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Der Name „Spartakus“ war von dem Vorwärts-Redakteur Ernst Meyer vorgeschlagen worden. Der ursprüngliche Namen dieser Organisation war „Gruppe Internationale“. Da die illegalen Schriften, Briefe und Flugblätter seit der Gründung 1914 mit „Spartakus“ unterzeichnet waren und der Name „Spartakusgruppe“ geläufig geworden war, nannte sich die Gruppe ab 1. Januar 1916 „Spartakusbund“.
Ernst Meyer hatte den Namen Spartakus zur Erinnerung an einen Sklaven gewählt, der in den Jahren 73–71 vor unserer Zeitrechnung zum Führer des mächtigsten Aufstandes der Sklaven im Römischen Reich wurde und dessen Aufstand das damals allmächtige Rom bis in seine Grundfesten erschütterte. Nachdem Spartakus mit einer Gruppe Gladiatoren aus dem Gefängnis im Süden Italiens ausgebrochen war, schlossen sich mehrere tausend Sklaven in den Gebieten, die Spartakus durchzog, seinem Zug an.
Weitere tausend Frauen und Kinder folgten dieser Schar disziplinierter Kämpfer, die die römischen Heere, die sich entgegen stellten, zu Paaren trieben und den Weg nach Norden freikämpften, der Freiheit und der Heimat entgegen. Im Norden Italien angekommen, verloren die Unterführer des Spartakus den Maßstab für das Kräfteverhältnis. Sie hielten sich für unbesiegbar. Es hatten sich unter ihnen auch besondere Interessen entwickelt. Spartakus ließ sich verleiten, nach dem Süden umzukehren. Damit gingen alle in den Tod. Die jetzt siegenden römischen Heere rächten sich grausam für die früheren Niederlagen und Demütigungen. Spartakus und alle Kämpfer wurden getötet, auch die Angehörigen und Mitläufer, Greise, Frauen, Kinder.
Spartakus und seine engeren Mitkämpfer hätten sich zweifellos zur Heimat durchschlagen können, es standen ihnen keine Heere mehr entgegen. Spartakus zögerte nicht, bei den Sklaven zu bleiben, er fühlte sich verantwortlich für die Befreiung und Heimführung aller. Auch unser Leitgedanke war: „Bei den Ausgebeuteten bleiben, auch wenn diese irren“. Mitte Juni brachte Paul Nitschke einen Packen Flugblätter mit, die vom Jugendbildungsverein verteilt werden sollten. Ich erhielt nur fünf oder sechs Exemplare für meine Arbeitsstelle. Auch von weiteren Flugblättern erhielt ich stets nur einige Exemplare. Wie ich mit der Zeit feststellen konnte, waren die Auflagen der Spartakus-Flugblätter immer sehr klein gewesen, manchmal war es nur eine Aktentasche voll. Ich berichte dies, weil ich nach dem Kriege Geschichten las von dem angeblich riesigen Umfang der Propaganda. Der Leitung der Spartakusgruppe fiel es äußerst schwer, zuverlässige Druckereien zu finden. Meistens druckten Einmannbetriebe. Die Flugblätter mußten stets sofort bezahlt und mitgenommen werden. Das nötige Geld mußte vorher gesammelt werden. Nach jedem Flugblatt, das der Polizei in die Hände fiel, durchsuchte die Polizei etliche Druckereien, um die Schrifttypen zu vergleichen. Doch zu den kleinen Visitenkartenund Briefkopfdruckern kam sie nicht.
Von meinen wenigen Flugblättern konnte ich einige im Abteilungsklosett an die Türen heften. Ein oder zwei kursierten in den Pausen oder verschwanden, wenn sie in falsche Hände gerieten. Niemand wollte es riskieren, ein Flugblatt offen weiter zu reichen, man las es, legte es wieder hin. Es kam auch vor, daß Flugblätter zerrissen wurden.
Mit unseren Flugblättern haben wir die Kriegsherren nicht erschüttert, den Krieg nicht aufgehalten, doch glaubten wir, daß wir das Gewissen der Arbeiter erwecken könnten. Wir Jugendlichen haben die Wirkung unserer Flugblätter im besten Glauben überschätzt. Ich war glücklich, wenn ich zustimmende Bemerkungen der Kollegen vernahm, und ich erzählte darüber im Jugendbildungsverein. Die anderen Mitglieder berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Daß sich unsere Flugblätter nur an die Arbeiterschaft wendeten, ergab sich aus unserem Glauben, daß nur Arbeiter am Kriege uninteressiert seien, daß Arbeiter, die von ihrer Hände Arbeit leben, nicht an der Ausplünderung und Unterdrückung anderer Völker teilhaben könnten. Diesmal war es das Hungerflugblatt vom Juni 1916, das die Nöte der Bevölkerung aussprach, und das bei den Behörden und auch bei den Vorständen der SPD und der Gewerkschaften einschlug. In diesem Flugblatt hieß es:
»Auf das Verbrechen der Anzettelung des Weltkrieges wurde ein zweites gehäuft: die Regierung tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient
– Der U-Bootkrieg hetzt Deutschland neue Feinde auf den Hals, aber an eine Abschneidung der Zufuhren Englands ist nie und nimmer zu denken, auch wenn Deutschland zehnmal mehr U-Boote hätte
– Der deutsche Militarismus steckt nach allen seinen „Siegen“ in der Sackgasse. Wenn jetzt der Krieg fortdauert, so ist es einzig und allein, weil die Volksmassen sich die Infamie geduldig gefallen lassen. Männer und Frauen des arbeitenden Volkes, wir alle tragen die Verantwortung. Nieder mit dem Kriege!«
Hierauf veröffentlichten am 25. Juli 1916 der Parteivorstand der Sozialdemokraten und die Generalkommission der Gewerkschaften gemeinsam einen Aufruf, der sich nicht gegen den Krieg und den Hunger richtete, sondern gegen die eigenen Parteimitglieder, die Spartakusgruppe. Es hieß in diesem Aufruf:
»In anonymen Flugblättern, die im Laufe der letzten Monate in Partei- und Gewerkschaftskreisen verbreitet wurden, wird versucht, Haß und Mißtrauen gegen die von den Arbeitern selbst gewählten Vertrauensleute zu säen, – wird der Vorwurf erhoben, daß sie die sozialistischen Grundsätze preisgeben, die Beschlüsse deutscher Parteitage und internationaler Kongresse mißachten. Durch die Beschlüsse des Mannheimer Parteitages vom Jahre 1906 ist ausdrücklich die Vereinbarung getroffen, daß bei politischen Massenaktionen vorher eine Verständigung und Beratung mit dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei und der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands erfolgen muß.
Die Einleitung von Lohnbewegungen und Streiks ist Aufgabe der zuständigen Gewerkschaftsorganisation.
In der Lebensmittelversorgung bestehen außerordentliche Schwierigkeiten; wir haben nichts unterlassen, mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln die hier auftretenden Mißstände zu bekämpfen.«
In diesen Tagen, an denen täglich Tausende an den Fronten sinnlos starben, verlangten die Bürokraten von der Spartakusopposition, daß diese sich an Formalitäten halten sollte, die längst gegenstandslos geworden waren. Man wußte doch, daß die Hungersnot nicht vermieden werden konnte. Die Ernten der Mittelmächte, einschließlich die der besetzten Gebiete, reichten nicht aus, die deutsche und die österreichische Bevölkerung zu ernähren. Eine gerechtere Verteilung der Lebensmittel hätte die Not etwas gemildert, nicht beseitigt. Das Kriegsministerium gab noch Ende Juli Anweisung an die Generalkommandos, Flugblattverteiler sofort zu verhaften, Personen im militärpflichtigen Alter einzuziehen, ältere und jüngere in Schutzhaft zu nehmen. Diese geheime Anweisung enthielt auch den Wink, sich an die Gewerkschaftsführer um Mithilfe zu wenden.
