N. Rjasanoff

Marx als Verleumder

(1911)


N. Rjasanoff, Marx als Verleumder, Die neue Zeit, 29 Jg., 1. Bd. (1911), H. 9, S. 278–286.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

In seinem Artikel Karl Marx und Michael Bakunin (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Januarheft 1910) regt Eduard Bernstein abermals die Frage ihrer persönlichen Beziehungen an. [1] Er weist auf die Ursachen hin, warum Bakunin „schon in den Jahren vor 1848 Marx unsympathisch gewesen“ sei. Eben in dieser tiefen Antipathie, die Marx gegen Bakunin hegte, ist nach feiner Meinung die Ursache zu finden, dass Bakunin im Jahre 1848 in der Neuen Rheinischen Zeitung „vorübergehend als russischer Spion hingestellt werden konnte“.

„Wer gegen jemand, den er gut kennt, eine so schwere Anschuldigung ohne weiteres veröffentlicht, bei dem muss schon eine hochgradige Abneigung oder Geringschätzung hinsichtlich des anderen vorliegen,“

Wir wollen hier die Geschichte der erwähnten Notiz in der Neuen Rheinischen Zeitung nicht eingehend erörtern. Wie aus dem nachstehend veröffentlichten Briefe von Marx ersichtlich ist, trägt er persönlich nicht die geringste Schuld an ihr. Auch Engels’ Schuld, der wie alle übrigen Redaktionsmitglieder die Verantwortung für die Veröffentlichung dieser Notiz trägt, schrumpft auf ein Nichts zusammen, wenn in Betracht gezogen wird, dass die Mitteilung, Bakunin sei ein Spion, der Redaktion von ganz verschiedenen Seiten zuging, und dass die Redaktion ihr Versehen sofort korrigierte. Selbst bei Nettlau wird der Zweifel an der Aufrichtigkeit der Marxschen Erklärung nur durch die Überzeugung gefestigt, dass Marx auch später der Hauptautor der Anschuldigungen war, die seit 1883 systematisch gegen Bakunin erhoben wurden. Wer davor nicht zurückschreckte, in der zynischsten Weise Bakunin der Spionage zu beschuldigen, als dieser in den Kasematten Schlüsselburgs schmachtete, dem konnte man natürlich – trotz aller entgegengesetzten Beteuerungen – keinen Glauben schenken, den musste man als Verleumder und Heuchler an den Pranger stellen! Zu dieser Schlussfolgerung gelangen Nettlau wie Dave.

Was diesen letzteren als vollkommen feststehende Tatsache erscheint, die keinem Zweifel unterliegt, verwandelt sich bei Bernstein in eine wahrscheinliche Tatsache, für die er psychologische Erklärungen zu finden sucht. Bernstein gibt sich nicht die Mühe, den Vorfall von 1848 nachzuprüfen, und nimmt die persönliche Schuld von Marx, bei dem die von ihm angeführten psychologischen Ursachen die „Geneigtheit zur gläubigen Hinnahme aller möglichen Verdächtigungen von Bakunins politischem Charakter“ entwickelten, als gegeben an.

Aus diesem Grunde akzeptiert Bernstein auch die so sehr herabsetzende Beschuldigung Marxens durch den Biographen Bakunins, Nettlau. Doch geben wir Bernstein selbst das Wort.

„An dieser Geneigtheit“ – so schreibt er – „scheint sich auch während der Zeit nichts geändert zu haben, wo Bakunin in Russland politischer Gefangener war. In seiner Streitschrift La théologie politique de Mazzini (Genf 1871) erzählt Bakunin, dass, als er im Jahre 1862 zum ersten Male nach seiner Flucht aus Sibirien nach London kam, er durch Herzen und Mazzini von verleumderischen Verdächtigungen erfahren habe, die unter anderen Marx gegen ihn ausgestreut haben sollte, und deshalb davon abgesehen habe, diesen aufzusuchen. [2] Als er dann 1864 zum zweiten Male nach London kam, habe, erzählt Bakunin, Marx selbst ihn ausgesucht, ihm versichert, nie jene Verdächtigungen gegen ihn ausgesprochen zu haben, und sie vielmehr als infam bezeichnet. Wir müssen danach annehmen, dass, was Herzen und Mazzini Bakunin erzählten, eine aufgebauschte Geschichte war. Getanes in Abrede stellen war nicht Marx’ Art. Trotzdem brauchte jedoch die Sache nicht aus der Luft gegriffen gewesen zu sein. Bakunins Biograph Nettlau spricht hinsichtlich der Londoner Zeit Bakunins von einer ‚Verleumdung der Urquhartschen Clique‘, der auch Marx nahestand. Es wird sich demnach wohl so verhalten haben, dass Marx zwar eine von Urquhart ausgegebene Verdächtigung nicht einfach wiederholt, aber sie doch nicht für ganz grundlos erklärt hatte.“

Soweit Bernstein. Er wiederholt also Nettlaus Anschuldigung, nur mit ein bisschen anderen Worten. Da ziehen wir es vor, uns an die Urquelle zu wenden, um festzustellen, ob Marx es in der Tat nicht verschmähte, „auch während der Zeit, wo Bakunin in Russland politischer Gefangener war“, die Waffe der Verleumdung gegen ihn zu richten.
 

