Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

6. Das Brot


Am übernächsten Tag wurde ich mit einem Trupp von ungefähr dreißig anderen Gefangenen gegen vier Uhr früh beim ersten Morgengrauen unter starker Bewachung, die Gewehre mit aufgestecktem Bajonett, in einem mehrstündigen Marsch zum Militärgefängnis Spandau geführt. Die Bewachung, alles ältere Landwehrleute, war wegen der frühen Morgenstunde sehr schlechter Laune. Sie schimpften und fluchten auf uns und auf den Dienst: sie verlangten nach Kaffee und Frühstücksbrot.

Wir kamen vor Ende des Morgenappells auf dem Hof im Spandauer Gefängnis an, und ich wurde sogleich der Wäscherei des Gefängnisses zugeteilt. Das Militärgefängnis Spandau war ein Sammelgefängnis. Fast täglich kamen aus anderen Gefängnissen neue Trupps an, andere marschierten zur „Bewährung“ ab oder wurden in andere Gefängnisse überführt.

Im Frühjahr-1918 waren die Kolonnen an den Fronten schon stark gelichtet; die Kriegsführung konnte nicht mehr die normalen Anforderungen an die körperlichen und moralischen Kräfte der Truppen stellen. Hier im Militärgefängnis waren fast alle Gefangenen ausgebildete Soldaten, die auf dem großen Hof täglich bis in die späten Abendstunden hinein gedrillt wurden. Auch wurden an jedem Morgen die Häftlinge beim Appell aufgefordert, sich freiwillig zur Truppe zurückzumelden.

Nachdem die Freiwilligen herausgetreten waren, wurden die anderen gefragt: jeder mußte das Urteil des Militärgerichts angeben den Grund und die Dauer der Strafe.

Nach einigen Tagen beim Morgenappell, nach Aussiebung der eventuell doch Kriegsbrauchbaren, befahlen die Feldwebel einer Gruppe von ungefähr achtzig Mann, darunter befand auch ich mich: „Ab nach Ossowitz!“ Was „Ossowitz“ bedeutete, wußte ich noch nicht. Die meisten der Gruppe nahmen den Befehl zum Abtransport mit dem Gefühl einer mit Hoffnung gemischten Angst auf – nur fort! Unter den Gefangenen kursierten zwar Gerüchte von schauerlichen Gefängnissen, aus denen mancher nicht mehr herauskommen sollte. Doch die Hoffnung, daß die Veränderung eine Erleichterung bringen könnte, überwog. Man hoffte vor allem, daß es vielleicht etwas mehr zu essen geben würde ...

Als Gepäck hatte jeder ein Stück Brot, einen Blechnapf und einen Löffel. Den Abmarsch aus Spandau kommandierte wieder ein Feldwebel. Dieser ließ den Trupp vor den Dienstwohnungen erst noch Exerzierübungen machen: „Hinlegen!“ – „Aufstehen!“, „Hinlegen!“ – „Aufstehen!“ Und so fort. Eine Frau stand an einem Fenster des ersten Stockes. Der Feldwebel schaute ständig nach oben. Endlich mußte die Frau wohl nach ihrem Kochtopf schauen, sie verschwand vom Fenster. Somit hörte der Fatzke auf zu kommandieren, und es ging zum Güterbahnhof, wo drei Güterwaggons bereit standen. Wir erhielten Stroh zum Auslegen der Waggons, was als Zeichen für eine lange Reise gedeutet wurde. Unterwegs wurden die Waggons an verschiedene Züge angehängt und wieder abgehängt, tage- und nächtelang blieben sie auch auf Nebengleisen stehen, so daß wir erst nach mehr als einer Woche am Zielort anlangten. Während der ganzen Reise durften wir die Waggons nicht verlassen.

Wir erlebten auch einen heiteren Zwischenfall. Bei der Durchfahrt durch Bromberg hielten uns die Rotkreuzfrauen für reguläre Soldaten und reichten Brot und Würste in die Waggons. Die Frauen hatten Übung im Austeilen. Da manche Züge nur einige Minuten hielten, mußte immer alles sehr rasch gehen. Ehe der Irrtum bemerkt wurde, waren die Brotstücke und Würste verschlungen. Das Fluchen und Drohen der Begleit-Unteroffiziere brachte die Würste nicht zurück. Natürlich wurde der liebliche Zwischenfall am Zielort gemeldet und als Diebstahl gewertet. Wir haben die Würste teuer bezahlen müssen.