Unser Parteidistrikt Berlin-Moabit gehörte zum sechsten Reichstagswahlkreis, der Berlin-Moabit, das nördliche Charlottenburg, Spandau und Umgebung einschloß. Es war der Wahlkreis Liebknechts. In diesem Wahlkreis hatten mittlerweile einige sozialdemokratische Funktionäre eine „Spartakusgruppe“ gebildet. Von der Existenz dieser Gruppe erfuhr ich, als Paul Nitschke mir mitteilte, daß ich zu einer Sitzung der Spartakusgruppe eingeladen sei; er habe dort von mir erzählt und für meine Zuverlässigkeit gebürgt, man erwarte von mir, daß ich aktiv mitarbeite. Er sei als Vertreter des Jugend-bildungsvereins bereits Mitglied der Gruppe. Natürlich sagte ich freudig zu und ging mit Paul Nitschke zur Zusammenkunft. Bei unserer Ankunft in einer Privatwohnung waren fünf Personen anwesend. Die gesamte Spartakusgruppe des sechsten Reichstags-Wahlkreises war damit vollzählig. Es genügten einige Worte, um mich vorzustellen; das für die Gruppe Wissenswerte über mich hatte Paul Nitschke bereits in vorhergehenden Sitzungen gesagt. Weitere Formalitäten waren nicht nötig. Namen wurden nicht genannt. Ich lernte die Mitglieder erst in den weiteren Zusammenkünften näher kennen. Es waren der Oberingenieur Kühn, der in den Siemens-Werken arbeitete; der Techniker Willi Budich, der Soldat war und nach Genesung von einer schweren Verwundung in der Schreibstube einer Kaserne tätig war – er war der einzige in Uniform; der Oberwerkmeister Hahn, der in einem Großbetrieb in Oberschöneweide arbeitete; der Werkmeister Arthur Golke; der Tischler Willi Leow, der spätere stellvertretende Führer des Roten Frontkämpferbundes; ferner als Jugendliche Paul Nitschke und ich. Kühn, der älteste der Gruppe, leitete die Sitzung. Er war Mitte vierzig, ebenso alt mag Hahn gewesen sein; Golke war Mitte der dreißiger Jahre; Budich und Leow Ende zwanzig; Paul Nitschke und ich waren somit die Jüngsten. Kühn gab einen kurzen Bericht über die Situation, er sagte unter anderem auch, daß das Hungerflugblatt ein zustimmendes Echo in der Bevölkerung gefunden habe. Er sprach in sehr scharfer Form, voller Abscheu und Verachtung nannte er die Regierung und die Generäle „Verbrecher“, die sozialdemokratischen Führer „Kaiserlakaien“. Technische Anweisungen über konspirative Arbeit und Auskünfte über die Spartakus-Briefe, die bald regelmäßig gedruckt erscheinen sollten, gab Budich, eine energiegeladene Persönlichkeit. An der Aussprache beteiligten sich alle Anwesenden; sie gaben kurze Stimmungsbilder von ihren Arbeitsstätten und Parteigruppen. Nach einer knappen Stunden gingen wir einzeln auseinander.
Die späteren Zusammenkünfte verliefen ähnlich, sie wurden stets von Kühn geleitet, pünktlich begonnen und selten über eine Stunde ausgedehnt. Sie fanden auch meistens in der gleichen Wohnung statt, die dafür sehr geeignet war, sie lag im Vorderhaus parterre; vor dem Haus war ein Rasen. Die Gruppe traf sich niemals in Lokalen. Budich, der stets in Uniform kam, überbrachte die Spartakusbriefe und sonstiges Material der zentralen Leitung. Kühn las zuweilen aus französischen und englischen Zeitungen vor, die zwar meistens mehrere Wochen alt waren, uns aber doch über Dinge informierten, die nicht in den deutschen Zeitungen standen. Ich erhielt während der weiteren Zusammenkünfte auch „Nachholunterricht“ über die Tätigkeit der Opposition seit Kriegsausbruch: einige alte Rundbriefe und Flugblätter, die ich zum Teil schon kannte; ferner Berichte über internationale Konferenzen, die in dieser Zeit in Bern, Zimmerwald und Kienthal stattgefunden hatten.
Aus den Referaten Kühns und Budichs erfuhr ich, daß auch andere Oppositionsgruppen in Berlin und im Reich existierten. So hörte ich zum ersten Male von den Gruppen um die Zeitschriften Arbeiterpolitik, Bremen, und Lichtstrahlen, Berlin, die von Johann Knief, Paul Frölich, Karl Radek, Julian Borchard und Curt Classe herausgegeben wurden. Ich erwähne diese Gruppen, weil sie eine entschiedene Agitation gegen den Krieg führten und wir vom Jugendbildungsverein künftighin ihre Schriften diskutierten und mit verbreiteten.
Kühn berichtete auch von Oppositionsgruppen anderer politischer Richtungen, die von dem „Bund Neues Vaterland“ in Berlin, der in diesem Jahre, 1916, von der Regierung verboten wurde. In der Spartakusgruppe und im Jugendbildungsverein begrüßten wir jede Opposition gegen den Krieg. Es machte uns zuversichtlicher zu erfahren, daß nicht nur unsere Parteiopposition rebellierte.
Im Jugendbildungsverein lasen wir auch aus den Zeitschriften Aktion von Franz Pfemfert, Berlin, und Forum von Wilhelm Herzog, München, vor. Das Forum war bereits seit Mitte 1915 verboten, aber auf das Alter der Hefte kam es uns nicht an. Diese letztgenannten Zeitschriften waren nicht parteigebunden. Ihre Sprache war oft schärfer und bissiger als unsere Schriften. Mehrere Hefte erschienen teilweise mit leeren Seiten, die Zensur hatte Stellen aus den Artikeln herausgenommen. Unsere wichtigste und wirksamste Agitationsschrift gegen den Krieg war jedoch die Juniusbroschüre, die Rosa Luxemburg bereits 1915 im Gefängnis geschrieben hatte. Es gelang Jogiches erst ein Jahr später, sie drucken zu lassen. In der Juniusbroschüre untersucht Rosa Luxemburg die Ursachen des Krieges und klagt die am Ausbruch unmittelbar Schuldigen an.
»Von Berlin und Wien wurde der Krieg entfesselt –«, schrieb sie. »Was hier vorgeht, ist eine nie dagewesene Massenabschlachtung, die immer mehr die erwachsene Arbeiterbevölkerung aller führenden Kulturländer auf Frauen, Greise und Krüppel reduziert, ein Aderlaß, an dem die europäische Arbeiterbewegung zu verbluten droht –«
und immer wieder bekräftigte Rosa Luxemburg die Hoffnung auf die Revolution der Arbeitermassen, besonders der russischen. Sie schrieb: »Die hoffnungsvoll aufflatternde Fahne der Revolution ging im wilden Strudel des Krieges unter – und sie wird aus dem wüsten Gemetzel wieder aufflattern –«
Unsere Aufgabe als Spartakusgruppe aber war nicht nur die Kritik, sondern wir wollten den organisierten Kampf gegen die Regierung und den Krieg. Diesen Kampf konnten wir nur mit den Massen der Bevölkerung führen. Wir waren keine Verschwörer, sondern wir wollten der politisch aktivere Teil des arbeitenden Volkes sein. Jedes Mitglied unserer Spartakusgruppe war in seinem Parteidistrikt und in seiner Gewerkschaft tätig und dort wohlbekannt. In den Distriktversammlungen – Zahlabenden – und bei anderen Zusammenkünften konnten wir zur Politik der Partei sprechen und unsere Flugblätter und Spartakusbriefe an die Mitglieder geben. Zustimmung fanden wir immer. Doch zwischen leise geflüsterter Zustimmung und offenem Bekenntnis war ein weiter Weg.