II.

Nettlau behandelt die erwähnte Episode sehr genau im 20. Kapitel des ersten Bandes seiner Biographie Bakunins.

„Während dieser Jahre harter Gefangenschaft fand in London eine förmliche Verleumdungskampagne gegen ihn statt ... Diese Verleumdungskampagne dauerte vom 23. August bis zum 3. Oktober 1853und begann mit einem ‚F. M.‘ unterzeichneten Briefe ‚The Russian agent Bakunin‘ im Morning Advertiser vom 28. August 1853, wogegen am 24. August ein von Herzen, Golowin und Worcell unterzeichneter Brief protestierte, und Mazzini fügte dem Protest seinen Namen hinzu (28. August). Marx sah sich genötigt, die Affäre der Neuen Rheinischen Zeitung zu erzählen, Und fand es für gut, auf die Freundschaft Bakunins Anspruch zu erheben und sich unter Hinweisung seines Lobes desselben in der New York Tribune gewissermaßen als dessen Schutzengel hinzustellen und von seiner ‚intimate friendship‘ mit Bakunin zu sprechen, was ihm schwer genug geworden sein mag.“ [3]

Nettlau verabscheut Marx ebenso leidenschaftlich, wie er Bakunin verehrt, Und diese Leidenschaft macht ihn oftmals völlig blind. Mit staunenerregendem Bienenfleiß trägt er allen Klatsch gegen Marx zusammen, um diesen in seiner ganzen moralischen Verworfenheit zu zeigen. Es ist bemerkenswert, dass Nettlau, der alle gegen Bakunin gerichteten Aussagen als wissentlich falsch ablehnt, die Aussagen derselben Personen als glaubwürdig annimmt, wenn sie gegen Marx gerichtet sind. So auch in diesem Falle. Als Hauptquelle dienen ihm die Erinnerungen der russischen Emigranten Herzen und Golowin, die er in gleicher Weise benutzt, obgleich sie bei weitem nicht übereinstimmen und bei weitem nicht gleichwertig find. Golowin spielte in der russischen Emigration der vierziger und fünfziger Jahre die jämmerlichste Rolle („ein echter chevalier d’industrie, escroc et hâbleur de bonne maison“, wie ihn Bakunin charakterisiert). Nur mit großer Mühe kann man in den Klatschereien und wissentlichen Lügen, mit denen seine sämtlichen Artikel und Erinnerungen angefüllt sind, ein Körnchen Wahrheit ausfindig machen. Herzen dagegen bleibt selbst in den Fällen, wo er von den ihm verhassten „Deutschen im Exil“ schreibt, ein aufrichtiger Geschichtsschreiber. Er ist organisch außerstande, die fraktionellen Differenzen zu verstehen, die die deutsche Emigration der fünfziger Jahre zerrissen. Der so tragisch endende Roman seiner Frau mit Herwegh, der hier eine gar nicht beneidenswerte Rolle spielte, bestimmte die Beziehungen Herzens zu denjenigen, die er als solidarisch mit Herwegh betrachtete, das heißt zu den „Marxiden“. Zudem verstärkten seine persönlichen Beziehungen zu Vogts Familie seine Antipathie gegen Marx. Kein Wunder darum, dass das von Herzens Erben in seinen Nachgelassenen Werken abgedruckte Kapitel aus seinen Erlebnissen und Gedanken, das nach dem Konflikt zwischen Marx und Vogt (Mitte der sechziger Jahre) geschrieben wurde, abgesehen von der offenen Ungerechtigkeit in Bezug auf die Deutschen, von zahlreichen Fehlern wimmelt.