Als wir nach achttägiger Fahrt zur Station des polnischen Ortes Ossowic ankamen, wurden wir von Soldaten erwartet, die uns durch den halb niedergebrannten Ort zur Festung Ossowiec geleiteten, die ungefähr zwei Kilometer entfernt lag.

Ossowiec war eine russische Festung, die von den deutschen Truppen erobert und in ein Militärgefängnis umgewandelt worden war. Sie lag inmitten riesiger Sümpfe und war von Wassergräben umgeben. Bei der Beschießung durch die deutsche Truppen war die Festung nur wenig beschädigt worden. Es genügte darum die Kasematten zu vergittern und das Gefängnis war fertig. Aus einiger Entfernung waren die Kasematten nur als niedrige Grashügel sichtbar; die Öffnungen lagen nach innen einem Hofe zu. Es gab 10 oder 20 vergitterte Räume die bei meiner Ankunft belegt waren. Die Neuankommenden wurden auf die einzelnen Räume verteilt. Wir waren hier 45–50 Gefangene in einem Raum der ungefähr 60 qm groß war. Eine Hälfte des Raumes wurde von übereinanderstehenden Brettergestellen eingenommen, die als Pritschen dienten. Wir schliefen in unserer Montur auf Stroh. In der anderen Hälfte standen ein langer rohgezimmerter Tisch und einige Bänke. Das war der Eßraum. Hier stand auch als Klosett ein großer Kübel, der fast täglich überlief, weil er nur einmal am Morgen geleert werden durfte. Der Raum konnte durch die Tür gelüftet werden, die morgens und abends, wenn das Essen gebracht wurde, einige Minuten offen stand. Die vergitterten Fenster waren fest verschlossen. Die Gefangenen hier waren „schwerere Fälle“ als die in Spandau. Alle waren von Militärbehörden verurteilt. Neben „Zitterern“, „Schüttlern“ und Selbstverstümmlern gab es gewöhnliche Banditen, Notzuchtverbrecher, auch Totschläger aus Eifersucht darunter, einige von ihnen waren zu lebenslang Zuchthaus verurteilt. Hier gab es kein Auskämmen und kein Freiwilligmelden mehr.

Ich war der einzige „Politische“. Doch nach einiger Zeit lernte ich einen Elsässer kennen, der hierher geschickt worden war, weil er den deutschen Militärdienst mit der Begründung, daß er Franzose sei, verweigert hatte. Hier waren wir wie lebend begraben. Briefe von Angehörigen wurden nicht ausgehändigt. Als nach Monaten ein Brief von meiner Matter kam, der noch nach Spandau adressiert gewesen war, wurde er mir nur stellenweise vorgelesen.

Was in Deutschland und an den Kriegsfronten vorging, erfuhr ich nicht. Gefangene, die nach mir nach Ossowiec gebracht wurden, kamen meist aus anderen Gefängnissen. Sie wußten auch nichts. Der Raum war zu klein für uns, die Luft verbraucht und übelriechend. Unsere Gesichtsfarbe war gelblich, und die Haut der meisten Gefangenen mit Ausschlag bedeckt. Wir waren von Ungeziefer zerfressen und voller Kratzwunden. Da wir Holzschuhe trugen, die unbiegsame Holzsohlen hatten, waren die Knöchel durchgerieben, und es bildeten sich eiternde Wunden. Verbandsstoff gab es nicht. Wir hatten unsere Hosenträger zerrissen und um die Knöchel gewickelt. Doch am meisten quälte uns der Hunger. Morgens um halb fünf Uhr gab es eine braune Flüssigkeit, angeblich aus Eicheln gekocht. Nachmittags um fünf Uhr dieselbe Suppe wie mittags, verdünnt, noch einmal. Die Suppen waren ungesalzen, dafür war Soda beigefügt, zur Hemmung des Durstes und des Appetits. Es gab kein Trinkwasser für uns Gefangene. Das Sumpfwasser war nur abgekocht trinkbar. Es wurde niemals welches abgekocht. Morgens nach dem Aufstehen wurde ein Kübel Wasser hereingeholt, und wir mußten uns in Gegenwart der Wachsoldaten darin waschen. Es wurde aufgepaßt, daß niemand vom Wasser trank. Das Trinken wurde oft versucht, um ins Lazarett zu kommen. Dort sollte es mehr Brot geben. Tagsüber lagen wir, soweit wir nicht auf dem Hofe mit Grasausrupfen und Appellen beschäftigt waren, auf den Brettern, zum Stehen vor der Türe und dem Fenster reichte der Platz nicht, und warteten auf die Suppe. Nachts lagen wir halb wach und dachten an das Brot, das es am Morgen geben würde. Die meisten röchelten und weinten vor Hunger. Gesprochen wurde selten. Die wenigen Unterhaltungen der Gefangenen handelten von den Dingen, die sie einst gegessen, und von dem Fleisch, das sie einst wieder essen würden, wenn ...

