N. Rjasanoff

Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware

X.

Sie vergessen aber – wird man mir entgegnen – die berüchtigte „Konfidentielle Mitteilung“, die Marx am 28. März 1870 an seine deutschen Anhänger schickte und in der er den Namen des Generalrats in unverschämtester Weise missbrauchte, um Bakunin hinterrücks zu verleumden, ohne dass dieser und seine Freunde etwas davon wussten.

Es ist diese „Konfidentielle Mitteilung“, die „Genosse“ Brupbacher abdruckte, um „die Größe der Harmlosigkeit von Bakunin am besten zu beleuchten“, und die er als Schandfleck im Charakter von Marx erklärt, der „sich nie wird auswischen, höchstens psychologisch erklären lassen“.

Seit vierzig Jahren wird diese „Konfidentielle Mitteilung“ gegen Marx ausgespielt. Zwar hatten die Urheber dieser Anklage dreißig Jahre keine Ahnung von ihrem Inhalt, sie wiederholten aber immer und immer das Wort „konfidentiell“, und die Wiederholung ist bekanntlich die stärkste rhetorische Figur, die eine ungeheure suggestive Kraft besitzt.

Indignatio facit poetam. [1] So hat auch diese Tatsache den Anstoß zu einem plastischen Bilde gegeben, das auf die Leser viel mehr wirkt als der stärkste logische Beweis.

Da saß in London der perfide Marx und sandte seine „Konfidentielle Mitteilung“ wenn nicht in die Welt, so wenigstens an Liebknecht und Konsorten; und in Lokarno saß der ganz harmlose Bakunin, der nichts ahnend das von ihm bewunderte Kapital seines von ihm hochgeschätzten Lehrers übersetzte, mit dem in Frieden zu leben sein heißester Wunsch war.

So saß auch in Berlin der viel verleumdete Schweitzer und schrieb seine glänzenden Artikel über das Kapital, und in Leipzig saß das Mundstück von Marx, Liebknecht, der ihn für einen Agenten Bismarcks erklärte.

Das Bild war zu verlockend, und Genosse Mehring konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er schrieb:

Im März 1870, als Marx sein erstes Rundschreiben (das heißt die „Konfidentielle“) von London gegen den „höchst gefährlichen Intriganten“ erließ, schwitzte Bakunin in Locarno über dem Versuch, das Kapital ins Russische zu übersehen.

Seht hier auf dies Gemälde – und auf dies.
Seht, welche Anmut wohnt auf diesen Brauen!
Und hier ist er, der gleicht der brand’gen Ähre! [2]

Look here at this painting – and at this.
See what grace resides on these brows!
And here he is, who resembles the scorched ear of corn!

Genosse Mehring ist bekanntlich ein prinzipieller Gegner der Gänsefüßchen. In diesem Falle machte er eine Ausnahme – um die Anmut des ganz harmlosen Bakunin noch rührender zu machen.

Wir haben gesehen, was Bakunin über die kleinen und großen deutschen Juden im Oktober 1869 schrieb; wir wissen jetzt, warum er damals Marx „schonte“ und „lobte“; wir kennen jetzt feinen schlauen Feldzugsplan gegen Marx, wie er ihn Herzen, kurz nach dem Baseler Kongress, mitteilte.

In diese Zeit fällt sein Versuch, das Kapital zu übersetzen. Dass Bakunin diese Arbeit übernahm nicht „aus der Achtung vor dem wissenschaftlichen Wert“ des Kapitals, konnte man schon aus Bernsteins Artikel erfahren. Erst im Dezember kam er zu der Arbeit. Wahr ist nur, dass er dabei „schwitzte“. Und schon im Februar 1870 brach er sie ab.

Warum, bleibe jetzt dahingestellt. Am 3. März 1870 erhielt derselbe Russe, der diese Arbeit für Bakunin besorgte, das berühmte „authentische Dokument“, durch das Marx auf dem Haager Kongress eine „gemeine Gaunerei Bakunins beweisen“ wollte, weil Bakunin „bei seinem Verleger mit einem Vorschuss hängen geblieben war“. Bisher war nur bekannt, dass Netschajeff, im Auftrag Bakunins, mitteilen sollte, dass dieser auf die Arbeit verzichte.