„Ein Jahr nach meiner Ankunft in London“ – so schreibt er – „kehrte die Marxsche Bande (sic!) nochmals zu der gemeinen Verleumdung Bakunins zurück, der damals im Alexejewschen Ravelin eingesargt war.“

Der Mann, mit dessen Hilfe dieser Feldzug unternommen wurde, hieß David Urquhart. Herzen liefert eine Charakteristik dieses „Originals“ und fährt fort:

„Ein Mann, der dachte und offen aussprach, dass alle bekannten Staatsmänner – von Guizot und Derby bis Espartero, Cobden und Mazzini – russische Agenten waren, war ein Schatz für die Bande nicht anerkannter Staatsmänner, die das unentdeckte Genie ersten Ranges, Marx, umgaben. Aus ihrem erfolglosen Patriotismus und ihren furchtbaren Prätensionen machten sie eine Art Hochschule der Verleumdung und Verdächtigung aller Menschen, die mit mehr Erfolg als sie selbst auf die Szene traten. Es fehlte ihnen ein ehrlicher Name (sic!), Urquhart gab ihn ihnen. Mit Urquhart und dem Publikum der Kneipen gelangten die Marxiden und ihre Freunde in den Morning Advertiser. Wo Bier ist, sind auch Deutsche. ... Eines schönen Morgens regte der Morning Advertiser die Frage an: ‚War Bakunin ein russischer Agent oder nicht?‘ Selbstverständlich wurde die Frage in positivem Sinne beantwortet. Diese Handlung war so gemein, dass sie sogar bei Leuten Entrüstung auslöste, die keine besondere Teilnahme für Bakunin an den Tag legten.“

Herzen, der Golowin unverhüllte Verachtung entgegenbrachte, protestierte, wenn auch äußerst ungern, im Verein mit ihm gegen diese Verdächtigung.

„Aber die Deutschen begnügten sich nicht damit. ... Sie eröffneten eine langweilige Polemik gegen Golowin, der sie nur deshalb fortführte, um das Publikum der Londoner Kneipen mit seiner Person zu amüsieren.“

Das wäre ja sehr kompromittierend für die „Marxsche Bande“, wenn nicht bei näherem Zusehen alles, was hier über Marx gesagt ist, sich im besten Falle als das Resultat eines Quid pro quo [4] herausstellte.

Marx wurde mit Urquhart erst 1854 bekannt. Im Morning Advertiser hatte er vorher lediglich am 30. Oktober 1852 einen Protest gegen das Verhalten der Times gegenüber den Kölner Kommunisten zusammen mit Engels, Freiligrath und Wolff veröffentlicht. Nachher erschien von Marx in diesem Blatte keine Zeile bis zur Veröffentlichung der unten angeführten Entgegnung auf die Verleumdung Bakunins. Herzen hatte Mitte der sechziger Jahre vergessen, welche Rolle diese Zeitung in den fünfziger Jahren als radikalste Tageszeitung spielte, die allen kontinentalen Emigranten Gastfreundschaft bot; er selbst hatte damals versucht, in dieser Zeitung Artikel unterzubringen. Von russischen Emigranten war Golowin ständiger Mitarbeiter des Blattes. Weder Urquhart noch irgendeiner seiner Anhänger nahm in der Zeitung eine Monopolstellung ein. Die Redaktion selbst verhielt sich, wie wir weiter sehen werden, in dieser ganzen Angelegenheit neutral und überließ die Spalten des Blattes beiden Seiten, um die Wahrheit auszudecken. Nicht genug damit. Der ganze Streit war wegen eines Artikels von Golowin entbrannt, der in der Nummer vom 19. August in einem Artikel über Nikolaus I. eines seiner Opfer erwähnte – Bakunin.

Als Antwort auf diesen Artikel erschien am 23. August im Morning Advertiser ein Brief an den Redakteur, betitelt: The Russian agent Bakunin. Wir führen diesen Bries hier in wörtlicher Übersetzung an:

Geehrter Herr!

Ein Umstand, dessen Ihr Korrespondent „Ein Russe in London“ in Ihrem Blatte vom 14. ds. erwähnt, lässt mich die Richtigkeit des übrigen Artikels bezweifeln. Er sagt dort: „Eben jetzt übt Nikolaus seine Rache an Bakunin, den er sich Österreich gegenüber verpflichtet hat, im Kerker gefangen zu halten.“ Nun habe ich aber Ursache, zu glauben, dass Bakunin überhaupt nicht eingekerkert ist; er ist vielmehr entweder bei der Armee im Kaukasus oder er dient dem Zaren in den türkischen Provinzen. Er ist ein viel zu wertvolles Werkzeug, um in Gefangenschaft gehalten zu werden, und groß war die Mühe, die es den Zaren kostete, ihn vor dem verdienten Tod zu retten, und noch größer die Schwierigkeit, ihn aus einer sächsischen und nachher aus einer böhmischen Festung zu befreien.