Das Brot mußte für den ganzen Tag reichen, es war immer frisch und feucht. Viele Gefangene kneteten es zu Kugeln und schluckten es ungekaut hinunter. Nach ihrer „Theorie“ lag das Brot dann länger im Magen und wehrte den Hunger länger ab. Ein Gefangener fand bei einer Ausführung einen großen rohen Beinknochen. Er brachte ihn mit ins Gefängnis. Der Finder lag tagsüber mit dem Bauch auf dem Fußboden und knabberte und schabte an dem Knochen. Um ihn herum saßen andere Hungergefährten, die um Splitter bettelten. Nachts hatte der Finder den Knochen unter seinen Kopf gelegt, damit er ihm nicht gestohlen wurde. Andere Gefangene standen von frühmorgens an der Tür, um auf die Schritte der Wachsoldaten zu lauschen, die immer um halb zwölf gegen Mittag einige Gefangene zum Essentragen holten. Sie standen dort stundenlang regungslos und schweigend. Manchmal sollte es auch Kartoffeln in der Suppe geben. Wir haben nie welche gesehen. Die Gefangenen, die zum Kartoffelschälen abkommandiert waren, aßen die wenigen Kartoffeln roh auf. Die Kartoffelschäler wurden oft nachts bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen.

In Ossowiec sind viele Gefangene gestorben, andere sind halb verblödet. Viele hatten keine Gewalt mehr über ihre Schließmuskeln, sie beschmutzten sich, wo sie standen und lagen. Die Kleider breiteten sie auf dem Fußboden aus und reinigten sie mit dem Rutenbesen.

Nachdem ich einige Tage in dem Gefängnis war, überlegte ich, daß ich kaum gesund herauskommen würde, wenn ich in derselben Weise lebte wie die anderen Gefangenen. Ich versuchte deshalb, mich mit dem Essen anders einzurichten. Ich aß am Tage mein Brot nicht, sondern steckte es unter das Hemd auf die Brust. Taschen gab es nicht im Anzug und hinlegen konnte ich das Brot nirgends. Nach zwei Tagen aß ich das trocken gewordene Brot und verbarg das frische wieder auf der Brust. So hatte ich immer zwei Stücke Brot bei mir. Das ging ungefähr zwei Wochen lang gut. Ich trank auch die Suppe nicht gleich wie die anderen, sondern kletterte auf das Bettgestell, wo mein Schlafplatz war, ließ die Suppe abkühlen und aß sie langsam mit dem Löffel. Wenn ich oben saß und meine Suppe löffelte, bildete sich unten ein Kreis Hungriger, die ihre Suppe längst ausgetrunken hatten. Sie sahen mit wäßrigen Mündern zu mir hinauf und gingen erst fort, wenn ich den leeren Topf zeigte.

Eines Tages, beim Appell der Gefangenen, brüllte mich ein Sergeant an: „Was haben Sie eigentlich auf der Brust? Haben Sie vorne einen Ast?“ Er begann gleichzeitig den Rock und das Hemd aufzuknöpfen und fand das Brot. Der Sergeant behauptete sofort, das Brot sei gestohlen. Ich sagte, daß ich mein Brot auf der Brust trocknen lasse, damit es mehr sättigen sollte. Da nirgends fehlendes Brot gemeldet wurde, bekam ich mein Brot nach einer Weile zurück.