Zu anderen Spartakusgruppen in Berlin hielten nur Kühn und Budich Verbindung. Wenn ich hier im folgenden von „meiner“ oder „unserer“ Spartakusgruppe berichte, so spreche ich immer von meinem Parteidistrikt Berlin-Moabit. ich habe keine andere Gruppen gekannt.
Von einer Parteineugründung wurde damals nicht gesprochen. Aus den kurzen Referaten Kühns und Budichs und den Diskussionen entnahm ich, daß alle einhellig der Meinung waren, daß die Spartakusgruppe nach dem Krieg wieder aufgelöst werden sollte, daß aber die Führer der SPD wegen ihrer Kriegspolitik zur Verantwortung gezogen werden müßten daß keiner der gegenwärtigen Führer und Reichstagsabgeordneten wieder in verantwortliche Funktionen gewählt werden dürfe. Die Spartakusgruppe war demnach eindeutig eine Opposition innerhalb der SPD nur Mitglieder der Partei konnten sich damals der Spartakusgruppe anschließen. Ich betone diesen Umstand, weil die Beschuldigungen einer Spaltung der Partei und damit der „Schwächung der Arbeiterklasse“ nicht gegen diejenigen erhoben werden können, die an dem Programm der Partei und der Sozialistischen Internationale festhielten. Umgekehrt machten sich jene „Führer“, Funktionäre und Mitglieder der Spaltung schuldig, die die Grundsätze des Sozialismus und der Partei aufgaben und die prinzipientreuen Mitglieder aus der Partei ausschlossen.
Die ab September 1916 gedruckt erscheinenden und für die Öffentlichkeit bestimmten „Spartakusbriefe“ trugen unter der Kopfzeile den Leitsatz:
»Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran.« Unter diesem Leitsatz standen auch die bisherigen von „Spartakus“ unterzeichneten Politischen Briefe, die mit der Schreibmaschine geschrieben und seit Kriegsbeginn an Mitglieder der Spartakusgruppe „zur Information“ gerichtet waren. Die Spartakusgruppe wollte, daß die sozialistischen Parteien aller Länder den Verzicht auf die „nationale Souveränität“ und den Zusammenschluß in einer übernationalen Gemeinschaft propagieren sollten. Diese Haltung wurde von den Nationalisten-Militaristen und ihrem Gefolge als Landesverrat bezeichnet.
Es war wieder Herbst geworden. Der Krieg wütete nun schon seit mehr als zwei Jahren. Die Kämpfe an den Fronten wurden verbissener, die Entbehrungen im Lande fühlbarer. Die Deutschen, die den Spruch vom „frisch-fröhlichen Krieg“ erfunden und jahrzehntelang nachgeschwätzt hatten, fanden den Krieg allmählich nicht mehr so „frisch-fröhlich“. Aber der Feldmarschall Hindenburg erklärte:»mir bekommt der Krieg wie eine Badekur«. Das war den Kriegsgewinnlern aus der Seele gesprochen.
Während das Ludendorff-Hindenburgsche Militärregime die Arbeiterschaft mehr und mehr unterdrückte und auspreßte, wurde die sozialdemokratische Parteibürokratie in ihrer Unterstützung der Kriegspolitik immer niederträchtiger. Maßnahmen, die aus der Not des Krieges erwuchsen, wie Lebensmittelrationierung und Arbeitszwang, wurden von der Parteileitung als „Sozialismus“ ausgegeben. „Sozialismus wohin wir blicken“, wiederholten die Schreiberlinge. Das war doppelt zynisch, da die Parteibürokratie sehr wohl wußte, daß Leute, die Geld hatten, sich nicht an die Rationierung zu halten brauchten und alle wertvollen Nahrungsmittel gegen höhere Preise erhielten. Für Arbeiter unerschwingliche Luxusnahrungsmittel wie Geflügel, Wild, Fisch, Olivenöl, waren frei zu kaufen. Von gleicher Ernährung der Bevölkerung zu sprechen, war Lüge.
Der Zustimmung zum Kriege folgte die zunehmende Verunglimpfung des Begriffes Sozialismus. Wir Jugendlichen – wie auch immer noch viele Mitglieder der Partei – waren des Glaubens, daß der Sozialismus die humanitäre, freiheitliche, demokratische Gesellschaftsordnung der Zukunft sei. Jetzt hieß es Rationierung der Lebensmittel, also Notmaßnahmen im Dienste des Krieges, des Sozialismus.
Die Vergiftung des Denkens der Parteimitglieder wurde dadurch weiter getrieben, daß die Redaktion des Zentralorgans der Partei, der Tageszeitung Vorwärts, mit Hilfe der Wehrkreiskommandantur Berlin abgesetzt und ein Friedrich Stampfer als Chefredakteur eingesetzt wurde. Bisher hatte die Redaktion des Vorwärts zwar alle Verlautbarungen und Aufrufe der Parteileitung gebracht, aber die Redaktion hatte die Kriegspolitik oft kritisch kommentiert. Jetzt unter Stampfers Leitung wurde der Vorwärts zum gehorsamen und feigen Kriegshetzer und Denunziantenblatt.
Meine Agitation im Betrieb wurde nach dem Streik im Juni 1916 schwieriger. Die Überwachung der Arbeiter durch Spitzel wurde schärfer. An den Arbeitsplätzen, in den Garderoben, Waschräumen und Klosetts wurde nach Schriften gesucht. Sogar das Papier, in dem die mitgebrachten Stullen eingewickelt waren, wurde öfters kontrolliert.
Liebknecht war inzwischen nach Aufhebung des ersten Urteils vom Oberkriegsgericht im Geheimverfahren zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden, diesmal wurde ihm „Landesverrat“ vorgeworfen, und das Militärgericht hatte ihm die „Ehrenrechte“ abgesprochen. Damit hatte man ihn seines Reichstagsmandats beraubt. Nach Bekanntwerden des verschärften Urteils hatte es in meinem Betrieb zwar empörte Diskussionen gegeben, aber es kam nicht zum Proteststreik, nicht einmal zu einer Demonstration. Die Spitzenfunktionäre der Partei und der Gewerkschaften und die vom Militärdienst „reklamierten“ Funktionäre in den Betrieben konnten dieses Mal die Arbeiter zurückhalten. Sie verwiesen stets auf die Folgen des Streiks im Juli: Lohnausfälle, Verhaftungen, Einberufungen zum Militär. Die Kollegen waren gedrückter Stimmung, sie arbeiteten verdrossen. Es war aus dem Verhalten der Arbeiter zu erkennen, daß die Unterdrükkungsmaßnahmen zwar bei einigen einen Willen zum Widerstand weckten oder anstachelten, aber bei der übergroßen Mehrheit wurde die beabsichtigte Wirkung erreicht. Die Entwicklung des Widerstands wurde verlangsamt, oft unterbrochen.
Die Parteileitung der SPD hatte jetzt erfaßt, daß sie auch etwas für den Frieden tun müsse und hatte beschlossen, eine Petition an den Reichskanzler zu richten, in der dieser ersucht wurde, der Entente ein Friedensangebot zu machen. Trotzdem die Mehrheit der Mitglieder unseres Moabiter Parteidistrikts in Opposition zur Parteileitung stand, sagte Kühn in der Zusammenkunft unserer Spartakusgruppe, daß wir uns an der Unterschriftensammlung für die Friedenspetition beteiligen müssen. Hierbei zeigte sich übrigens, daß die Parteileitung trotz aller Hilfeleistungen nicht den Dank der Herrschenden erhielt. Einige Wehrkreis-Kommandanten verboten in ihrem Wehrkreis die Unterschriftensammlung. Es kamen auch nicht einmal so viele Unterschriften zusammen, wie die Partei zu dieser Zeit Mitglieder hatte. Die Petition fiel ins Wasser; denn bevor sie dem Reichskanzler überreicht werden sollte, hatte dieser selbst im Dezember einen Friedensvorschlag gemacht.