 

20. August 1853. Ihr ergebener Diener F. M.

Am folgenden Tage erschien, wie erwähnt, ein Protest, unterschrieben von Golowin und Herzen, dem sich auch Stanislav Worcell im Namen des Zentralen Polnischen Demokratischen Komitees anschloss. Schon aus diesem Briefe lässt sich die Überzeugung herauslesen, dass F. M. ein Deutscher sei. Die Autoren des Briefes weisen daraus hin, dass die Verleumdung F. M.s keine Neuigkeit sei, dass sie schon einmal in einer deutschen Zeitung unter Berufung aus George Sand gestanden habe. Zum Schluss verlangt der Brief, dass F. M. seinen Namen nenne.

Der anonyme Briefschreiber weigerte sich, jedoch beharrlich, seinen Namen zu nennen. Am 27. August erscheint neben einer Apologie Bakunins ein zweiter Brief F. M.s als Antwort auf den Protest Golowins und Herzens, in welchem der Anonymus nachzuweisen sucht, dass Rußland, das für revolutionäre Ideen unzugänglichste Land, allerorts durch seine Agenten die Samen der Revolution ausstreut.

Am 29. August antworten Golowin und Herzen auf diesen Brief (Mazzini schließt sich gleichzeitig ihrem Protest an). Sie schreiben unter anderem: „Die Verteidiger Bakunins nennen offen ihren Namen; fein Ankläger fährt fort, sich hinter Initialen zu verbergen, die möglicherweise gar nicht die seines Namens sind (his accuser continues to conceal himself behind initials which possibly may not be his own).“

Am 31. August wurde noch ein Protest Arnold Ruges abgedruckt und am 2. September erschien folgender Brief von Marx:

An den Herausgeber des „Morning Advertiser“

Geehrter Herr!

Die Herren Herzen und Golowin haben die von mir in den Jahren 1848 und 1849 herausgegebene Neue Rheinische Zeitung in die Polemik mit hineingezogen, die sich zwischen ihnen und „F. M.“ über die Person Bakunins abspielt. Sie erzählen dem englischen Publikum, dass die Verleumdung gegen Bakunin von jenem Blatte ihren Ausgang nimmt, das sogar „wagte“, sich auf das Zeugnis der George Sand zu berufen. Nun kümmere ich mich zwar gar nicht um die Verdächtigungen der Herren Herzen und Golowin. Da es aber zur Erledigung der Frage über die Persönlichkeit Bakunins beitragen mag, werden Sie mir wohl erlauben, die wirklichen Tatsachen hier festzustellen.

Am 5. Juli 1848 erhielt die Neue Rheinische Zeitung zwei Briefe aus Paris. Der eine war. die autographische Korrespondenz des Havas-Bureaus, der andere eine private Mitteilung von feiten eines polnischen Flüchtlings, der mit jener Quelle in gar keinem Zusammenhang stand. Beide behaupteten, George Sand befinde sich im Besitz von Papieren, die bewiesen, dass Bakunin kürzlich mit der russischen Regierung in Beziehungen getreten sei. Die Neue Rheinische Zeitung veröffentlichte am 6. Juli den Brief ihres Pariser Korrespondenten.

Bakunin erklärte seinerseits in der Neuen Oder-Zeitung (Breslau), dass bereits vor dem Erscheinen der Pariser Korrespondenz in der Neuen Rheinischen Zeitung ähnliche Gerüchte heimlich in Breslau kolportiert worden seien, dass sie von den russischen Gesandtschaften ausgingen, und dass er ihnen nicht besser begegnen könne als mit einem Appell an George Sand. Sein Brief an George Sand gelangte gleichzeitig mit dieser Erklärung zur Veröffentlichung. Sowohl die Erklärung als auch der Brief wurden sofort von der Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlicht (vergl. Neue Rheinische Zeitung vom 16. Juli 1848).

Am 3. August 1848 erhielt die Neue Rheinische Zeitung von Bakunin durch Vermittlung des Herrn Koscielski einen von George Sand an den Herausgeber gerichteten Brief, der noch am selben Tage mit den folgenden einleitenden Bemerkungen abgedruckt wurde:

„In Nummer 36 des Blattes teilten wir ein in Paris zirkulierendes Gerücht mit, demzufolge George Sand Papiere besitzen sollte, die den russischen Flüchtling Bakunin als Agenten des Kaisers Nikolaus entlarvten. Wir veröffentlichten diese Behauptung, da sie uns zugleich von zwei voneinander völlig unabhängigen Korrespondenten mitgeteilt worden war. Wir erfüllten damit nur eine Pflicht der öffentlichen Presse, die über öffentliche Charaktere streng zu wachen hat, und zugleich gaben wir Herrn Bakunin Gelegenheit, einen Verdacht zum Schweigen zu bringen, der in gewissen Pariser Kreisen gegen ihn erhoben wurde. Wir druckten auch aus der Neuen Oder-Zeitung die Erklärung Bakunins und seinen Brief an George Sand ab, ohne ein Ersuchen seinerseits abzuwarten. Hier bringen wir nun die wortgetreue Übersetzung eines von George Sand an den Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung gerichteten Briefes, der diese Angelegenheit vollkommen erledigt.“ (Vergl. Neue Rheinische Zeitung vom 3. August 1848.)