Als wir nach Beendigung des Appells in die Zelle zurückgekehrt waren wurde ich von Gefangenen, die das Brot gesehen hatten, darum angebettelt. Sie umringten mich und fragten, ob ich mein Brot alleine nicht schaffe. Dabei begannen einige auf mich einzuschlagen. Ich machte mich frei und kletterte auf meine Pritsche, die glücklicherweise ganz zuoberst lag. Die anderen Gefangenen standen zusammengedrängt unten und starrten zu mir herauf. So blieben sie stundenlang. Ihre Gesichter waren stumpf. Es war kein Haß darin zu sehen. Nur Hunger.

Es wurde Abend. Ich stieg, um meine Suppe zu erhalten, hinunter und kletterte gleich wieder hinauf. Die Haufen bildeten sich wieder. Es wurde dunkel. Lampen gab es nicht. Nur wenige legten sich schlafen. Nach einiger Zeit, vielleicht waren es Stunden, merkte ich, wie das Gestell wackelte. Einige Gefangene wollten zu mir heraufklettern. Sie konnten nur an einer Seite hoch klettern, wo kurze Querbalken an die Stützbalken genagelt waren. Ich wehrte die Kletterer ab. Die ganze Nacht hindurch mußte ich gegen sie kämpfen. Immer wenn einer hinuntergefallen war, dauerte es einige Minuten, ehe ein anderer heraufzuklettern begann. Einige warfen mit Holzschuhen. Die Verteidigung war schwierig. Da mein Platz dicht unter der Decke lag, konnte ich nicht aufrecht stehen, sondern mußte auf der Pritsche knien. So hockte ich auf der Kante meiner Pritsche und schlug auf jeden los, der sich auf der „Leiter“ befand. Mein Gesicht und meine Hände bluteten von den Biß- und Kratzwunden, die mir die Angreifer zugefügt hatten. Erst gegen Morgen hörte der Kampf auf. Als die Wachsoldaten kamen, stieg ich hinunter, um mein Brot zu empfangen. Die Spuren des Kampfes beachteten die Soldaten nicht, weil es oft vorgekommen war, daß sich die Gefangenen nachts schlugen. Obwohl es nicht ratsam war, das Brot weiter aufzubewahren, wollte ich an meiner Ernährungsweise festhalten. Ich saß tagsüber auf meinem Platz und bereitete mich für die kommende Nacht vor. Ich schuf mit eine Waffe. Fast den ganzen Tag rieb ich den Stil meines Blechlöffels an der Mauer und machte ihn dolchartig spitz. Die Meute stand unten und guckte zu.

Nach Eintritt der Dunkelheit begann der Kampf von neuem. Die vor Hunger halb Wahnsinnigen versuchten immer wieder heraufzukommen. Ich schlug denen, die sich an den Rand meiner Pritsche klammerten, mit dem Löffelstiel auf die Hände, daß sie losließen und herunterfielen. Der Hunger hatte sie so geschwächt, daß ein Stoß genügte, um sie umzuwerfen. Der Kampf ging fast lautlos vor sich, ich hörte nur das verzweifelte Weinen und Keuchen der Untenstehenden. Sie weinten vor Ungeduld. Das Brot gewannen sie nicht.

So verging die zweite Nackt und auch die dritte. Der Hunger hatte den Angreifern jede Überlegung genommen. Sie dachten nicht dran, alle gleichzeitig auf mich loszugehen. Sie hätten die Bänke und den Tisch zu Hilfe nehmen können. Es kämpfte jeder für sich. Jeder wollte das Brot allein gewinnen. Die Wachsoldaten hatten schon in der ersten Kampfnacht das Werfen der Holzschuhe gehört. Als es sich in den folgenden Nächten wiederholte, kamen sie in der dritten Nacht plötzlich mit Laternen in die Zelle und führten einige Gefangene, die sich nicht rechtzeitig auf ihre Pritsche gelegt hatten, hinaus. An anderen Morgen wurde von den nächtlichen Kämpfen Meldung gemacht. Die Gefangenen erzählten von meinem Brot. Es wurde mir abgenommen. Von jetzt ab mußte ich täglich mein Brot nach dem Empfang unter Kontrolle essen.

