ein, dass „Bakunins Illusionen in Bezug auf die bürgerlichen Demokraten noch nicht geschwunden waren“. Dazu kommt noch der Umstand, dass Bakunin jetzt wieder in ein Milieu kam, wo man noch in vollem Ernst alles glaubte und alles wiederholte, was der „noble“ Vogt über Marx geschrieben, wo inan an der Realität der „Schwefelbande“ weniger zweifelte als an der Ehrlichkeit des Prinzen Napoleon.
Bakunins neue Illusionen waren schnell zerstört. Der Versuch – er entsprang seiner Initiative –, aus der Internationale ein Anhängsel der Liga zu machen, wurde auf dem Brüsseler Kongress der Internationale beinahe einstimmig abgelehnt. Das Fiasko war komplett. Nichts ist für Bakunin charakteristischer als die Art und Weise, in der er sich in einem Brief an Gustav Vogt verteidigt und gleich seine Schlappe durch die Intrigen des unsichtbaren Hauptes der seinem Adressaten so gut bekannten „Schwefelbande“ erklärt. Es half nichts. Auf dem Berner Kongress der Liga kam es zu einem Bruch mit den „Bourgeois“.
Und was macht jetzt Bakunin? Statt im Rahmen der „Internationale“ zu wirken, gründet er eine-neue Gesellschaft, die angeblich dieselben Zwecke verfolgen und trotzdem eine selbständige Organisation mit ihren eigenen Kongressen bleiben will. Die neugegründete Alliance wendete sich an den Generalrat und ersuchte um ihre Aufnahme. Die Antwort war bekanntlich abschlägig.
Wir brauchen hier nicht den Genossen Bernstein und Mehring auseinanderzusetzen, dass schon von da an der Konflikt unvermeidlich war. Sie wissen ganz gut, dass das ganze Gerede des „Genossen“ Brupbacher über die „Harmlosigkeit“ Bakunins und die „desorganisatorische“ Tätigkeit von Marx nur ein „blödes Geschwätz“ ist. Wir werden jetzt auch die Frage nicht erörtern, ob nicht hinter dieser öffentlichen, von Bakunin gestifteten Alliance noch eine geheime Gesellschaft von Anfang an steckte. [11] Für uns ist nur wichtig, festzustellen, dass wir bis jetzt bei Marx keine Spur einer „Geneigtheit zu gläubiger Hinnahme aller möglichen Verdächtigungen von Bakunins politischem Charakter“ gefunden haben.
Zwar haben unsere „exakten“ Historiker und tiefsinnigen Psychologen noch eine Tatsache zu ihrer Verfügung, um die „persönliche Animosität“ Marxens gegen Bakunin zu erklären. Marx schickte Bakunin ein Dedikationsexemplar des „Kapital“, erhielt aber kein Dankeswort. Und der „rachsüchtige“ Marx konnte das Bakunin nie vergessen!
So absurd dieses Geschwätz ist, noch absurder als das vom Genossen Mehring so stark gerügte Geschwätz des „Genossen“ Brupbacher, so fand doch auch diese „psychologische Erklärung“, die so charakteristisch für das ganze Niveau der probakunistischen Literatur, Gehör ... bei Bernstein und Mehring.
Marx ließ zwar durch den ihm befreundeten Johann Philipp Becker in Genf Bakunin ein Exemplar des Kapital überreichen, verharrte aber umso mehr in seinem Misstrauen gegen Bakunin, als dieser es – wie er behauptest aus Vergesslichkeit – unterließ, Marx eine Zeile über das Werk zukommen zu lassen. [12]
Auch für Genossen Mehring unterliegt es keinem Zweifel, dass Marx darüber sehr böse werden musste: „Bakunin aber erwiderte, wie er selbst angibt“ – was Marx angibt, das vergisst Mehring –, „den Besuch nicht und ließ auch nichts von sich hören, als ihm Marx 1867 ein Dedikationsexemplar des Kapital nach der Schweiz sandte.“
Und Marx war „rachsüchtig wie sein Gott Jahve“, wie Bakunin „selbst angibt“. Aber, aber, schreibt weiter Mehring in seiner Rechtfertigung Bakunins, „wenn dieser den Empfang des Werkes mit keinem Worte des Dankes angezeigt hatte, so schrieb er doch reichlich ein Jahr später, im Dezember 1868 an Marx“. Und was schrieb Bakunin?
