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Sehen Wir uns jetzt die zweite Hälfte des Bildes an, kommen-wir auf Marx zurück, der „weg vom Sims die reiche Krone stahl und in seine Tasche steckte“!
Die wenigen jetzt noch aus jener heroischen Zeit gebliebenen alten Parteigenossen – und vielleicht auch Genosse Mehring – werden sich erinnern, dass die „Konfidentielle Mitteilung“ schon einmal eine verhängnisvolle Rolle in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie spielte. Sie war es, die das schwerste Geschütz lieferte, das die Staatsanwälte ins Feld führten, uni das „unterirdische Handeln“ der Internationale und der mit ihr solidarischen deutschen Sozialdemokratie (allerdings nur der „Eisenacher“) zu beweisen. Einmal ohne Erfolg, das zweite Mal mit einem durchschneidenden Erfolg.
Wir beginnen mit dem zweiten, dem sogenannten Hochverratsprozess.
In dem Bericht, der im Volksstaat (Nr. 23 vom 20. März 1872) über den sechsten Verhandlungstag (16. März 1872) gegeben wurde, lesen wir folgendes:
Hierauf folgt die Verlesung einer „Konfidentiellen Mitteilung“ des Generalrats der International Workingmen’s Association aus London vom 28, März 1870 über den Russen Bakunin und seine Umtriebe innerhalb der Internationale. Diesen deutsch abgefassten Schriftstücken ist ein anderes in französischer Sprache beigefügt, dessen Übertragung ebenfalls vorgetragen wird ...
Aus jener generalrätlichen Mitteilung hebt der Präsident drei Punkte als besonders gravierend hervor: 1. Es soll darin gesagt sein, „der Generalrat habe seine Hand direkt auf dem großen Hebel der proletarischen Revolution“. Woraus für den Herrn Präsidenten hervorgeht, dass sich der Generalrat selbst für ein Oberrevolutionskomitee und die ihm untergeordneten Körperschaften für Sub-Revolutionskomitees hält. 2. Es ist in dem französisch abgefassten Schriftstück von dem „ernsten unterirdischen Handeln“ des Generalrats die Rede, also, wie der Präsident glaubt, von einem Handeln, welches alle Ursache hat, sich vor dem Auge des Gesetzes zu verstecken. 3. Es ist in dem Schriftstück gesagt: Die Eisenacher sozialdemokratische Arbeiterpartei gehört zur Internationale, die Schweizerische Partei nicht – woraus der Präsident wiederum den Schluss einer offiziellen Zugehörigkeit der Partei als Gruppe der Internationale zieht.
Das war seitens des Präsidenten – des jetzt allen aus Bebels Memoiren gut bekannten Herrn Mücke – ein mit Hilfe irgendeines Stiebers oder Staatsanwaltes gut vorbereiteter Theatercoup. Die Angeklagten wussten zwar, dass die „Konfidentielle Mitteilung“ schon am 9. September 1870 bei Spier, einem Mitglied des Braunschweiger Ausschusses, beschlagnahmt war, dass sie auch in dem ungeheuren Beweismaterial gegen sie, zusammen mit anderen Briefen, steckte, sie hielten aber aus Gründen, die wir später erfahren werden, diese Sache für erledigt.
Nur dieser Umstand erklärt uns, warum – und das sieht man an Liebknechts Antwort – diese Fragen für die Angeklagten peinlich waren. Die Peinlichste aber war die zweite. Nachdem Liebknecht noch sehr geschickt die erste als dumme Mache zerfetzt hätte, fuhr er fort:
Weiter: der Ausdruck „ernstes und unterirdisches Handeln“ ist, wie aus dem Wortlaut erhellt, im Gegensatz zu scharlatanischer oberflächlicher Marktschreierei gebraucht und heißt so viel als ernstes Wirken auf der Basis der ökonomischen Verhältnisse, zur Unterscheidung von den schwülstigen Redensarten Bakunins, welche kurz vorher verurteilt wurden. Ich fasse also „unterirdisch“, wie das ja auch dem strengsten Wortsinn entspricht, als das Gegenteil von „oberflächlich“ auf. Wenn das Wort „unterirdisch“ dennoch gleichbedeutend mit „geheim“ sein sollte – und dass der Ausdruck an sich so gedeutet werden kann, muss ich zugeben –, so hätte sich der Generalrat eine Verletzung der Statuten der Internationale, die nach denselben nur öffentlich zu handeln hat, zuschulden kommen lassen. Ich kann übrigens nicht glauben, dass die „Konfidentielle Mitteilung“ von Marx herrührt. Marx ist Sekretär für Deutschland, aber nicht für die Schweiz; und es wird ohne Zweifel der Sekretär für die Schweiz das zunächst für die Schweiz bestimmte Schriftstück verfasst haben. Jedenfalls hat man kein Recht, Marx konspiratorische Tendenzen unterzuschieben, da dieser stets ein Gegner von Konspirationen gewesen ist und dies zu Öfteren Malen in schärfster Weise erklärt hat.