Kurz vorher hatte Ludendorff durch ein Manifest, mit der Unterschrift des Kaisers, das eroberte Polen aus Rußland herausgelöst und zum selbständigen Königreich erklärt. Einen König hatte Ludendorff bis dahin allerdings nicht. Die Bürgerlichen sahen in dieser Maßnahme einen Geniestreich. Die sozialdemokratische Parteibürokratie jubelte ebenfalls, daß „schon Marx und Engels für die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen gewesen seien“. Im nächsten Spartakusbrief aber wurde festgestellt, daß es sich hierbei nicht um Freiheit und Selbstbestimmung für Polen handele, sondern um den Versuch, Polen in den Krieg gegen die Entente zu pressen; Ludendorff wolle nur polnische Soldaten.
Für mich war es an der Zeit, von der AEG-Voltastraße fortzugehen. Ich stand hier täglich 12 Stunden am Arbeitsplatz, dazu kam noch eine Stunde Fahrzeit. Mein Stellenwechsel mußte sofort geschehen, ehe die Durchführung des neuen Hilfsdienstgesetzes einen Wechsel unmöglich machte oder doch sehr erschwerte. Der geplante Krach mit meinem Vorarbeiter, einem Mann von ungefähr sechzig Jahren, war nicht nötig. Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm sagte, daß ich fortgehen möchte. Die politischen Gespräche in den Arbeitspausen hatten ihn immer nervös gemacht, aber er war kein Denunziant. Er war Proletarier, der eine Laube am Stadtrand besaß. Ein immer von der Angst um seine Existenz geplagter Mann. Als er nach mehr als zwanzigjähriger Arbeit am gleichen Platz vier Tage später Urlaub erhielt, kam er täglich um die Mittagsstunde zum Betrieb, um zu sehen, ob jemand an seinem Platz stand.
Ich hatte auch im Laufe der Zeit bemerkt, daß in anderen Abteilungen des weitläufigen AEG-Betriebes gelegentlich Flugblätter kursierten, die nicht ich mitgebracht hatte. Es waren also einige andere, mir unbekannte Gesinnungsgenossen im Betrieb.
Meine Begründung des Stellenwechsels wurde anerkannt, ich blieb sogar im Konzern. Zu Beginn der folgenden Woche begann ich bereits in der großen Turbinenfabrik der AEG in Berlin-Moabit zu arbeiten. Von meiner Wohnung hatte ich jetzt nur fünf Minuten zur Arbeitsstelle zu gehen. Die Arbeitszeit betrug zwar wie bisher zwölf Stunden täglich, und ich hatte jede zweite Woche Nachtschicht, doch ich gewann wertvolle Zeit; ich konnte auch in der Mittagspause nach Hause gehen. In meiner neuen Arbeitsstelle fand ich zu meinen Betriebskollegen schnell guten Kontakt und wurde bald zum „Vertrauensmann“ für Verhandlungen über innerbetriebliche Angelegenheiten gewählt. Aus den Betriebsvertrauensleuten gingen die „revolutionären Obleute“ hervor, später die „Arbeiterräte“ und schließlich die heute legalen „Betriebsräte“.
Unser Jugendbildungsverein blieb weiterhin recht aktiv. Wir kamen jede Woche zusammen, und wenn es möglich war, machten wir auch sonntags unsere Wanderungen durch die Felder und Forsten der Umgebung Berlins. Diese Wanderungen wurden immer mühsamer. Die wöchentlichen Lebensmittelrationen waren meistens bis Freitag/Samstag aufgegessen, die neuen gab es erst Montags. So wurden die Sonntage zu Hungertagen. Ich schleppte bei den Sonntagsausflügen einen großen Kochtopf mit, und da ich das Talent hatte, aus Brennesseln Spinatsuppe zubereiten zu können, einige Kartoffeln kriegten wir irgendwie dazu, wurde ich Koch des Vereins. Zuerst wurde zusammengelegt, was jeder mitgebracht hatte und aufgeteilt. Was kochbar war, kam in die Suppe. Dabei diskutierten wir über kommende Zeiten, in denen die Nahrungssorgen mit Pillen behoben werden könnten und damit die Tyrannei des Hungers überwunden sein würde. Dann würden auch die Gedanken frei sein, sich mehr mit der Umgestaltung der Gesellschaft zu beschäftigen.
Wir hatten das Buch des Amerikaners Bellamy Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 mit der Einleitung von Clara Zetkin gelesen und mehrere Abende mit Diskussionen darüber ausgefüllt. Wir sprachen über Oscar Wildes Vorstellungen vom Sozialismus, besonders über seine Ansichten über die künftige Bedeutung der Maschinen; wie weit Maschinen den Menschen schwere, gefährliche und mechanische – geistestötende Arbeiten abnahmen und den Menschen dienen würden. Wir lasen und diskutierten das Werk Peter Kropotkins Gegenseitige Hilfe in Tier- und Menschenwelt. Die Umgestaltung der Gesellschaft zu einer sozialistischen Völkergemeinschaft ohne Ausbeutung und Kriege war der Sinn unseres ganzen Tuns im Jugendbildungsverein wie in der Spartakusgruppe. Es war bei uns, wie es auch am Anfang einer jeden Religion gewesen sein mag: „Der Anfang trug uns empor!“ In der Arbeiterbewegung gab es keinen Mystizismus. Der Kapitalismus hemmt die Produktion, der Sozialismus soll sie entfalten. Der Kapitalismus will Profit und Macht, der Sozialismus soll die Befriedigung des Bedarfs des Menschen bringen und die Schande der Armut und Unwissenheit beseitigen. Das war alles klar und einfach. Wir hatten den Wunsch nach einem besseren Leben. Unsere Gegner hatten die Macht und vielfältigere Mittel, ihr Vokabular war reicher, doch ihre Ziele primitiver. Sie wollten halten, was sie hatten: Geld und Macht.
Bis zu dieser Zeit hatte ich keine Zeile von Marx und Engels gelesen, auch keine von Lenin und Trotzki. Dieses Studium begann jetzt erst. Ich habe überhaupt in diesen Jugendjahren niemand gekannt, der durch das Marx-Studium zum Sozialismus kam. Alle bekannten sich aus humanitären und Gerechtigkeitsgründen zum Sozialismus, um dann Marx zu studieren und zu erkennen, „wo das Brot herkommt“.
Unser Hauptthema im Jugendbildungsverein und in der Spartakusgruppe war und blieb der Krieg und was wir zu seiner Beendigung beitragen könnten. Wir blieben bei der Voraussetzung, die im Aufruf vom 25. Juli 1914 dargelegt worden war, daß der deutsche Militarismus den Krieg verschuldet hatte und ihn mit nie dagewesener Grausamkeit führte. Folglich wurde ein deutscher Sieg die entsetzlichsten Folgen für alle Volker und Länder haben.
Um diese Zeit fanden sich nur noch selten Kriegsfreiwillige dafür aber hörten wir von vielen Selbstverstümmlern. Besonders von Urlaubern die nicht zur Front zurückkehren wollten. Wir Militärpflichtigen im Jugendbildungsverein waren uns einig, den Kriegsdienst abzulehnen warnten aber entschieden vor jeder Selbstverstümmlung. Im Jugendbildungsverein und in den Spartakusgruppen haben wir niemals Selbstverstümmler gehabt.
Wilhelm Herzog hatte nach dem Verbot seiner Zeitschrift Das Forum noch im gleichen Jahr, 1915, ein neues Wochenblatt Die Weltliteratur in München gegründet. Die Weltliteratur brachte jede Woche ein Heft mit einem vollständigen Roman oder mit mehreren Novellen heraus; von Andersen bis Zschokke. Besonders wertvoll war uns, daß Wilhelm Herzog zu jedem Heft eine biographische Einleitung der Köpfe der Weltliteratur schrieb. Wir waren fleißige Leser.
