N. Rjasanoff

Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware

II.

Die Anarchisten stellen bekanntlich die Dinge so dar, dass, als Bakunin plötzlich in der Internationale auftauchte, der „perfide“ Marx, statt ihn theoretisch oder prinzipiell zu bekämpfen, sofort zu seinen alten erprobten Mitteln griff, die er schon in den vierziger und fünfziger Jahren so erfolgreich angewandt hatte.

Der Kampf, sagt Bakunins Biograph Nettlau, vollzog sich auf Marx’ Seite durch Gebrauch oder Missbrauch der ihm zur Verfügung gestellten offiziellen Gewalt und durch vollständige Duldung der gemeinsten Handlungsweise seiner Anhänger und Freunde; jeder theoretischen Diskussion der Grundfragen – Freiheit, Autorität, Revolution, Politik usw. – ging er aus dem Wege, und die internationalen Kongresse, deren Licht und offene Erörterungen ihm nicht günstig waren, fanden 1870 und 1871 gar nicht und 1872 in einer Karikatur eines Kongresses statt. [1]

Oder wie unser vom Genossen Mehring neu entdeckter „Genosse“ Brupbacher:

Marx muhte beweisen, dass seine Gegner gegen die Verfassung, die Grundsätze, das Heiligste der Internationale verstoßen, und dass die Gegner außerdem Lumpenkerle seien. Darauf war augenscheinlich sein Kriegsplan aufgebaut. Die Ideen von Bakunin, seine Person waren ihm feindlich. Aus irgendeinem Grunde wollte Marx aber nicht in erster Linie mit den Ideen Bakunins kämpfen. [2]

„Aus irgendeinem Grunde“ muss auch diese Voreingenommenheit gegen Marx erklärt werden, die in ihrer Konsequenz davor nicht zurückschreckt, Marx – offen, wie Nettlau, oder „verschämt“, wie „Genosse“ Brupbacher – noch als einen Feigling hinzustellen, der jeder theoretischen Diskussion aus dem Wege geht!

Der Grund ist sehr einfach. Bei Nettlau war es der feste Glaube, dass Marx aus reiner Bosheit imstande war, vor 1868 Bakunin zu verleumden. Dieser verleumderischen Bosheit Musste er dann noch in höherem Grad fähig sein, als er angeblich um seine persönliche Herrschaft in der Internationale kämpfte. Wieder und wieder erzählt man die alte Geschichte mit der Notiz in der Neuen Rheinischen Zeitung, in der Bakunin 1848 als russischer Agent bezeichnet wurde. Und doch sollte schon längst jeder ernste Historiker, der nach keinen Sensationen hascht, diese Geschichte, die Marx’ Perfidie beweisen soll, aus dem Spiele lassen. Man hätte ihm sie schon längst vergessen – und wir werden gleichsehen, dass Bakunin selbst sie als erledigt betrachtete –, hätte nicht Herzen sie ausgegraben, als er aus blauer Luft eine neue Verleumdungsaktion konstruierte, die Marx gegen Bakunin in den fünfziger Jahren unternommen haben sollte, als der letztere im Gefängnis saß.

In der Neuen Zeit habe ich vor einigen Jahren den Beweis erbracht, dass an der ganzen Geschichte, soweit sie Marx angeht, kein Wort wahr war und dass Herzen ein Opfer seiner Gedächtnisschwäche und verschiedener Verwechslungen geworden ist.

Der soeben veröffentlichte Briefwechsel zwischen Marx und Engels bringt noch andere Beweise. Jetzt sehen wir, dass auch Marx erst einige Monate nach jener Verleumdung erfuhr, dass „ein sehr stupider Urquhartite namens Marx“ existiert (Brief an Engels, 22. April 1854), derselbe, der wirklich Bakunin als einen russischen Spion denunzierte.

Wir erfahren jetzt auch, dass Marx schon damals energisch gegen alle „stupiden Freunde“ Bakunins protestierte – sie werden jetzt noch nicht alle –, die den Versuch machten, gegen ihn die alte Geschichte auszunutzen. Der Morning Advertiser druckte seine Erklärung nicht ab. Ob sie – in geänderter Form, wie Marx schreibt – im People’s Paper erschienen ist, wissen wir nicht. Aber auch in der Form, die Marx in seinem Briefe an Engels vorschlug, gibt jene Erklärung eine schlagende Antwort nicht nur auf Goldwines Artikel, der mit Herzen in das gleiche Horn stieß, sondern auf alle anderen Artikel, die seitdem erschienen sind, bis auf das Buch des „Genossen“ Brupbacher. Marx beabsichtigte, dem Morning Advertiser zu schreiben:

„Es ist besser, man hat mit einem klugen Feind als mit einem dummen Freund zu tun,“ würde Bakunin ausgerufen haben, wenn er jemals den Brief des „ausländischen“ Sancho Pansa zu Gesicht bekäme, der in Ihrer Sonnabendausgabe sich in seinen sprichwörtlichen Gemeinplätzen ergeht ...