Genosse Mehring wird es uns gewiss nicht übelnehmen, wenn wir diesen Brief von Bakunin etwas ausführlicher zitieren werden, als er es tut, denn in seiner Wiedergebung ist er nicht sehr verständlich:
Mein alter Freund! Serno hat mir jenen Teil Deines Briefes mitgeteilt, der mich angeht. Du fragst ihn, ob ich nach wie vor Dein Freund bleibe. Ja, mehr als je, lieber Marx, denn besser als je verstehe ich jetzt, wie sehr Du recht hast, wenn Du die Heerstraße der ökonomischen Revolution verfolgst und uns einlädst, sie zu betreten, und wenn Du jene unter uns her-absetzest, die sich in den Seitenpfaden teils nationaler, teils ausschließlich politischer Unternehmungen verirren. Ich tue jetzt dasselbe, was Du seit mehr als zwanzig Jahren tust. Seitdem feierlichen und öffentlichen Abschied, den ich den Bourgeois des Berner Kongresses gegeben, kenne ich keine andere Gesellschaft mehr, kein anderes Milieu als die Welt der Arbeiter. Mein Vaterland ist von jetzt an die „Internationale“, zu deren hervorragendsten Gründern Du gehörst. Du siehst, lieber Freund, dass ich Dein Schüler bin – und ich bin stolz, es zu sein. Das genügt. Dir meine Stellung und meine persönlichen Gesinnungen zu erklären. [13]
Das Weitere mag der Leser, in der Neuen Zeit nachlesen. Bakunin schreibt noch über die von Marx bemängelte „Gleichmachung der Klassen“, und als ob er auf den Verdacht, der in dem Briefe von Frau Marx an Becker ausgesprochen worden war— nämlich, dass er wieder mit Herzen solidarisch sei –, antworten wollte, versichert er Marx, dass jetzt selbst die privaten Beziehungen zwischen Herzen und ihm abgebrochen seien. [14]
Auf diesen Brief bekam Bakunin keine Antwort. Warum? Wir wollen keine Psychologie treiben. Man vergleiche aber den Brief vom Februar 1865 mit dem Briefe vom Dezember 1868; man bedenke, dass Marx schon vor diesem letzteren Briefe das Programm der Alliance.in seinen Händen hatte, dass denselben Grundsatz der Gleichmachung der Klassen enthielt, dessen Formulierung, wie Bakunin in jenem Briefe, schreibt, ihm und seinen Freunden in der Resolution, die sie der Liga vorgelegt hatten, durch die Dummheit des Bourgeoispublikums aufgezwungen worden war. Das sagte derselbe Bakunin, der erklärte, dass er von nun an keine andere Gesellschaft kennen werde als die Welt der Arbeiter! Und dieser Welt der Arbeiter wollte er jetzt in den Statuten der Alliance als neue Wahrheit denselben Grundsatz empfehlen, den ihm eben, wie er sagte, die Dummheit des Bourgeoispublikums aufgezwungen hatte.
Erwägt man das alles, dann wird man Marx sehr wohl begreifen, ohne ihn zu einem rachsüchtigen Scheusal zu machen.
Mehring zieht dieser Erklärung die Zuflucht zu einem „soziologischen Faktor vor, der zwar nicht die Geschichte der Völker und Klassen erklärt, aber in so manchen „Geschichten“ von Individuen eine Nolle spielt Es ist die Ohrenbläsern. Eines aber unterscheidet Mehring, von Guillaume und Nettlau. Haben diese bis jetzt in Marx den „Ohrenbläser“ gesehen, der Heß, Borkheim, Liebknecht, Bebel alle die Verleumdungen in die Ohren blies, die sie auf das Haupt des armen Bakunin ausschütteten, so entdeckt jetzt Genosse Mehring den diabolischen „Ohrenbläser“, der Marx so stark gegen Bakunin bearbeitete, dass er schon im Jahre 1868, im Monat Dezember, dem aufrichtigen, den Geist der innigsten Freundschaft atmenden Briefe Bakunins keinen Glauben schenkte. Und wer war dieser Genius in Verleumdung, der den „schlauen und kalten“ – Stieber handhabte seine psychologische Sonde ebenso gut wie „Genosse“ Brupbacher – Marx wie einen alten, schwachsinnig gewordenen Polonius mit „ollen Kamellen“ bearbeitete? Das soll uns Genosse Mehring erzählen.