Gegen Ende August kam ich durch Berlin, traf dort Bakunin und erneute mit ihm die intime Freundschaft, die uns vor dem Ausbruch der Februarrevolution verbunden hatte.

In ihrer Nummer vom 13. Oktober 1848 griff die Neue Rheinische Zeitung das preußische Ministerium an, weil es Bakunin ausgewiesen und ihm gedroht hatte, ihn an Russland auszuliefern, wenn er es wagen sollte, Preußen wieder zu betreten.

In ihrer Nummer vom 14. Februar 1849 brachte die Neue Rheinische Zeitung einen Leitartikel über Bakunins Flugschrift Ausruf an die Slawen. Dieser Artikel begann mit folgenden Worten: „Bakunin ist unser Freund, dies soll uns aber nicht hindern, seine Flugschrift einer strengen Kritik zu unterziehen.“

In meinen Briefen an die New York Daily Tribune über Revolution und Konterrevolution in Deutschland war ich meines Wissens der erste deutsche Schriftsteller, der Bakunin für seinen Anteil an unseren Bewegungen und besonders an dem Aufstand in Dresden die ihm gebührende Gerechtigkeit widerfahren ließ. Und zugleich denunzierte ich die deutsche Presse und das deutsche Volk wegen der höchst feigen Art, mit der sie ihn seinen und ihren Feinden auslieferten.

Da „F. M.“ von der fixen Idee beherrscht wird, dass Revolutionen auf dem Kontinent die geheimen Plane Russlands begünstigen, muss er, wenn er noch irgendwie den Anspruch auf Konsequenz erheben will, nicht nur Bakunin als russischen Agenten verurteilen, sondern jeden kontinentalen Revolutionär. In seinen Augen ist die Revolution selbst ein russischer Agent; warum also nicht Bakunin?

 

London, 31. August 1853.
Ihr ganz ergebener
Karl Marx

Nach diesem Briefe kann man nur in dem Falle die Behauptung aufstellen, Karl Marx sei der Urheber der Verleumdungskampagne gegen Bakunin gewesen, wenn man annimmt – wie Herzen voraussetzt und Victor Dave kategorisch erklärt —, F. M. sei identisch mit Marx, oder F. M. sei – wie Nettlau glaubt – sein Faktotum, hinter dem sich Marx verbirgt.

„Marx tritt also – sagt Nettlau –, wie aus diesen Veröffentlichungen hervorgeht, nicht direkt als Verleumder Bakunins auf; seiner ganzen späteren Handlungsweise zufolge sehe ich den Grund dafür vor allem darin, dass er zu gescheit war, sich so zu blamieren.“

F. M. ist Karl Marx oder dessen Faktotum! Mau muss wirklich sehr „gescheit“ sein, um eine Verleumdung anonym in die Welt zu schicken, sie öffentlich zu widerlegen und dann weiter die Verleumdungskampagne fortzuführen! Ist es nach dem allem nicht klar, dass der arme Bakunin das Opfer dieses Meisters der Verleumdung und Perfidie wurde?

Wir werden gleichsehen, wer dieser F. M. war, vorläufig kehren wir aber zu der Polemik im Morning Advertiser zurück. Am 24. September 1853 erschien dort ein Artikel, betitelt: Russian agency and intrigues in cabinets and clubs, der unzweifelhaft aus der Feder Urquharts stammt. Hier wird die Frage auf prinzipiellen Boden gestellt. Es ist die Furcht vor der Revolution, die die Abhängigkeit aller kontinentalen Staaten von Russland verstärkt. Die Revolution ist auf diese Weise die Hauptwaffe Russlands, das zu diesem Zwecke allerorts seine Agenten unterhält. Darum hält das Argument: Bakunin ist kein Agent, weil er Revolutionär ist, keiner Kritik stand: „Er kann kein russischer Agent sein, weil er Revolutionär ist; aber gerade dies behauptet ja die andere Seite: er ist ein russischer Agent, weil er Revolutionär ist.“

