N. Rjasanoff

Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware

Teil I.

Die Neue Zeit brachte vor einigen Wochen zwei Rezensionen über das Buch von Brupbacher Marx und Bakunin. [1] Wir haben nicht die Absicht, eine dritte zu schreiben, wir halten es aber für unsere Pflicht, einer neuen Legendenbildung entgegenzutreten, die umso verwirrender wirken kann, als uns nun die Gefahr droht, dass unter sozialdemokratischer Flagge in die Parteiliteratur alle die Beschuldigungen eingeschmuggelt werden, die bisher von anarchistischer Seite gegen Engels und Marx, Bebel und Liebknecht vorgebracht wurden, die Beschuldigungen der Verleumdungssucht, der unverschämten Lügenhaftigkeit, der Fälschungen, Unterschlagungen, unerhörter Verirrungen des Moralgefühls. Und dass die Flagge auch die faulste Ware decken kann, beweist am besten die Rezension des Genossen Mehring. [2] Es genügte, dass eine kritiklose Kompilation, die sich in erster Linie auf ein so objektives Werk wie Guillaumes Buch über die Internationale [3] stützt, in einem Parteiverlag erscheint, dass so ein ungemein scharfsinniger Kritiker wie Genosse Mehring in einem Anarchisten, dem jedes Verständnis für die moderne Arbeiterbewegung abgeht, einen Genossen entdeckt, der „eine Schuld einlöst oder eine Schuld einlösen hilft, an deren Einlösung namentlich auch der marxistischen Literatur im engeren Sinne des Wortes gelegen sein muss“!

Stellt man sich auf den Standpunkt des zweiten Rezensenten, des Genossen Stiekloff [4], so kann man noch zum Schlüsse gelangen, dass, so schlecht das Buch als eine historische Arbeit ist, der Verfasser doch im Unterschied von anderen anarchistischen Historikern der Internationale sich bemüht hat, auch andere Ursachen der Niederlage des Bakunismus in Betracht zu ziehen als die Niederträchtigkeit eines Marx. Betrachtet man das Buch von Brupbacher unter diesem Gesichtspunkt, so steht es sicherlich auf einem höheren Niveau als die Schriften seines Gesinnungsgenossen, Pierre Ramus. [5]

Zwar schreibt „Genosse“ – so meint Genosse Mehring – Brupbacher:

Es steckt ein ihm (Marx) außer dem wissenschaftlichen Marxisten noch der politische Putschist und Jakobiner, und diese Seite von Marx war das eigentlich des organisatorische oder das die Desorganisation beschleunigen de Element in der Internationale, viel mehr als die Anschauungen von Bakunin, die vielleicht bei einigem Geschick von Seiten von Marx hätten existieren können innerhalb der Internationale. [6]

Zwar schreibt Genosse Mehring in seiner Rezension, dass Genossin Zetkin „mit Recht das blöde Geschwätz zurückweist. dass Marxens ‚Diktatur‘ die Internationale Arbeiterassoziation zugrunde gerichtet haben soll“, aber das hindert ihn nicht, zu sagen, dass „Genosse“ Brupbacher eine „fleißige und sorgfältige Studie“, „ein nützliches und verdienstliches Werk“ geleistet hat, und es hindert ihn auch nicht, beinahe alles Zu übernehmen, was Brupbacher – aus Guillaumes Buch – auftischt. Wir werden gleich beweisen, dass, so sehr es unangebracht ist, sich durch die „Marxpfafferei“ irreleiten zu lassen oder in „die Seelenangst der Strümpfe strickenden Betschwestern, die jeden Fleck an ihrem Heiligen vertuschen möchten“, zu verfallen, es ebenso unangebracht ist, das andere „blöde Geschwätz“ kritiklos zu wiederholen und die großen Toten mit moralisch verzierten und pharisäisch verbrämten Schmähungen zu überschütten. [7]