„Es liegt nicht der geringste Grund vor, anzunehmen,“ sagt Mehring, „dass es Bakunin mit diesem Briefe unehrlich gemeint und Marx zu tauschen versucht habe; wenn er jemand täuschte, so nur sich selbst. Marx aber empfing den Vries nicht ohne Misstrauen. Inwieweit dabei persönliche Ohrenbläsereien mitgespielt haben, kann hier dahingestellt bleiben; dass sie mitgespielt haben, ist leider nicht zu bestreiten. Hauptschuldiger war in dieser Hinsicht ein gewisser Utin – Brupbacher nennt ihn den Sohn eines reichen Schnapshändlers –, der aus irgendwelchen.persönlichen Gründen Bakunin hasste und mit giftigen Verleumdungen verfolgte.“
Nach den bisher geltenden Gesetzen historischer Kritik zerfällt jede Darstellung in allen Punkten, wenn sie etwas behauptet, das sich nur auf einen schreienden Anachronismus stützt oder ein blindes Vertrauen in ein „blödes Geschwätz“ verrät.
Utin mag noch so schlimm sein [15], Marx mochte ihm ebenso viel Glauben schenken wie Genosse Mehring dem „Genossen“ Brupbacher, und doch beruht die ganze schauerliche Geschichte, die uns das Misstrauen von Marx schon im Dezember 1868 erklären soll, auf nichts. Und zwar nicht aus „irgendwelchen Gründen“, sondern aus einem sehr einfachen Grunde: Marx hatte damals keine Ahnung von Utin. Und wie wenig Einfluss er aus Marx und Engels noch im Jahre 1870 haben konnte, beweist folgende Stelle aus einem Briefe von Engels an Marx, die Mehring ebenso gut bekannt sein sollte wie alle anderen Stellen im Briefwechsel Marx-Engels, die auch ohne die vor: mir aufgefundenen Briefe Bakunins an Marx reichlich beweisen, wie vorsichtig man sein muss mit allem dem, was Bakunin „selbst angibt“. Und noch in größerem Masse, wenn man mit einem so „exakten“ Historiker wie dem „Genossen“ Brupbacher zu tun hat. Engels schrieb:
Das heilige Russland wird jährlich eine gewisse Anzahl dieser „karrierelosen“ Russen ausspeien, und unter dem Vorwand des principe international werden – sie sich überall bei den Arbeitern einschleichen, sich Führerrollen erschleichen, ihren bei Russen unvermeidlichen Privatintrigenkrakeel in die Sektionen tragen, und dann wird der Generalrat Arbeit genug haben. Es ist mir das schon gleich ausgefallen, dass der Utin sich all bereits bei den Genfern in eine Position zu setzen gewusst. Und diese Russen jammern darüber, dass bei ihnen zu Hause alle Stellen mit Deutschen besetzt seien!
So schrieb Engels noch am 29. April 1870, nachdem er von Marx erfahren, dass Utin und seine Freunde – nach dem Bruche mit Bakunin – eine russische Sektion der Internationale gründeten und Marx baten, sie im Generalrat zu vertreten. Der Brief, den Utin damals (12. März 1870) in der Sache schrieb, ist überhaupt der erste Brief, den Utin an Marx richtete.
Bakunin „selbst gibt an“, dass Utin seine Verleumdungskampagne erst nach dem Oktober 1869 angefangen habe. Und was die Differenzen zwischen Bakunin und Utin anbelangt, so schreibt auch Nettlau, dass „diese Sachen mit Marx und der Internationale gar nichts zu tun haben, sondern auf persönlicher ... Antipathie beruhen“.
Das ganze psychologische und chronologische Durcheinander hat Genosse Mehring aus dem „nützlichen und verdienstlichen Werk“ des von ihm entdeckten „Genossen“ Brupbacher geschöpft – obwohl er schon den Briefwechsel Marx-Engels, als einer der Redakteure, gewiss fleißig gelesen hat.