Genosse Mehring erzählt uns, dass dieses Dokument vom Genossen Bernstein veröffentlicht worden ist; es beweise aber nichts Ehrenrühriges gegen Bakunin. Mag sein. Wir sind aber überzeugt, dass nicht nur Guillaume, nicht nur Nettlau, nicht nur alle Freunde Bakunins, die jetzt noch leben, sondern auch Genosse Bernstein, der angeblich dieses Dokument veröffentlichte, ihm sehr dankbar sein werden, wenn er die Zeitschrift und das Datum angibt, wo und wann dieses „authentische Dokument“ publiziert wurde, von dem er so kategorisch spricht.

Einstweilen vermute ich, dass Genosse Mehring seine neue Kenntnis aus denselben „irgendwelchen“ Quellen schöpfte, aus denen er auch erfuhr, dass Bakunin mit der Übersetzung nicht fertig wurde, weil „gleich darauf der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, der und dessen Folgen Bakunin in einen Strudel heftiger Agitation rissen“. Dass alles das zu „irgendeinem“ Zwecke notwendig sei, verstehen wir sehr gut, denn was wäre sonst aus dem berühmten Bilde geworden – Marx als Klaudius, Bakunin als Hamlets Vater, die deutsche Sozialdemokratie als Königin und Mehring als Hamlet, der ihr jetzt wieder einreden will, sie soll den schlechteren Teil hinauswerfen und umso reiner mit der anderen Hälfte leben!

Nein. Zusammen mit der Königin und mit viel mehr Recht können wir „verknöcherte“ Marxisten Hamlet Mehring, antworten:

Dies ist nur einzig Einbildung von dir,
Und mir zulieb vergiß die neue Laune! [3]

This is just your imagination,
and for my sake forget this new whim of yours!

Nein, Genosse Mehring, beruhigen Sie sich. So boshaft Marx war, hat er nie den Versuch gemacht, Bakunin „um seinen ehrlichen Namen zu bringen“, weil dieser „bei seinem Verleger mit einem Vorschuss von 800 Rubel hängen geblieben ist“. Aus einem einfachen Grunde. Marx war auch ein „Literat“ und wusste ganz gut, dass „viele Schriftsteller, und darunter die berühmtesten Namen, schon mal mit einem Vorschuss bei ihrem Verleger hängen geblieben sind“. Ein Philister und Spießbürger war Marx keineswegs. Er war aber nicht nur „Literat“, sondern auch der geistige Leiter und Berater wenn nicht der zahlreichsten, so der weitverzweigtesten und kompliziertesten Arbeiterorganisation, die bis dahin bestand. Und er hatte ein hohes moralisches Verantwortungsgefühl vor der Arbeiterklasse und vor der Geschichte!

Hält aber auch diese Behauptung des Genossen Mehring die Berührung mit den harten Tatsachen nicht aus, so hat sie einen unzweifelhaften Vorzug. Sie ist kein „Plagiat“. Die Ehre dieser philisterhaften und spießbürgerlichen Erklärung des Haager Zwischenfalles gebührt ausschließlich Mehring!
 

* * *

Anmerkungen

1. “Indignation makes a poet.” Marx’s paraphrase of Juvenal’s quote: “Si natura negat, facit indignatio versum”. “Even if nature says no, indignation makes me write verse.”

2. A paraphrase of Shakespeare’s Hamlet, Act 3, scene 4:

“Look here upon this picture and on this,
The counterfeit presentment of two brothers.
See what a grace was seated on this brow, [...]
Here is your husband, like a mildewed ear“

3. A paraphrase of Shakespeare’s Hamlet, Act 3, scene 4:

“This is the very coinage of your brain.
This bodiless creation ecstasy
Is very cunning in.“


Zuletzt aktualisiert am 11. Januar 2025