Man kann sich keinen größeren Triumph für die Anarchisten wünschen, als wenn die Sozialdemokraten selbst zu dem Schlüsse kommen oder das „blöde Geschwätz“ nachreden, dass ihre Meister unter anderem auch Meister in der politischen Intrige und in niederträchtigsten Verleumdungen waren, die ein Forscher wie „Genosse“ Brupbacher sogar sich „schämt“ zu zitieren. Den Anfang mit den Zugeständnissen an die Anarchisten machte Genosse Bernstein schon im Jahre 1908, und die Anarchisten, Guillaume voran, nützten sie, die auf ungenügender Kenntnis der betreffenden Literatur beruhten, sofort aus. [8] Zwar sagt Bernstein, dass Marx auch unter ethischen Gesichtspunkten die höhere Sache vertreten habe: das Recht einer auf wissenschaftliches Forschen gegründeten gegenüber einer dilettantenhaft betriebenen Politik. Nicht jeder aber kann sich so leicht mit einer Politik versöhnen, die, so hoch und schön ihr Ziel ist, es nicht verschmäht, „schmutzige“, „hässliche“ oder, wie es Genosse Mehring euphemistisch sagt, „unschöne“ Mittel zu gebrauchen. Nicht jeder kann es über sich bringen, ruhig zu wiederholen: es ist schon alles dagewesen, oder, wie Genosse Mehring sagt: „Es ist nun einmal so in dieser unvollkommenen Welt, dass Revolutionen niemals mit Rosenöl gemacht werden.“ Umgekehrt. Er wird sich – und nicht mit Unrecht – nur entrüsten, wenn er liest, wie leicht sogar ein so stark ethisch veranlagter Historiker wie Genosse Eisner ruhig schreibt: „Das allzu strenge moralische Urteil, das Brupbacher über gewisse peinliche Machenschaften Marxens fällt, wäre nur gerechtfertigt, wenn sie – was ja nicht ganz selten in inneren Parteikämpfen geschieht– angewendet worden wären, nur um eine unbequeme Persönlichkeit zu beseitigen.“ Hat man doch auch in der Parteiliteratur diesen Versuch, Marx’ moralisches „Verderbnis“ nur dem „irrenden Zwang“ zu beschönigen, als einen „jesuitischen“ bezeichnet.

„Drehen Sie sich, wie Sie wollen,“ wird ihnen allen – Bernstein, Mehring, Eisner – der alte Guillaume sagen, der noch bis jetzt überzeugt ist, dass Marx ein moralisches Ungeheuer war, „es steht fest, dass Marx vom Standpunkt der einfachen, menschlichen Ethik, derselben Ethik, die in den von ihm geschriebenen Statuten der Internationale jedem Mitglied als Pflicht auferlegt wird, immer in seinem Kampfe gegen den schuldlosen Bakunin als ein frecher, niederträchtiger Verleumder gehandelt hat“.

Und der aIte Hasser hat von seinem Standpunkt vollständig recht. Der Streit zwischen Bakunin und Marx kann nicht nach der berühmten Formel: „einerseits – andererseits“ oder nach der noch abgeschmackteren: „Marx ist zwar wissenschaftlicher, Bakunin aber sympathischer“ beurteilt werden. Man kann noch so „objektiv“ die menschliche Geschichte betrachten, es bleibt eine Tatsache, dass die profane Geschichte nicht von Menschen an sich, sondern von bestimmten Menschen gemacht wird, und will man einen bestimmten Abschnitt dieser profanen, konkreten Geschichte erforschen, so muss man auch den „subjektiven Faktor“ dieser Geschichte einer schonungslosen Analyse unterziehen – eben sowohl die „Massen“, die „Klassen“ wie die persönlichen Träger dieser bestimmten Klassenverhältnisse. So notwendig der Französisch-Deutsche Krieg von 1870 war, so stark der Sieg der Deutschen über die Franzosen in den damaligen Verhältnissen begründet war, kann der Historiker nicht umhin, auch die „subjektive“ Tätigkeit eines Bismarck kritisch zu beleuchten, er kann nicht etwa zum Beispiel die Episode mit der Emser Depesche als eine vom „höheren Standpunkt“ belanglose Sache betrachten. Und was dem „Sieger“ Bismarck recht ist, ist auch dem „Sieger“ Marx billig.