Als die Neue Rheinische Zeitung den Pariser Brief brachte (in dem Bakunin beschuldigt wurde, er sei ein russischer Spion. Rjasanoff), war Bakunin auf freien Füßen. Wenn er 1848 recht tat, mit den öffentlichen Erklärungen der Neuen Rheinischen Zeitung zufrieden zu sein, ist der nicht ein „dummer Freund“, der 1868 an ihnen Fehl findet? Wenn er unrecht hat, sein Freundschaftsverhältnis mit dem Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung zu erneuern, ist es nicht „dumm“ von einem angeblichen Freund, feine Schwäche dem Publikum zu enthüllen? ...

Ist der nicht ein „dummer Freund“, der nicht begreifen kann, warum konservative Blätter die heimlich überall in Deutschland gegen Bakunin ausgestreuten Verleumdungen nicht veröffentlichen mochten, während das revolutionärste Blatt Deutschlands verpflichtet war, sie zu veröffentlichen?

Ist der nicht ein „dummer Freund“, der nicht Weitz, dass das „revolutionäre Empfinden“ in seiner höchsten Steigerung die „Gesetze über die Verdächtigen“ schuf und die Danton, die Desmoulins, die Anacharsis Cloots köpfte?

Ist der nicht ein „dummer Freund“, der sich nicht getraute, den Morning Advertiser dafür anzuklagen, dass er den Brief von F. M. veröffentlichte, während Bakunin in St. Petersburg eingekerkert saß, und zur selben Zeit die Neue Rheinische Zeitung anklagt, einen ähnlichen Brief 1848 veröffentlicht zu haben, als Bakunin frei und nicht in die bedauernswürdige Lage versetzt war, von einem „dummen Freund“ verteidigt zu werden? [3]

Es ist nicht nur eine Selbstverteidigung – Marx trägt persönlich.an der ganzen Geschichte der Neuen Rheinischen Zeitung keine Schuld –, sondern auch eine Rechtfertigung ihres ganzen Redaktionsstabs und darunter in erster Linie Engels’.

Tatsache ist, dass Bakunin selbst auch später die Episode mit der Neuen Rheinischen Zeitung als erledigt betrachtete. Er kam auch später, in der Zeit der Internationale nicht- mehr daraus zurück, als der Kampf zwischen ihm und Marx die heftigsten Formen annahm und dadurch wieder die Geschichte von den in der englischen Presse 1853 veröffentlichten Verleumdungen in Erinnerung brachte. Stets sprach Bakunin von Marx’ Erklärung in der Neuen Rheinischen Zeitung als von einer „vollständig befriedigenden“ (tout à fait satisfaisante)./p>

Tatsache ist, dass in den fünfziger Jahren noch viele „Deutsche in der Emigration“ – und nicht nur in der bürgerlichen – überzeugt waren, dass Bakunin ein russischer Spitzel sei, der die polnischen Revolutionäre verraten, der sich auch während des Dresdener Aufstandes sehr verdächtig benommen habe, und der, statt in einer russischen Bastille zu schmachten, im Kaukasus ein luxuriöses Leben führe. Damals waren es gerade Marx und Engels, die in der New York Tribune Bakunin als den hervorragendsten Führer des Dresdener Aufstandes schilderten.

Sie (die Aufständischen) fanden einen fähigen und kaltblütigen Führer in dem russischen Flüchtling Michael Bakunin. [4]

Man kann sagen, dass sie Bakunins Rolle übertreiben, dass ihre Aussage nicht mit anderen übereinstimmt, dass einige unmittelbar an dem Dresdener Aufstand beteiligte „Deutsche“ die Verdienste Bakunins ganz anders bewerten [5], aber Marx für fähig halten, im Oktober 1852 die oben Alterten Zeilen zu schreiben und einige Monate darauf, im August 1853, Bakunin als russischen Spitzel zu denunzieren – das zu glauben, nachdem im Jahre 1896 die deutsche Übersetzung der bis damals unbekannten Artikel erschienen ist, konnte nur noch ein so an keiner „Marxpfafferei“ leidender Forscher wie Nettlau. [6]
 

* * *

Anmerkungen

1. Max Nettlau, M. Bakunin, Berlin 1901, S. 30.

2. Brupbacher, Marx und Bakunin, S. 129.

3. In Marx’ Brief an Engels, 2. September 1863.

4. Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, S. 123.

5. So sagt Born in seinen Erinnerungen: „Dieser Russe, der absolut kein Auge, keinen Sinn für die wirklichen Verhältnisse hatte, unter denen er in Deutschland lebte, hat natürlich in Dresden auch nicht den geringsten Einfluss auf den Gang der Dinge gehabt. Er aß und trank und schlief im Rathaus, und-das war alles.“ Born war auch – was Nettlau bekannt sein soll – einer derjenigen „Deutschen in der Emigration“, die Bakunin in den fünfziger Jahren noch stärker verdächtigten.

6. Wie stark persönliche Voreingenommenheit diesem Historiker im Wege steht, dessen wissenschaftlicher Ernst und dessen Ehrlichkeit nicht zu bezweifeln sind, beweist der Umstand, dass er, um alle diese einander widersprechenden Tatsachen miteinander in Einklang zu bringen, gezwungen war, aus Marx einen Mann zu machen, der widerwillig Bakunin Lob spendete und dazu noch mit einer Hand den berüchtigten F. M. Bakunin verleumden ließ, um mit der anderen in demselben Morning Advertiser dagegen öffentlich Protest einzulegen.


Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025