Utin kam ja auch direkt mit der Absicht nach Genf, gegen Bakunin aufzutreten und für Marx Material zu sammeln, das dieser gegen Bakunin verwenden könnte. (Brupbacher, S. 71)
Woher kam Utin? Aus London? Wann kam er? Im Jahre 1867 oder 1868 oder 1869? Alle diese Fragen bleiben ohne Antwort. Brupbacher weiß nur genau – seine psychologische Sonde kennt keine chronologischen Grenzen, keine geographischen Distanzen –, dass „Marx Utin direkt beauftragte, ihm bei der Materialbeschaffung zur Abmurksung von Bakunin behilflich zu sein“. Und Genosse Mehring, der überzeugt ist, dass der von ihm entdeckte „Genosse“ Brupbacher „im Wesentlichen seinen Beweis geführt, wenn man über manche Einzelheit auch noch mit ihm streiten mag“, ergänzt die „Abmurksungsgeschichte“ aus „irgendwelchen“ Quellen, die er leider nicht nennt und die auch allen Historikern bis jetzt unbekannt geblieben sind.
Das Beispiel des „Genossen“ Brupbacher wirkt ansteckend. Hat „Genosse“ Brupbacher entdeckt, dass Marx „aus irgendwelchen Gründen“ einer theoretischen Diskussion mit dem gefürchteten, mit seinem ganzen Organismus denkenden Bakunin aus dem Wege ging, so entdeckt jetzt Genosse Mehring, dass Utin „aus irgendwelchen Gründen“ den harmlosen Bakunin mit Verleumdungen verfolgte.
Im Namen der Wissenschaft, im Namen der historischen Kritik:
heraus mit diesen irgendwelchen. Gründen!
1. Dazu kam noch die Behauptung in der Neuen Zeit, XIX, I. Band – Ein Brief Bakunins an Marx –, dass dieser Brief (vom 22, Dezember 1868) „unseres Wissens der Einzige von Bakunin, der in dem Marxschen Nachlass zu finden“.
2. Nettlau, M. Bakunin und die Internationale in Italien bis zum Herbst 1872, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, zweiter Jahrgang, 1812.
3. „Im Jahre 1864 aber, als ich wieder nach London kam, besuchte er (Marx) mich und versicherte, dass er nie einen direkten oder indirekten Anteil an allen diesen Verleumdungen, die er als infam bezeichnete, genommen habe, Ich musste ihm glauben.“ M. Bakunin, La théologie politique de Mazzini et l’Internationale, Neuchâtel 1871. S. 46.
4. M. Nettlau, a. a. O., S. 282.
5. M. Nettlau, Bakunin, Kapitel XXXI, S. 198, und im Archiv, S. 284.
6. Hört, hört! schreit Guillaume. Der ganze Marx ist in diesem Worte!
7. Aus einem unveröffentlichten Brief an I. P. Becker. Er ist im Oktober 1867 geschrieben.
8. R. Rüegg, Aus Briefen an I. :P. Becker, Die neue Zeit, 1888, S. S07
9. In der Neuen Zeit gedruckt: schenkte.
10. In der Neuen Zeit gedruckt: Hat was bekommen?
11. In seinem Briefe an die Redaktion der Berliner Volkstribüne – anlässlich der Artikel über Die Juraföderation und M. Bakunin – schrieb Engels: „Der Verfasser ist oder tut wie ein unschuldiges Kindlein, das dem armen verleumdeten anarchistischen Schafslämmchen alles aufs Wort glaubt. Von dem, was diese Herren nicht zu sagen für gut fanden, weiß unser Gewährsmann kein Wort, also auch nichts davon, was dem ganzen Streit zum Hintergrund diente.“ Guillaume und Nettlau leugnen das.
12. Siehe Eduard Bernstein, Karl Marx und Michael Bakunin: Unter Benutzung neuerer Veröffentlichungen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 30 (1910), S. 20–21.
13. Ein Brief Bakunins an Marx, Die neue Zeit, 9. Jg., 1. Bd. (1901), H. 1,cS. 6.
14. Becker, der damals mit Bakunin befreundet war, teilte ihm gewiss den Inhalt des Briefes der Frau Marx mit, also auch ihre Frage, ob er das Kapital bekommen habe.
15. Brupbacher ist so „anständig“, noch zu unterstreichen, dass Utin ein jüdischer Rentier war. Diesem „Genossen“ ist es ebenso wenig mit der Taufe gedient wie den russischen Pogromisten, die jetzt fordern, da man auch den Söhnen der getauften Juden keine Gleichberechtigung mit den Christen gewährt. So genügt es auch dem „Genossen“ Brupbacher nicht, dass Utin den Segen des Christentums von dem ersten Tage seiner Geburt an genoss.
Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025