Und jeder Historiker der alten Internationale ist verpflichtet, nicht nur die objektiven Bedingungen, unter denen sich der Kampf zwischen Bakunin und Marx abwickelte, im Allgemeinen und im Besonderen für jedes Land, sondern auch den inneren prinzipiellen Inhalt und die „äußere“ Form, in der er von beiden Seiten geführt wurde, gründlich zu analysieren und sein Urteil zu fällen. Für die Arbeiterbewegung ist es ebenso wichtig, nicht nur die historische Notwendigkeit und Bedingtheit ihres Kampfes zu erfassen, sondern auch die Methoden, die Mittel dieses Kampfes zu prüfen und nur diejenigen zu wählen, die im Einklang mit ihrem großen Ziele stehen.

Es ist leider der letztere Umstand, der leicht in der marxistischen Literatur vergessen wird. Ist es in ihr ein allgemein anerkanntes „Dogma“ geworden, dass sich in Bakunin und Marx so grundverschiedene Prinzipien verkörperten, dass sie über kurz oder lang zusammenstoßen mussten – die Anarchisten sehen es noch bis jetzt nicht ein –, so ist man gewöhnlich geneigt, diese Prinzipien auf einem rein theoretischen, programmatischen Gebiet zu suchen. Aber so wichtig der Unterschied in der Bewertung der politischen Tätigkeit der Arbeiterklasse und des „Endziels“ war, viel wichtiger war der Unterschied in der Bewertung der Mittelsteren man sich zu der Durchsetzung dieses Endziels bedienen darf. Man übersieht, dass, als Bakunin endlich. nach fünfundzwanzig Jahren revolutionärer Tätigkeit zum ersten Mal dazu überging, seine ganze Energie der Arbeiterbewegung zu widmen, für deren spezifische Forderungen er kein Verständnis hatte, er nichts anderes vermochte und anstrebte, als diese neue Bewegung in die alte Zwangsjacke der konspiratorischen Geheimbündelei einzuzwängen. Man vergisst, dass Bakunin der leidenschaftlichste Vertreter derjenigen Taktik war, die sich bewusst aller Mittel bediente, die „dein natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes“, um einen Ausdruck des Hainfelder Programms zu gebrauchen, nicht nur nicht entsprechen, sondern direkt ins Gesicht schlagen; dass Bakunin der konsequenteste Verfechter der doppelten Moral war, die der „bürgerlichen“ Welt gegenüber alles für erlaubt hält, was ein Verbrechen in dem engeren Zirkel der „Gesinnungsgenossen“ wäre; dass Bakunin, der sich so viel über den souveränen Willen des „Volkes“, der „Masse“ verbreitete, ihr gegenüber alle Mittel, die auf die „Phantasie“ wirken, nicht nur für erlaubt, sondern auch für geboten hielt. Der Kampf zwischen Bakunin und Marx war daher nicht nur ein Kampf um diese oder jene Organisationsform, um diese oder jene Form der zukünftigen Gesellschaft, er war auch im eminentesten Sinne des Wortes ein ethischer Kampf ein Kampf zwischen zwei ethischen Prinzipien. Nur durch den Sieg der Marxschen Ethik über die Bakuninsche ist es ein für alle Mal unmöglich geworden, dass die Arbeiterbewegung, die „den Ruf nach Freiheit dem Schrei nach Brot unterordnete“, dass die Massen, die „breiten Massen“ des „moralisch unentwickelten Proletariats“ mit „wenig entwickeltem Willensvermögen“ usw. usw. – man lese es nach in dem „nützlichen und verdienstlichen Werk“ des „Genossen“ Brupbacher— auch von den mit reinsten Absichten wirkenden Revolutionären „bloß als Mittel“ gebraucht und missbraucht werden konnten. Nur der Sieg der Marxschen Ethik über Bakunins Ethik hat es ermöglicht, dass das Postulat der individuellen Freiheit, dass der Begriff der freien Solidarität – um mit den „ethischen“ Anarchisten zu sprechen – auch das „Sittengesetz“ der größten Massenbewegung wurde, die die Geschichte kennt, und nicht nur einiger Individuen, so sehr diese sich als „klarsehende“ und „einen großen Horizont umfassende Persönlichkeiten“ gebärden möchten. Nur der Sieg der Marxschen Ethik über Bakunins Ethik hat es ermöglicht, dass schon jetzt, trotz des furchtbaren Druckes des täglichen Kampfes ums Brot, das „moralisch unentwickelte“ und mit „wenig entwickeltem Willens-Vermögen“ begabte Proletariat eine solche Menge „kluger, selbsttätiger Menschen“ hervorbrachte, wie es noch keiner anderen revolutionären Bewegung, selbst unter der Führung so revolutionärer Giganten wie Bakunin, je gelungen ist.