Dieser Artikel rief eine entrüstete Entgegnung von Seiten Alfred B. Richards [5] hervor, betitelt Michael Bakunin and his accuser. Obgleich, sagt er unter anderem, „Arnold Ruge, Karl Marx, Worcell, Herzen, Iwan Golowin nicht nur die Unschuld, sondern auch das Gefängnismartyrium Bakunins bestätigten“, bleibt der anonyme Briefschreiber beharrlich bei seiner Anschuldigung und weigert sich, seinen Namen zu nennen. Der geheimnisvolle F. M. begnügte sich, wieder die Anschuldigung zu wiederholen, Bakunin sitze gar nicht im Gefängnis, sondern erquicke sich an der frischen Luft des Kaukasus. Auf die Einwendung, dass Bakunin an dem Dresdener Aufstand tätigen Anteil genommen habe, antwortet er siegesbewusst, dass es gerade der Dresdener Ausstand war, der der deutschen Freiheit den Todesstoß versetzte und vielleicht auf immer die Bande festigte, mit denen Russland Deutschland umklammert halte.

Nettlau hat diese Antwort übersehen, sonst hätte er, der nicht genug Worte der Entrüstung gegen die Redaktion des Morning Advertiser findet, folgende redaktionelle Notiz finden müssen:

„Wir sehen uns genötigt, unsere Spalten weiteren Briefen in dieser Angelegenheit zu verschließen. Persönlich kennen wir den Mann, der den Gegenstand dieses Streites bildet, absolut nicht; aber – wir müssen es anerkennen – dass es zu seinen Gunsten spricht, wenn so viel Personen, ohne vorherige Verständigung, in seiner Verteidigung einig sind.“

So endete die „Verleumdungskampagne“ gegen Bakunin in dem Morning Advertiser. Wir sehen, dass die Redaktion so handelte wie jede Redaktion eines anständigen Organs. Wir sehen ferner, dass die „Kampagne“ gegen Bakunin nicht – wie Herzen behauptete – von Deutschen geführt wurde, und dass Marx ebenso energisch wie alle anderen gegen F. M. protestierte.
 

III.

Wodurch erklärt sich aber in diesem Falle die Überzeugung, dass sich hinter den Initialen F. M. Marx verbarg? Warum identifiziert Herzen die Leiden so beharrlich, dass er F.  M. vollkommen vergisst und nur von Marx spricht?

Die Sache ist die, dass sich hinter den Initialen F. M. in der Tat ein Marx verbarg, aber nicht Karl Marx. Durch Golowin, der beständige Mitarbeiter der Morning Advertiser war, konnte Herzen später erfahren haben, dass sich hinter den Buchstaben F. N. wirklich ein Marx verbarg. Aber in der Mitte der sechziger Jahre, als er unter dem Eindruck der „Verleumdung“ des Hauptes der „Schwefelbande“ gegen Karl Vogt seine Erinnerungen schrieb, vergaß er vollkommen, dass dies ein anderer Marx gewesen war. Golowin dagegen, der in seinem Buche „Der russische Nihilismus und meine Beziehungen zu Herzen und Bakunin“ diesen Vorfall berührt, verwechselt keineswegs die beiden Marxe, obgleich auch er gänzlich vergessen hatte, wer der zweite Marx war. Eben dieser Umstand veranlasst Nettlau, die Aussage Golowins anzuzweifeln und zu bemerken:

„Wer dieser ‚F. H.‘ ist, geht aus dem Morning Advertiser‚ nicht hervor. Golowin in Der russische Nihilismus 1880 sagt, es sei ein Pferdehändler F. Marx gewesen; in seinem ‚Zapiski‘ druckt er den Namen ‚F. Maks nicht Karl‘, wo es also auch F. Marx heißen soll, sonst hätte die Bemerkung ‚nicht Karl‘ keinen Sinn.“ [6]

Wir können Nettlau jetzt mitteilen, wer dieser F. M. war: F. M. war Francis Josef Peter Marx, Esquire of Arle Bury, ein englischer Junker, geboren 1816, gestorben 1876. [7] „Es bleibt unbestritten, dass Marx (Francis, nicht Karl) sich in dem Urquhartschen Milieu bewegte und wohl fühlte.“ Wie sein Nekrolog im Diplomatic Review, Januar 1877, besagt, war er mehrere Jahrzehnte lang ein hochgeschätzter Mitarbeiter Urquharts. Er gehörte zu seinen und seiner Familie intimsten Freunden. Es ist ein Hinweis darauf vorhanden, dass er für die Organe, in denen Urquhart seine Anschauungen vertrat, einen Teil der Mittel beschaffte. Außerdem nahm er auch regen Anteil an der literarischen Kampagne, die Urquhart führte. Seiner Feder entstammen unter anderem die Pamphlete, die gegen Russland gerichtet waren: The Pacific and the Amoor, London 1861, The serf and the Cossack, a sketch of the condition of the Russian people, London 1854 (nach Haxthausen). Er war es auch, der das bekannte Pamphlet Fischels„The despots of revolutionists übersetzte, dass damals dem Herzog von Koburg zugeschrieben wurde.