In diesen Monaten beschafften wir uns auch die beiden wertvollsten Anti-Kriegsbücher, die im Kriege geschrieben wurden: Henri Barbusse, Feuer, und Leonhard Frank, Der Mensch ist gut. Beide Bücher waren in Zürich erschienen und mußten nach Deutschland eingeschmuggelt werden. Das war recht umständlich und kostspielig, es konnte nur eine geringe Anzahl eingeführt werden.
Jahrzehnte später, 1940, als ich Leonhard Frank in Lissabon traf – er wollte nach den USA, ich nach England –, sprachen wir über die Möglichkeit der Verbreitung von Büchern der emigrierten deutschen Schriftsteller. Er erzählte mir dabei, daß von seinem Buch Der Mensch ist gut während des Ersten Weltkrieges Hunderttausende von Exemplaren eingeführt und illegal verbreitet wurden. So hatte es ihm irgend jemand eingeredet. Er war recht verärgert, als ich diese Zahl als weit übertrieben anzweifelte und ihm von den schweren Bedingungen erzählte, unter denen wir auch im Ersten Weltkrieg zu arbeiten hatten. Es waren damals weder genügend Helfer, noch Geld für Porto vorhanden. Leonhard Frank hatte von diesen Schwierigkeiten keine Vorstellung, da er während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz gelebt hatte.
Bei uns zu Hause ging es immer sehr karg zu. Meine Mutter hat während des ganzen Krieges nicht ein Stückchen Brot mehr gekauft, als uns als Ration zustand. Ihre Einstellung gegenüber dem Staat war die gleiche, wie gegenüber ihrer Religion; für sie waren Anordnungen der Behörden so sakrosankt wie Glaubenssätze. Wir Geschwister hatten auch keine Neigung, irgend etwas „schwarz“ zu kaufen. Obwohl wir Entbehrungen gewöhnt waren plagte uns der Mangel schwer, doch wir lebten, wie die Mehrzahl der Bevölkerung auch leben mußte.
Zu Beginn des Krieges waren wir noch einmal umgezogen; einige Häuser weiter in der gleichen Straße. In unserer Wohnung im Vorderhaus gehörte ein Zimmer einem Arzt, der dort eine Zweitpraxis hatte und dreimal in der Woche Sprechstunde abhielt.
Unser Wohnzimmer diente dann als Wartezimmer. Die Mutter hielt das Arbeitszimmer in Ordnung und war auch etwas Sprechstundenhilfe. So verdiente sie einen Teil der Miete.
Der dritte Kriegswinter 1916/1917 wurde trotz Errichtung des Kriegsernährungsamtes – das ja kein Brot buk, sondern vorhandenes oder nichtvorhandenes verteilen sollte – ein Hungerwinter, der als erster „Kohlrübenwinter“ in die deutsche Geschichte einging. Nicht allein der Mangel an Nahrung, sondern auch an Heizungsmaterial raffte ungezählte Menschen hin. Es wurden öffentliche Küchen für Massenspeisungen eingerichtet, auch größere Betriebe, die bisher keine Küche hatten, richteten solche ein oder hießen ihre Arbeiter zu den öffentlichen Küchen zu gehen. Das mußten sie tun, ihr mitgebrachtes Brot war für den Arbeitstag nicht ausreichend. Die öffentlichen und Werksküchen brachten wenig Erleichterungen, weil sie auch die Abgabe von Lebensmittelabschnitten forderten. Für Alleinstehende waren die Küchen gleichzeitig Wärmehallen. Auch in dieser Zeit kauften wohlhabende „Patrioten“ Lebensmittel „hintenherum“ oder holten sie vom Lande und konnten wohlgenährt das Durchhalten predigen. Die in Berlin so beliebten Pferdebuletten gab es auch nicht mehr. Kollegen im Betrieb erzählten, daß sie schon Buletten aus ihren Hunden oder Katzen gemacht hätten – „die schmeckten wie echte“.
Für mich war diese Zeit doppelt schwer. Die Kollegen wollten kaum mehr von politischen Gesprächen wissen. Politisch Indifferente schrieben und klebten an alle möglichen Stellen die Losung: „Gleicher Lohn und gleiches Fressen, dann wär’ der Krieg schon längst vergessen!“ Dann wurden Gerüchte verbreitet, die Kronprinzessin bade in Milch, während Kleinkinder keine Milch erhielten. Die Spartakusgruppe lehnte diese Art Propaganda ab. Als ich in einer Besprechung meiner Spartakusgruppe von der Wirkung dieser Losung erzählte, sagte Kühn, daß es in den Siemens-Werken ähnlich sei, daß wir trotzdem diese Progapanda nicht übernehmen sollten. In dieser Situation gab es in vielen Betrieben und an verschiedenen Orten immer wieder kleine und größere Streiks, von denen wir gelegentlich erfuhren. Es handelte sich um spontane Ausbrüche der Unzufriedenheit, die keine politische Führung hatten. Die Polizei behauptete natürlich stets, daß die „Radikalen“ dahinter stünden. So viel Einfluß hatten wir leider gar nicht. Die Oberste Heeresleitung kannte die wirkliche Lage sehr genau. Der Kriegsminister von Stein schrieb nach monatelanger Untersuchung und Forschen nach den Verteilern von Flugblättern und Losungen an den Chef des Militärkabinetts des Kaisers am 14. März 1917: „Ob bei den bisher nur ganz partiell auftretenden Streiks auch Aufhetzer und fremdes Geld mitwirken, ist nicht festgestellt.“ Und in einem Geheimerlaß Hindenburgs vom 23. März 1917 hieß es: „Das Heer muß aushelfen, denn es verbraucht augenblicklich 70 % der gesamten verfügbaren Ernährungsmittel“. Es waren mehr als 70 %; denn viele Familien schickten noch Liebesgabenpakete aus der Heimat an Angehörige an den Fronten. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß das Heer die Heimat auffraß. Das Prassen der Offiziere in der Etappe, wo es täglich Fleisch, Wein, Torten, Kaffee gab, war uns aus Briefen und Erzählungen von Urlaubern wohlbekannt. Budich, der jetzt in einer Schreibstube der Kommandantur arbeitete, berichtete in jeder Zusammenkunft unserer Spartakusgruppe über derartige Vorkommnisse. Es gab viel Heiterkeit, wenn er erzählte, wie er die Akten über die Nachforschungen nach den Verbreitern der Flugblätter und Hungerlosungen mitbearbeitete. Die politische Polizei in ganz Deutschland war in erster Linie auf die Fährte Spartakus gesetzt.
In dieser Zeit erwies es sich aber auch, daß schwerste Not nur bedingt radikalisierend wirkt und daß Unzufriedenheitsstimmungen nicht immer politische Auswirkungen haben. In den Kriegsjahren 1916/17 hatten wir in Deutschland in einigen Gebieten Wahlen zu Landtagen und zum Reichstag gehabt. In allen Fällen blieben die linken Kandidaten in der Minderheit. Mitglieder der Spartakusgruppe wurden nirgends aufgestellt. Im Wahlkreis Oschatz-Grimma in Sachsen, einem Arbeiterbezirk, der schon einen Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt hatte, unterlag der linke Kandidat gegen einen Alldeutschen, der offen für die unbegrenzte Weiterführung des Krieges und für Eroberung eintrat.