Aber so himmelhoch auch die Ethik Marx’ über Bakunins Ethik steht, kein „irrender Zwang“ hätte Marx’ Kampfesweise gegen Bakunin rechtfertigen können, wäre sie wirklich so „infam“ gewesen, wie es die Anarchisten seit vielen Jahren behaupten. Man braucht wirklich nicht an „Marxpfafferei“ zu leiden, um auch für Marx dasselbe Recht zu fordern, das man für Bakunin mit einem so großen Aufwand von moralischer Entrüstung in Anspruch nimmt.

Schon der Umstand, dass Marx – der in viel größerem Masse als Bakunin den Namen des „bestverleumdeten Mannes“ des neunzehnten Jahrhunderts verdient – es nur in sehr seltenen Fällen für notwendig hielt, auf persönliche Angriffe zu reagieren, sollte auch diejenigen Schriftsteller, die an keiner „Marxpfafferei“ leiden, vorsichtiger machen, wenn sie die Angriffe der Anhänger Bakunins wiederholen. Nach den bisher geltenden Gesetzen historischer Kritik müssen die Aussagen jedes Zeugen, der seine eigene Sache führt – er mag seine Wahrheitsliebe noch so sehr beteuern und braucht wirklich subjektiv kein Lügner zu sein –, nicht Weniger streng unter die Lupe genommen werden wie die Aussagen seines Gegners. Und Vorsicht war noch mehr am Platze, weil Genosse Mehring schon Gelegenheit gehabt hat, sich zu überzeugen, wie stark einige Geschichten von bakunistischer Seite aufgebauscht werden. Wir werden ihm im Folgenden zeigen, wie viele Tatsachen, die er als wahr annimmt, sich als falsch erweisen, „womit“ – wie er es ganz richtig bemerkte in seiner glänzenden Kritik eines Artikels von Oncken [9] – „nach den bisher geltenden Gesetzen historischer Kritik die (bakunistische) Darstellung auch in den Punkten zerfällt, in denen sie sich nicht oder nicht mehr kontrollieren lässt“.
 

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Anmerkungen

1. Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation, Mit fünf Bildern. München bei G. Birk & Co. m. b. H. 202 Seiten. 2 Mark.

2. Franz Mehring, Neue Schriften über Marx, Die neue Zeit / Feuilleton, 31. Jg., 2. Bd. (1913), H. 67, S. 985–991.

3. James Guillaume, ’Internationale; documents et souvenirs (1864–1878), Paris : Société nouvelle de librairie et d’édition, 1905–10, 4 volumes in 2.

4. G. Stiekloff, Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation, München, G. Birk & Co. 202 S., mit 5 Bildern“ [Rezension], Die neue Zeit, 31. Jg., 2. Bd. (1913), H. 52, S. 1023&ndas;1025.]

5. A reference to Pierre Ramus (a pseudonym of Rudolf Großmann, 1882–1942), an Austrian activist and theorist of anarchism.

6. Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation. Mit fünf Bildern. München bei G. Birk & Co. m. b. H. 1922, Unveränderte Nachdruck der Ausgabe. München 1913, p. 122.

7. Franz Mehring, Neue Schriften über Marx, Die neue Zeit / 31. Jg., 2. Bd. (1913), H. 67, S. 986.

8. Seitdem hat Genosse Bernstein Gelegenheit gehabt, in den Briefwechsel zwischen Engels und Marx Einsicht zu nehmen, und er hat, wie aus seinen Einleitungen zu ersehen ist, seine Ansichten „revidiert“.

9. Max Nettlau, Michael Bakunin: Eine biographische Skizze, Berlin: Paul Pawlowitsch 1901. Mit Auszugen aus seinen Schriften und Nachwort von Gustav Landauer. – An excerpt from Nettlau’s 3-vol. biography of Bakunin, S. 30.


Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025