Das Fluchen gehört wohl zum Wesen des Militarismus. Der Unteroffizier, der für die Insassen unseres und des Nachbarraumes verantwortlich war, fluchte, wie ich es in meinem Leben nie gehört hatte und auch nie wieder hörte. Er brauchte nicht einmal ein bestimmtes Objekt oder einen Anlaß. Er fluchte über alles, über uns, über sein Dasein, über Himmel und Erde, über alle Körperteile. Nur seinen gepflegten Schnurrbart ließ er aus. Doch wenn er seine tiefste Verachtung ausdrücken wollte, sagte er langsam mit rauher Stimme: „Sie Österreicher!“

Das beim Reichsgericht schwebende Verfahren „Vorbereitung zum Hochverrat gegen Jogiches und Genossen“, wegen Mitgliedschaft im Spartakusbund, Führerschaft im Munitionsarbeiterstreik, Verbreitung der Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, lief inzwischen weiter. Eines Tages, es wird im August gewesen sein, erhielt ich eine Vorladung zu einer Vernehmung im Ort Ossowiec. Der Feldwebel las diese Vorladung vor den zum Morgenappell angetretenen Gefangenen vor. „Einen Kaiserabsetzer haben wir also auch hier!“ schrie er, „einen Roten! Da seid ihr Halunken, Deserteure, Diebe und Plünderer mir noch lieber!“ Ich wurde von zwei Soldaten in den Ort geführt. Die Soldaten hielten die entsicherten Gewehre in Anschlag, und ich mußte, die Hände über den Kopf gefaltet, zwischen ihnen gehen. Die Vorführung war sehr willkommen; ich kam dadurch zur Entlausungsanstalt und zum Brausebad der Garnison.

Ein Beauftragter des Untersuchungsrichters beim Reichsgericht hatte die weite Reise nicht gescheut, um mich zu vernehmen. Das Verhör zog sich den ganzen Tag über hin, es wurden mir die Aussagen anderer Spartakus-Mitglieder vorgelesen. Ich hatte meinen früheren Aussagen – Kampf gegen den Krieg – nichts hinzuzufügen.

Als ich wieder im Gefängnis zurück war, spürte ich eine allgemeine feindselige Stimmung gegen mich. Einige entrüsteten sich, sie seien zwar Verbrecher, aber doch fromme Leute, die gern zur Kirche gehen würden, wenn sie dazu Gelegenheit fänden. Nie würden sie es wagen, gegen den Kaiser und gegen den Krieg ein Wort zu sagen. Die gefürchteten Schikanen, die wie üblich die Mitgefangenen in meinem Raum mitbetreffen würden, blieben aus. So beruhigte man sich wieder. Ich behielt aber den Spitznamen „Kaiserabsetzer“.

Die Zeit verging. Noch war Sommer. Wir hatten neben völlig sinnlosen Arbeiten auch in den Sümpfen Torf gestochen und zum Trocknen gestapelt, auch Heu geerntet und gebündelt. Gefangene, die den vergangenen Winter hier verbracht hatten, sprachen angstvoll von dem kommenden Winter. Kranke kamen fort, Verstorbene wurden in ihre Decken gewickelt und weggeschafft. Es gab Tage ohne Brot. Die Einzeldunkelzellen waren immer belegt.

Und die Bewachungsmannschaften? Es waren keine berufsmäßigen Gefängniswärter, sondern abkommandierte Soldaten, alle waren Unteroffiziere. Sie waren völlig uninteressiert. Sie beachteten genauestens ihre Vorschriften, ohne sich jemals eine humane Regung anmerken zu lassen. Sie sprachen niemand an, und kein Gefangener durfte sie ansprechen. Wenn ein Gefangener etwas vorzubringen hatte, mußte er es dem Kalfaktur sagen, der es dem diensthabenden Unteroffizier am Morgen beim Öffnen der Tür meldete. Ich habe mich selbst nicht beklagt in dieser Zeit. Ich dachte immerwährend an den Krieg und an meine Freunde. Die Unwissenheit über das Geschehen der Zeit bedrückte mich am meisten.

Es wurde Ende Oktober. Am 28. Oktober beim Morgenappell wurde ich erneut aufgerufen und wiederum von zwei Soldaten ins Dorf geleitet, zu einer weiteren Vernehmung. Als wir auf der Landstraße außer Sichtweite des Gefängnisses waren, änderten die Soldaten ihre Haltung und erzählten mir, daß Liebknecht aus dem Zuchthaus entlassen worden sei, und daß es an den Fronten sehr schlecht stünde, daß in der Heimat auch sehr schwer gehungert werde, daß die Bolschewisten in Rußland um ihre Existenz kämpften, daß nun doch bald Schluß sein würde mit dem Krieg.