Die Heeresleitung und die Regierung erkannten aus den Wahlergebnissen die Schwäche der Opposition gegen den Krieg. Ich nenne die Heeresleitung stets zuerst, weil sie im Kriege die Politik bestimmte. So hatte es der Kaiser als oberster Kriegsherr verlangt, „daß der Soldat im Kriege das erste Wort haben wird und daß er keinen Zivileinfluß dulden werde“. Heeresleitung und Regierung beurteilten die Opposition der Spartakusgruppe als eine Erscheinung innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung, nicht aber als Opposition innerhalb des Volkes. Die Heeresleitung sah sowieso in der gesamten Arbeiterbewegung einen Gegner. Für die Regierung gab es Nuancen, sie wußten wohl zu unterscheiden zwischen den leitenden Partei- und Gewerkschaftsfunktionären und der Opposition. Jedenfalls waren beide, Heeresleitung und Regierung, immer noch in ihren Entschlüssen von keiner Seite beeinträchtigt. Sie konnten ebenso ungehindert ein Siegfriedensangebot machen, wie sie die Ausdehnung des Krieges beschließen konnten.
Die Heeresleitung und die Regierung fühlten sich sogar seit dem vergangenen Jahr von einer neuen patriotischen Welle getragen. Die Kämpfe an den Fronten waren wieder erfolgreich, obwohl sie jetzt mit schweren Verlusten waren. Handels-U-Boote konnten die britische Blockade durchbrechen und kriegswichtige Materialien aus den Vereinigten Staaten holen. Der Präsident der USA, Wilson, sandte sein erstes Friedensprogramm an die Kriegsführenden. Die Entente aber hatte das deutsche Siegfriedensangebot vom Dezember 1916 abgelehnt. Von keinen Skrupeln und keiner Partei gehemmt befahl jetzt die deutsche Heeresleitung, nach dem Giftgas-Krieg auch den unbeschränkten U-Boot-Krieg. Alle Handelsschiffe, auch die der neutralen Staaten, sollten ohne Warnung versenkt werden. Die nun folgenden Torpedierungen von Handelsschiffen der USA hatten die Kriegserklärung durch den Präsidenten Wilson zur Folge. Damit waren alle Hoffnungen auf eine baldige Beendigung des Krieges begraben.
Wie aus dem bisher Geschilderten hervorgeht, war die Spartakusgruppe von ihrer Gründung an für „illegal“ erklärt worden. Die Mitgliedschaft in der Spartakusgruppe galt als Vorbereitung zum Hochverrat, auch wenn dem einzelnen keine strafbare Handlung nachgewiesen werden konnte. Wir mußten unsere Politik offen vertreten, aber die Mitgliedschaft zur Gruppe geheim halten. So konnten wir als Gruppe nicht öffentlich politisch wirken. Angriffe der Gegner konnten wir nicht öffentlich zurückweisen. Der Parteivorstand hatte überdies in einem vertraulichen Rundschreiben die Landes- und Bezirksvorstände angewiesen, verhafteten oppositionellen Parteigenossen keinen Rechtsschutz und keine Unterstützung zu gewähren. Von der Staatsmaschine verfolgt, und von der Bürokratie der SPD und der Gewerkschaften denunziert, mußten wir sehr vorsichtig sein. Nur wenige hervorragende Köpfe wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring konnten auch aus der Gefängniszelle heraus wirken.
Der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften, Carl Legien, der auch Reichstagsabgeordneter war, hatte als erster schon in den frühen Kriegsmonaten den Ausschluß der aktiven Kriegsgegner aus der Partei beantragt. So auch den Ausschluß der Reichstagsabgeordneten, die später dem Beispiel Liebknechts folgten und die Kriegskredite ablehnten. Diese Ausschlüsse waren mittlerweile erfolgt. Von den 110 Reichstagsabgeordneten der SPD erhoben sich mit der Zeit 43 gegen die Mehrheit und lehnten weitere Kriegskredite und auch den U-Boot-Krieg ab.
Die Ausgeschlossenen gruppierten sich als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“. Die Führung lag bei Hugo Haase und Georg Ledebour. Diese legale Arbeitsgemeinschaft hatte bereits im Januar 1917 ein Friedensmanifest veröffentlicht, in dem ein „Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung“ gefordert wurde. Es solle „weder Sieger noch Besiegte“ geben. Die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft raffte sich endlich zur Schaffung einer neuen Partei auf. Zu der Reichskonferenz, die zu diesem Zweck einberufen wurde, wurde auch die Zentrale des Spartakusbundes eingeladen. Die Einladung wurde angenommen unter der Bedingung, daß die Spartakusgruppe ihre Selbständigkeit innerhalb der neuen Partei wahren könnte. Der Leiter des Spartakusbundes. Leo Jogiches, erläuterte in einem Brief an die Gruppen in Berlin und im Reich die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des Eintritts in die neue Partei; die Spartakusgruppen könnten allein nicht genügend wirken, sie brauchten ein „schützendes Dach“ und eine Massenbasis.
In unserer Spartakusgruppe hatten wir in den letzten Monaten immer wieder die Frage diskutiert, wie weit wir uns gegenüber der internationalen Arbeiterklasse mitschuldig und mitverantwortlich machten, wenn wir zu lange in der kriegsbejahenden SPD blieben. Das Argument „bei der Masse bleiben“ verblaßte. Ich hatte auch des öfteren in meiner Gruppe berichtet, daß mir von Kollegen im Betrieb bei Diskussionen über die Kriegspolitik der SPD vorgehalten wurde, „bist ja selbst drin!“ Eine Fraktionsarbeit kann also nur bis zu einem bestimmten Grad sinnvoll sein, sie darf die eigene politische Tätigkeit nicht lähmen.
So war es Ostern 1917 zur Bildung der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD) gekommen. In meinem Parteidistrikt Berlin-Moabit hatten wir gut vorgearbeitet und erreicht, daß sich die übergroße Mehrheit der Mitglieder gegen den alten Parteivorstand erklärte und beschloß, die Beitragszahlung an den Parteivorstand einzustellen. Dieser Beschluß erleichterte die Neugründung. Die bisherige Parteiarbeit war sowieso zum Stillstand gekommen. Es hatten lange keine Versammlungen stattgefunden. Angeforderte Referenten des Parteivorstandes, die über die Kriegspolitik Rechenschaft gegen sollten, waren seit längerer Zeit nicht mehr bei uns erschienen, nur unsere Beiträge wollte der Parteivorstand noch haben.
Unser Jugendbildungsverein leistete bei der Organisierung der neuen Partei in unserem Distrikt die wichtigste Arbeit. Wir suchten die Mitglieder der alten Partei auf, informierten sie, holten ihre Zustimmung ein, sammelten die Mitgliedsbücher ein, die dann mit dem Stempel „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD“ versehen wurden.
Mein überstempeltes Mitgliedsbuch hatte ich als Andenken aufbewahrt. Es wurde im Jahre 1942 von einem Freund in Toulouse, bei dem ich es zusammen mit anderen Papieren und Briefen hinterlegt hatte, verbrannt, als die deutschen Truppen Südfrankreich besetzten.
Die Gründung der USPD war die erste Abspaltung und Neubildung in der deutschen politischen Arbeiterbewegung seit der Vereinigung des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ (Lassalleaner), und der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (Bebel–W. Liebknecht), die im Jahre 1875 in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ und nach Aufhebung des „Sozialistengesetzes“ im Jahre 1890 in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands – SPD“ umbenannt worden war.
Doch bei der Gründung der USPD war schon zu beobachten, wie auch bei späteren Spaltungen, daß ein erheblicher Teil der älteren Mitglieder sich ganz zurückzog. Die aktivsten Jahrgänge waren im Felde.