Liebknechts „Ausreden“ halfen ihm nichts, der Staatsanwalt Hoffmann erklärte:
Während früher die Kommunisten heimlich vorgegangen waren, änderte die Internationale insofern das Programm, als sie die Öffentlichkeit predigte. Dieser ausgesprochenen Tendenz der Öffentlichkeit steht die Tatsache gegenüber, dass der Generalrat in konfidentiellen Mitteilungen selbst erklärte: seine Tätigkeit sei eine unterirdische – er habe die Hand auf dem Hebel der Revolution – der Generalrat werde bei etwaigen Revolutionen maßgebend eintreten.
„Fern im Süd“ in der Schweiz saß aber ein noch viel gefährlicherer Ankläger, ebenso jung, ebenso sentimental und ebenso unerbittlich wie Saint Just, es war Guillaume. Dieser schrieb in seinem Memoire:.
Der Präsident des Schwurgerichtes sagt, dass in der Konfidentiellen Mitteilung des Generalrats von einem „ernsten unterirdischen Handeln“ des Generalrats gesprochen wird, und fragt Liebknecht, wie man diese Phrase verstehen soll.
Und was antwortete Liebknecht?
Es folgt eine „verhängnisvolle“ Analyse aller Ausreden Liebknechts. Schonungslos werden sie Wort für Wort zerfetzt, zermalmt, vernichtet. Wie zweimal zwei vier sind, beweist Guillaume, dass der Präsident und der Staatsanwalt vollauf recht hatten, von dem „ernsten unterirdischen Handeln“ des Generalrats zu sprechen. Ja, Marx war ein Konspirator, der „unterirdisches Handeln“ trieb. Aber der Präsident und der Staatsanwalt haben diese Worte arg missverstanden. Nicht um ein „unterirdisches Handeln“ gegen die bürgerliche Gesellschaft handelt es sich in dieser geheimnisvollen Konfidentiellen Mitteilung – „wir Anarchisten sind auch Todfeinde und viel radikalere Lieser Gesellschaft“ –, sondern um „unterirdisches Handeln“ der Marxschen Clique gegen die ganze Internationale.
Eine geheime, unpersönliche und diktatorische Organisation, die durch keine anderen Rücksichten geleitet wird als durch Eigeninteresse, die das Moralgefühl aller derer verdirbt, die ihr als Instrumente dienen, die schonungslos alles zerschmettert- was ihr in den Weg kommt; eine derartige Organisation ist zu allem fähig, und alle Infamien, die uns empören könnten, wenn sie von einem Menschen verübt würden, dessen Urteile und Taten frei sind, wundern uns nicht mehr von dieser jesuitischen Organisation.
Und „den ersten materiellen und unwiderlegbaren Beweis des unterirdischen Handelns der Marxschen Koterie“ fand unser neuer Saint Just – der auch ebenso prompt den Londoner Pitt hinter Dantons Rücken entdeckte – in zwei Worten des Präsidenten des Leipziger Schwurgerichtes. [1]
Es ist keine Mystifikation, und wir befinden uns nicht in einem Irrenhaus. Und ist dies Tollheit, hat es doch Methode.
Ebenso wenig wie Guillaume hatte Nettlau eine Ahnung von dem Inhalt der „Konfidentiellen“, Zwar ist eine separate Ausgabe des „Hochverratsprozesses“ erschienen, aber Liebknecht und Bebel waren so perfid, auch weiter die „Konfidentielle“ zu verheimlichen. „Es gelang uns nicht, ein Exemplar der „Konfidentiellen Mitteilung“ irgendwo aufzutreiben, und eine gerichtliche Kopie war zu teuer.“
Angesichts dieser Ausrede blieb Nettlau nichts übrig, als eine „Hypothese“. Auf „irgendwelche“ Quellen gestützt, stellte er „fest“, dass das gesamte von Utin für Marx aufgetriebene Material über Bakunin und Netschajeff „in der bis jetzt unbekannt gebliebenen sogenannten ‚Konfidentiellen Mitteilung‘ enthalten sei“.