Die Vernehmung durch den Beauftragten des Untersuchungsrichters beim Reichsgericht war wieder Routine. Der Untersuchungsrichter schien sich zu sorgen, seine Spartakusleute vollzählig beisammen zu halten. Der Prozeß gegen Spartakus sollte wohl das große Ereignis seines Lebens sein. Es kam nicht mehr zu dem Prozeß.

November 1918. Meine Zeit als Militärgefangener war abgelaufen. Wir wurden seit einigen Tagen nicht mehr aus den Räumen gelassen. Ich sah an einem dieser Tage durch das Fenster, wie eine Gruppe Gefangener versuchte, ein Klavier über den Hof zum Tor zu schleppen. Andere Gefangene trugen Gepäckstücke. Neben der Gruppe ging der Kommandant des Gefängnisses, ein Hauptmann. Die Gefangenen waren zu schwach; sie fielen mit dem Klavier um. Der Hauptmann ging eilig weiter, so ließen sie das Klavier liegen. Wie ich erfuhr, wollte der Hauptmann das Klavier zur Bahnstation tragen lassen. Er fuhr ab. Der Hauptfeldwebel, der eigentlich schon immer das das Kommando geführt hatte, kam mit einigen Unteroffizieren, die einen Korb voller Brotstücke trugen, an die Fenster, stießen diese ein und warfen das Brot unter die Gefangenen. Diese sprangen danach und kämpften wütend um jedes Stück. Ich schaute von meiner Pritsche aus zu und überlegte, daß es an der Zeit sei, hier herauszukommen. Am anderen Morgen blieb alles still, niemand erschien. Die Gefangenen standen an der Tür und an den zerschlagenen Fenstern und begannen nach den Wachen zu rufen. Es war bereits Nachmittag, als einige fremde Soldaten kamen, die Türen aufschlossen und uns sagten, daß unsere Wachen abgezogen seien, daß der Krieg zu Ende sei. Die Polen seien im Anmarsch und wir sollten sehen, daß wir fortkommen.

Schreiend rannten die Befreiten über den Hof, zum einzigen Ausgang, dem Tor an der Brücke über den Graben. Das Tor war versperrt, aber auch diese Wache war fort. Ich sprach einen der Soldaten an, er begleitete mich zur Kleiderkammer, um die Gefängniskleidung auszutauschen. Dann kletterte ich über das Brückengeländer und eilte die Landstraße entlang in Richtung Eisenbahnlinie Bialystock-Lyk. Es dunkelte bereits. Ich ging zwischen den Gleisen in Richtung Norden, und gegen Mitternacht sah ich einen Zug hinter mir kommen. Die Lokomotive hatte offenbar mit Holz geheizt, aus dem Schornstein kam ein Feuerschein, und der Zug fuhr zu meinem Glück im Schrittempo. Mit verzweifelter Kraft konnte ich aufspringen und in einen Waggon klettern. Ich schlief bald ein. Als ich aufwachte, war heller Tag. Der Zug hielt auf dem Bahnhof Allenstein. Auf dem Nebengleis stand ein mit Soldaten besetzter D-Zug. Ich sprang aus meinem Waggon heraus und lief zu diesem Zug hinüber, der sich auch schon in Bewegung setzte. Ich sprang zum Fenster hoch. Soldaten ergriffen meine Arme und zogen mich hinein. Ich bedankte mich und fragte, wohin der Zug führe. „Nach Berlin!“ antworteten mehrere. Unterwegs tauschte ich mit einem Soldaten mein Hemd für ein Stück Brot mit Rübenmarmelade. Der Zug hielt öfters stundenlang auf der Strecke. So kam ich erst am nächsten Abend in Berlin an. Ich hatte Glück gehabt; später erfuhr ich von anderen Osowiecer Gefangenen, die ich in Berlin traf, daß mein Zug der letzte gewesen war, der direkt über Thorn-Posen nach Berlin durchfuhr.

Meine Mutter öffnete die Wohnungstür. Als ich nach der Begrüßung die Küche betrat, standen dort Paul Nitschke und Friedrich vom Jugendbildungsverein, die einige Minuten zuvor gekommen waren, um sich nach mir zu erkundigen. Sie waren bereits im Oktober freigelassen worden.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023