Die Führer der SPD haben immerfort den Unabhängigen Sozialdemokraten – und später den Kommunisten – vorgeworfen, die Arbeiterschaft gespalten und damit geschwächt zu haben. Diese Vorwürfe sind ohne Sinn, da die Organisation der SPD einschließlich deren Nebenorganisationen nicht mehr politische Kampfinstrumente der Arbeiterklasse waren. »Die Form hat keinen Wert, wenn sie nicht die Form des Inhalts ist«, hatte Marx Jahrzehnte vorher geschrieben. Die Forderungen der Zeit verlangten nach einer neuen politischen Arbeiterorganisation. Die Ausgeschlossenen mußten sich neu organisieren, wenn sie politisch aktiv bleiben wollten.
Die SPD selbst ist aus einer vergleichbaren Situation entstanden. Die Arbeiterbewegung hat sich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus den bürgerlichen, demokratisch-fortschrittlichen Vereinigungen herausgelöst, um die Interessen selbst zu vertreten. Diese Selbständigwerden der Arbeiterschaft wurde damals vom Bürgertum als „Schwächung des demokratischen Gedankens“ verdammt. Der Wille zur Selbständigkeit war aus der Erkenntnis – und auch aus der Erfahrung – gewonnen, daß die demokratischfortschrittlichen Vereinigungen nicht so weit an den sozialen Verhältnissen, den Arbeitsund Lebensbedingungen der Arbeiterklasse interessiert waren, um gemeinsam mit den Arbeitern diese Verhältnisse zu ändern. Das mußten die Arbeiter selbst tun.
Die Spartakusbriefe waren in letzter Zeit umfangreicher geworden, aber sie erschienen in größeren Zeitabständen. Die Auflagen waren so gering, daß wir im Jugendbildungsverein aus jeder Nummer Artikel mit der Hand abschrieben und sie weitergaben. Um weitere drucken zu können, brauchten wir Geld. Die zentrale Leitung wollte außerdem eine besondere Gewerkschaftszeitung herausbringen, es war uns aber nicht möglich, das Geld dafür zu sammeln.
Die Sammlung um die neue USPD stimmte uns sehr zuversichtlich, und die Diskussionen in der Spartakusgruppe und im Jugendbildungsverein zeigten den Optimismus, ohne den politische Arbeit nicht möglich ist. Jetzt kamen auch die ersten Nachrichten von der russischen Revolution. Dort entwickelte sich aus einer Hungerrevolte eine Revolution. Jedoch bei den Arbeitern in meinem Betrieb waren die russischen Ereignisse überschattet von der eigenen Lebensmittelnot. Der Hauptinhalt aller Gespräche waren Gerüchte, daß die Regierung die Brotration weiter kürzen wollte. Immer mehr Kollegen fehlten an der Arbeitsstelle. Sie erzählten anderntags, daß sie im Bett geblieben seien, weil sie sich zu schwach gefühlt hätten, zur Arbeit zu gehen. Die Ernte des vergangenen Jahres, 1916, war aus kriegspolitischen Gründen falsch angegeben worden. Der Präsident des Kriegsernährungsamtes, Batocki, erklärte im Februar 1917 vor den zusammengerufenen preußischen Landräten: »– daß die breite Masse der Bevölkerung, die großstädtische natürlich viel mehr als die ländliche, bis zur Ernte am Rande des Hungers steht«. Und der Staatskommissar für Ernährungsfragen, Michadis (der spätere Reichskanzler), sagte es selbst einen Monat später, März 1917, im preußischen Abgeordnetenhaus. »– es kann der fürchterliche Moment eintreten, daß ich nicht in der Lage bin, für die Arbeiterbezirke des Westens rechtzeitig das nötige Mehl zur Verfügung zu stellen – das grausige Elend, das wäre, wenn wir mit einem Male im Laufe der letzten Monate des Betriebsjahres merken, es reicht nicht, es geht nicht, durchzuhalten. Das Elend, was dann käme, das ist nicht zu beschreiben.« Die Regierung kannte also die wirkliche Lage sehr genau. Die Knappheit wirkte sich verstärkt aus durch die unregelmäßige Abgabe. Was die Kollegen im Betrieb redeten, hörte ich auch zu Hause von meiner Mutter. Sie erzählte, daß sie immer mehrere Male nach den fälligen Rationen gehen müsse. So war die Situation, als wir im Betrieb zu diskutieren begannen, ob es zweckmäßig sei, einen Streik zu organisieren, um die Erhöhung der Rationen und vor allem auch die rechtzeitige Ausgabe zu erzwingen.
Für niemand unerwartet kam es Mitte April 1917 in Berlin zur ersten großen Explosion der Unzufriedenheit. In meiner Arbeitsstelle hatten wir die Zustimmung zum Streik schon in der Woche vorher von den Kollegen eingeholt, die alle einzeln befragt wurden. Die Gewerkschaftsbürokratie wußte natürlich von den Vorbereitungen, sie versuchte zu bremsen und erklärte den Streik für „statutenwidrig“. Der Krieg, der Hunger, die Entbehrungen waren nicht statutenwidrig. Am Sonntag, den 15. April, beschloß die Versammlung der Obleute der Betriebsvertrauensmänner den Streik. Trotz aller Drohungen und Widerstände wurden ab Montag, den 16. April, fast alle Berliner Munitionsfabriken, über 300, stillgelegt. Es streikten mehr als zweihunderttausend Arbeiter.
Am Montagmorgen versammelte sich unsere Belegschaft vor dem Betrieb und schloß sich mit der Belegschaft des benachbarten Munitionsgroßbetriebes Ludwig Loewe zusammen. Zwei Straßen weiter waren die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, deren Belegschaft sich ebenfalls auf den Straßen um den Betrieb versammelt hatten. Wir vereinigten uns zu einem Zug von vielleicht fünfzehntausend Männern und Frauen und zogen durch Alt-Moabit zum Stadtzentrum. An allen Straßenecken standen Polizisten mit umgeschnallten Revolvern.
Eine Kommission der Streikenden verhandelte während der Demonstration mit dem Ernährungskommissar und dem Oberkommando in den Marken. Es wurde der Kommission zugesagt, daß die Rationen pünktlicher ausgegeben werden. Daraufhin beschlossen die Obleute am folgenden Tag den Abbruch des Streiks. Mehrere Betriebe hatten bereits nach eintägigem Streik weitergearbeitet, andere streikten die ganze Woche hindurch. In meinem Betrieb dauerte der Streik zwei Tag- und drei Nachtschichten. Auch danach erschienen die Schichtarbeiter nicht vollzählig zur Arbeit. Zahlreiche Kollegen schliefen sich ein bis zwei Tage aus andere waren aufs Land gefahren, um zu versuchen, direkt von Bauern Kartoffeln zu bekommen. Konkret wurde durch den Streik wenig erreicht. Die Kollegen in meinem Betrieb waren einige Zeit enttäuscht und wortkarg. Sie befürchteten ihre Einberufung oder die militärische Besetzung des Betriebes, wie es mit den benachbarten Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken geschah, deren Betriebe militärisch besetzt und deren Belegschaft kriegsverpflichtet wurden; auch die Frauen. Erhöht wurden die Rationen nicht es war nichts vorhanden. Aber in der Osterbotschaft der Regierung wurde die seit Jahrzehnten geforderte preußische Wahlrechtsreform angekündigt die das geheime und direkte Wahlrecht versprach. Der Spartakusbund kritisierte dieses Wahlrechtsversprechen als eine Ablenkung der sozialdemokratischen Wähler. Sofort machte uns die sozialdemokratische Presse Vorwürfe über die angeblich negative Haltung zur Wahlrechtsreform. Die Zentrale des Spartakusbundes beantwortete die Vorwürfe:»Politische Ziele sind keine ewigen Götterbilder, an deren Generationen anbetend vorüberwallen. Was 1906 ein Ziel war, kann 1917 aufgehört haben eines zu sein. Drum ist es ein gesundes Gefühl der Massen, wenn sie an all dem Wahlrechtsbrimborium jetzt vorübergehen mit eiskalter Wurstigkeit. Für sie geht die Frage um den Frieden, können sie den Frieden auf ihre Weise erkämpfen, so kommt das übrige von selbst; die Abschaffung der vierundzwanzig deutschen Vaterländer – die Monarchie mitsamt der Kleinstaaterei als Trockenlegung des Sumpfes der preußischen Reaktion und alles andere.«
Während der Streikbewegung, die sich auf die industriellen Gebiete Deutschlands ausdehnte, wurde von uns ein Flugblatt herausgegeben mit Forderungen, die über die Fragen der Lebensmittelversorgung weit hinaus gingen. Wir forderten die Befreiung der politischen Gefangenen und Niederschlagung der schwebenden politischen Prozesse, Beseitigung des Hilfsdienstgesetzes, Aufhebung des Belagerungszustandes, unbeschränkte Versammlungs-, Presse- und Vereinsfreiheit. Die Hauptlosung aber war: „Organisierung der Arbeiterklasse zur Erzwingung des Friedens und wirklicher politischer Freiheit. Schaffung eines ständigen Delegiertenkörpers aus Vertretern aller Betriebe, der den Arbeiterkampf leiten soll.“
Mit diesen Forderungen wurde die deutsche Arbeiterschaft zum ersten Male aufgefordert, Arbeiterräte zu bilden.