Zum Glücke gibt es noch auf dieser Erde Gerechtigkeit. Marx wurde von einem seiner verknöchertsten Schüler entlarvt. Am 7. Januar 1899 schrieb Nettlau seinen Herzenswunsch nieder, das „tiefe Geheimnis der Konfidentiellen Mitteilung“ möge durch einen „Zufall enthüllt“ werden, und kaum drei Jahre später, am 12. Juli 1902, lockte Kautsky die „Konfidentielle“ aus dem „tiefsten Geheimnis“ hervor.
Und was stellte sich heraus? Die geheimnisvolle „Konfidentielle“ war nichts anderes als das Zirkular von: 16. Januar, als die „Communication privée“, auf Deutsch: „Konfidentielle Mitteilung“, die Nettlau in sein monumentales Werk mit seiner eigenen Hand an demselben 7. Januar 1899 eintrug, an dem er der Sehnsucht nach Enthüllung des Geheimnisses Ausdruck gab, und zwar findet sich diese „Sehnsucht“ auf der Seite 379, die „Communication privée“ auf den Seiten 378 bis 3771
Und wo fand Nettlau das geheimnisvolle Dokument? In den Papieren eines der intimsten Freunde Bakunins, des Russen Schukowski, der mit Guillaume zu dem Haager Kongress von den Bakunisten delegiert war.
Was sagte Guillaume? Hat er in der „Konfidentiellen“, die in der Neuen Zeit abgedruckt war, das Zirkular, das er bei Nettlau im Jahre 1900 las und das er angeblich bis zu jener Zeit nie gesehen, gleich erkannt?
Gewiss. Man höre nur folgende Erzählung. Eine vernichtendere Kritik des „Musters ruhiger und sachlicher Darstellung“, wie Nettlau das „Memoire“ nennt, kann man sich nicht vorstellen. AIs eine Selbstkritik hätte sie höchstes Lob verdient, wollte nicht der Verfasser alle seine Schlüsse festhalten, nachdem er sich überzeugen konnte, dass seine Tatsachen beruhen auf ... nichts. [2]
Auf dem Prozess zu Leipzig (Sitzung vom 16. März 1872) sprach der Präsident von einer Konfidentiellen Mitteilung des Generalrats, datiert 28. März 1872, die teils in deutscher, teils in französischer Sprache redigiert wurde. Im französischen Teil (der nichts anderes war als die Konfidentielle Mitteilung vom 1. Januar 1870), sagte der Präsident, war die Rede von einer „ernsten unterirdischen Arbeit“ des Generalrats. Zu jener Zeit war mir der Zusammenhang unbekannt, und ich glaubte, dass der isolierte Ausdruck von der „unterirdischen Arbeit“ sich auf eine geheime und diktatorische Organisation bezieht, durch deren Vermittlung die Marxsche Koterie die Internationale zu leiten versuchte, und in diesem Sinne habe ich diesen Ausdruck in meinem Memoire kommentiert. [3]
Der Leser sieht, dass ich ihn oben nicht mystifizierte. Auch ein Gigant wie Marx irrte sich, warum nicht ein Guillaume?
Aber dieses „Muster ruhiger und sachlicher Darstellung“
bildet noch bis jetzt die Quelle, aus der alle Nichtmarxisten und
auch alle Marxisten, die an Marxpfafferei nicht leiden – direkt
oder indirekt – ihre Kenntnisse über die Geschichte der
Internationale schöpfen!
1. Mémoire présenté par la fédération jurassienne de l’Association Internationale des Travailleurs à toutes les fédérations de l’Internationale, Sonvillier 1873, S. 82, 88, 241 bis 244.
2. Um Missverständnissen vorzubeugen: so lächerlich es ist, das „Memoire“ als wichtigsten historischen Beitrag zur Geschichte der Internationale zu betrachten, so unzweifelhaft bildet es eines der wichtigsten Dokumente dieser Geschichte. Als solches muss es ebenso kritisch benützt werden wie jedes andere Dokument.
3. Guillaume, L’Internationale, Tome Premier, S. 268 bis 266.
Zuletzt aktualisiert am 11. Januar 2025