Dass Marx (Francis, nicht Karl) in nahen Beziehungen zu den Deutschen stand, unterliegt ebenfalls keinem Zweifel. Vom Frühling 1858 datiert die intime Annäherung zwischen Lothar Bucher und dem Urquhartschen Zirkel [8] und bald wird Bucher ein ebenso naher Vertrauter Urquharts wie Marx (Francis, nicht Karl). Dass man in diesem Kreise noch 1859 überzeugt war, Bakunin sitze nur angeblich im Alexejewschen Ravelin und führe in Wirklichkeit ein Wohlleben im Kaukasus, ist aus den Erinnerungen Julius Fröbels ersichtlich, der prahlerisch erzählt, wie es ihm gelang, von den angeheiterten Herzen und Ogarev zu erfahren, dass Bakunin nur eine „Scheinkerkerhaft“ durchgemacht habe. [9]

Wenn Nettlau sich der Mühe unterzogen hätte, die Free Press und Diplomatic Review aufmerksamer durchzusehen, hätte er dort Mr. Urquharts Letters on the International (Januar 1872) gefunden und erfahren, dass Urquhart noch 1872 ebenso felsenfest wie im Jahre 1853 überzeugt war, Bakunin sei ein russischer Agent. Allerdings waren in seinen Augen die gesamte Internationale wie der Chartismus der dreißiger und vierziger Jahre ein Werk russischer Agenten. Und da in seinem Wahnsinn Methode war, so hielt er vollkommen konsequent auch Utin für einen russischen Agenten.

Freilich, wenn Herr Nettlau dies gewusst hätte, würde er es sich ein wenig überlegt haben, ehe er den Worten Herzens Glauben schenkte, der so hilflos alle Tatsachen durcheinander warf. Um Herzens Worte zu bestätigen, dass Marx fast der alter ego Urquharts gewesen sei, führt Herr Nettlau zwei Beweise an. Als erster Beweis soll die Notiz im Herr Vogt dienen [10], wo Marx (Karl, nicht Francis) mitteilt, dass er mehrere Artikel für die Free Press geliefert hatte!

Der zweite Beweis: Engels lobt Urquhart! Es folgt der Hinweis aus dem bekannten Artikel von Engels „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“ im englischen Journal Time, London 1890. Da der Absatz, auf den Nettlau hinweist, in der deutschen Ausgabe fehlt, führen wir ihn unverkürzt an. Der Leser wird daraus ersehen, wie Engels Urquhart „lobt“, und er wird zugleich eine glänzende Charakteristik Urquharts erhalten, die aus der Feder des intimsten Freundes von Marx stammt:

„... Es ist unmöglich, in England über russische auswärtige Politik zu schreiben, ohne zugleich den Namen David Urquharts zu erwähnen. Durch fünfzig Jahre war er unermüdlich bestrebt, unter seinen Landsleuten die Kenntnis der Ziele und Wege der russischen Diplomatie zu verbreiten. Obgleich er diesen Gegenstand vollständig beherrschte, war doch alles, was er für seine Mühe erntete, Spott und der Ruf eines unleidlichen, langweiligen Gesellen. Als solchen bezeichnet allerdings der Philister jeden, der hartnäckig an unschmackhaften, wenn auch noch so wichtigen Dingen festhält. Allerdings musste Urquhart, der den Philister hasste, ohne seine historische Unvermeidlichkeit zu begreifen, fehlschießen. Er war ein Tory der alten Schule und stand der offensichtlichen Tatsache gegenüber, dass in England bis dahin einzig und allein die Tories Russland wirksamen Widerstand entgegengesetzt hatten, während das Vorgehen der Liberalen in England sowie im Ausland – einschließlich der ganzen revolutionären Bewegung auf dem Kontinent – in der Regel nur zur weiteren Verstärkung jener Macht geführt hatte. Er glaubte daher, dass man, um den Übergriffen Russlands wirksam Widerstand zu leisten, vor allem ein Tory (oder allenfalls ein Türke) sein müsse, und dass jeder Liberale und Revolutionär, wissentlich oder nicht, ein Werkzeug der russischen Politik sei.

„Die ständige Beschäftigung mit der russischen Diplomatie ließ ihn in dieser etwas Allmächtiges sehen, die einzig tätige Kraft in der modernen Geschichte, in deren Händen alle anderen Regierungen lediglich passive Werkzeuge waren. Es wäre daher nicht zu begreifen, wieso, abgesehen vom Widerstand der Türkei, von deren Kräften er gleich übertriebene Vorstellungen hatte, die allmächtige russische Diplomatie nicht schon längst von Konstantinopel Besitz ergriffen hat. Umso die moderne Geschichte seit der französischen Revolution auf ein diplomatisches Schachspiel zwischen Russland und der Türkei zurückzuführen, wobei die übrigen Staaten die Nolle von Schachfiguren in der Hand Russlands spielen, musste sich Urquhart als eine Art Prophet des Ostens aufspielen, der nicht einfach historische Tatsachen mitteilte, sondern in einer geheimnisvollen, überdiplomatischen Sprache, voll von Anspielungen auf Tatsachen, die nicht allgemein bekannt, ja kaum überhaupt jemals festzustellen waren, esoterische Lehren verkündete, und der als untrügliches Geheimmittel gegen die Überwindung der englischen Diplomatie durch die russische eine neuerliche Ministeranklage und die Ersetzung des Kabinetts durch das Privy Council in Vorschlag brachte. Urquhart war ein Mann von großen Verdiensten und das Muster eines Engländers der alten Schule obendrein; aber die russischen Diplomaten könnten doch wohl sagen: ‚Si Mr. Urquhart n’existait pas, il faudrait l’inventer‘ (Wenn Herr Urquhart nicht existierte, müsste man ihn erfinden).“

So lobt Engels Urquhart!

Wir werden noch Gelegenheit haben, die Beziehungen zwischen Urquhart und Marx (Karl, nicht Francis) eingehender zu beleuchten. Ihre persönliche Bekanntschaft war eine vollkommen flüchtige: zu sehr differierten sie in allen ihren Anschauungen miteinander. Zudem wäre es auch Marx, dem Freunde von Jones, schwergefallen, in nahe Beziehungen mit einem Manne zu treten, der überzeugt war, dass auch der gesamte Chartismus ein Produkt der Tätigkeit russischer Agenten war. Indessen konnten weder Engels noch Marx wegen der Sonderbarkeiten Urquharts seine bedeutenden Verdienste auf dem Gebiet der Aufdeckung des wahren Charakters des russischen Zarismus und sein mannhaftes Auftreten zugunsten Polens, des Kaukasus, Ostindiens usw. übersehen.

Wir kommen nun zu dem Lösungspunkt dieser Komödie der Irrungen: wir sehen, wie unvorsichtig Genosse Bernstein handelte, als er den Anschuldigungen Nettlaus und Daves Glauben schenkte. Die Angelegenheit, die mit solchem Lärm von Nettlau ausgebauscht wurde, ist vollkommen aus der Luft gegriffen. Und Marx (Karl, nicht Francis) handelte vollkommen aufrichtig, als er Bakunin versicherte, „nie jene Verdächtigung gegen ihn ausgesprochen zu haben“, und sie vielmehr als „infam“ bezeichnete.

* * *

Anmerkungen

1. Eduard Bernstein, Karl Marx und Michael Bakunin: Unter Benutzung neuerer Veröffentlichungen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 30 (Januar 1910), S. 1–29.

2. La théologie politique de Mazzini et l’Internationale, par M. Bakounine, membre de l‘Association internationale des travailleurs, Commission de propagande socialiste, Neuchâtel : Imprimerie G. Guillaume fils, 1871. 111 p.

3. Max Nettlau, Michael Bakunin: Eine biographische Skizze, Band 1, S. 128.

4. Quid pro quo: “something for something”; A favour or advantage granted or expected in return for something.

5. Bekannter militärischer Schriftsteller, der 1870 Redakteur des Morning Advertiser, an Stelle von James Grant, der die Zeitung schon 1853 redigierte.

6. M. Nettlau, M. Bakunin, Band I, Kapitel 20, Anmerkung 825.

7. Bernard Burke, A genealogical and heraldic history of the landed gentry of Great Britain, and Ireland, London 1886, Band 2, S. 1238.

8. Siehe Note on Lothar Bucher, Diplomatic Review, October 1873.

9. Julius Fröbel, Ein Lebenslauf, Band 2, S. 140 bis 141.

10. Marx, Herr Vogt, London 1860, S. 58 bis 59.


Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025