Die Heeresleitung forderte nun in einem Schreiben an den Chef des Kriegsamtes die „rücksichtslose Zusammenarbeit der Arbeiterorganisationen mit dem Kriegsamt“ als unerläßlich für die Weiterführung des Krieges. Die Spartakusgruppe dagegen verlangte Abbruch jeder Zusammenarbeit als Voraussetzung seiner Beendigung.
Die Gewerkschaftsbürokratie schloß sich der Aufforderung der Heeresleitung und des Kriegsamtes zur Intensivierung der Kriegsproduktion an. Sie wies die Arbeiter hämisch auf die Erfolglosigkeit der Streiks hin. Auch die Feier des 1. Mai 1917 sollte nicht mehr stattfinden. Vom Kriegsdienst freigestellt, zitterten die Gewerkschaftsbürokraten bei jedem Konflikt um ihre Existenz. Auf die Mitglieder nahm die Gewerkschaftsbürokratie keine Rücksicht, aber den Militärbehörden mußte sie etwas wert sein.
Die Leitung des Spartakusbundes beschränkte sich nicht auf die Verdammung der Politik der Generalkommission der Gewerkschaften und der Vorstände der einzelnen Vereine; auch das passive Verharren der Mitglieder verurteilte sie mit herben Worten im Spartakusbrief vom April 1917:
»In Deutschland allein sehen wir die beispiellose Erscheinung, daß die machtvollsten Gewerkschaftsorganisationen der Welt vom ersten Moment des Krieges ihre ganze, gewaltige Macht gebraucht haben – nicht gegen das ausbeutende Kapital, sondern gegen die ausgebeuteten proletarischen Massen, um sie zum geduldigen und widerspruchslosen Ertragen der ärgsten Ausbeutung zu zwingen, um sie just dann völlig zu entwaffnen, wo das deutsche Kapital sich zur unerhörten Macht aufrafft und zu einem nie dagewesenen Feldzug gegen das Proletariat in Zukunft wappnet. Dazu hat die deutsche Arbeiterschaft in jahrzehntelanger harter Selbstdisziplin Millionen Menschen in die Organisationen eingepfercht und Millionen über Millionen Mark aus sauer verdienten Groschen aufgespeichert, damit sie mit dem Ausbruch des imperialistischen Krieges, des reaktionärsten, kulturfeindlichsten, bestialischsten aller Kriege, der kriegsführenden Bourgeoisie als Hilfstruppe und Hilfskriegsschatz dienen! –
Ein psychologisches Rätsel und ein soziales Problem erster Ordnung sind bei alledem nicht die Männlein von der Generalkommission der Gewerkschaften mit ihrem Stab von Kreaturen in Gestalt der Gauleiter, die ihnen allerorten Vertrauenskundgebungen fabrizieren. Ein Rätsel und ein Problem sind die organisierten Massen, die solchen Kreaturen nach wie vor Gehorsam und Gefolgschaft leisten. Die Disziplin ist in den sogenannten freien Gewerkschaften zu einem solchen Selbstzweck geworden, daß die Massen ohne Murren folgen, ob die Führer sie zum Kampf oder zur Kapitulation, ob in Macht und Glanz oder in Korruption und Schmach führen, ob sie proletarische Interessen oder kapitalistische Ausbeutung verfechten – Hier, in diesem Verhältnis der deutschen organisierten Arbeiterschaft, also der Elitetruppen des deutschen Proletariats, zu ihren Führern, stoßen wir zugleich auf das Problem des deutschen Militarismus, also auch des Imperialismus – Den deutschen Militarismus überwinden, heißt also jetzt nichts anderes, als den Kadavergehorsam der organisierten Arbeiter gegenüber Legien und Co. überwinden. Hier, in diesem völlig kritiklosen, geistlosen, mechanischen Gehorsam einer Hammelherde, steckt eine der wesentlichen Wurzeln des Militarismus. Der Militarismus sitzt den deutschen Arbeitern im eigenen Nacken.«
In den Sätzen des Spartakusbriefes sind die Folgen vorausgeahnt; die spätere Machtübernahme Hitlers, die Hakenkreuzfahnen an Gewerkschaftshäusern, die gemeinsame Maifeier der Gewerkschaften mit den Nazis 1933, die widerstandslos hingenommene Auflösung der Gewerkschaften, die Eingliederung der Arbeiter in die Nazi-Arbeitsfront. Der Spartakusbund hatte niemals gefordert, daß die Gewerkschaften die „Revolution machen“ sollten. Aber der Spartakusbund verlangte, daß die Gewerkschaften als Organisation der Arbeiterschaft, auch im Kriege ihre Interessen wahrnehmen und nicht in den Dienst des Krieges des Klassenfeindes eingesetzt werden sollten. Der Artikel im Spartakusbrief über die Disziplin der Gewerkschaften wurde von meinen Kollegen sehr unfreundlich aufgenommen. Aber es wurde diskutiert, ob man einfach aus der Gewerkschaft austreten solle. Andererseits wollte man jedoch die erworbenen Rechte auch nicht verlieren, da die Gewerkschaft gleichzeitig eine Art Versicherung war. Neuwahlen der höheren Funktionäre ließen die Bürokratie und auch die Mitlitärbehörden nicht zu. Die Gewerkschaftsbürokratie war ähnlich der Ministerialbürokratie ein geschlossener Verband.
Oppositionelle Kandidaten mußten damit rechnen, ausgeschlossen, eingezogen oder verhaftet zu werden.
Ganz ohne Wirkung blieb die Kritik der Spartakuszentrale jedoch nicht. Der Einfluß der Betriebsvertrauensmänner wuchs. Obwohl diese gewerkschaftlich organisiert sein mußten, ließen sie sich doch weniger kommandieren. Doch sollten weitere neun Monate vergehen, bevor der Hunger und die sinnlosen Opfer des Krieges die Arbeiterschaft zu neuen machtvollen Streiks antrieben.
In meinem Großbetrieb mit den Tausenden von Arbeitern im militärpflichtigen Alter kamen auch fast täglich Urlauber zu Besuch. Sie kamen von allen Fronten oder aus Lazaretten. Sie hatten große Teile Europas gesehen, die sie sonst nie in ihrem Leben gesehen hätten. Ihre Erzählungen glichen einander wie eine Uniform der anderen. Sie erzählten patriotische Blödheiten gemischt mit Geschimpfe über den Krieg. Sie erzählten von den Bordellen hinter den Fronten, von den Frauen und Mädchen die freiwillig oder unfreiwillig dorthin geschleppt wurden. Die Urlauber erzählten von den Paketen, die sie mitgebracht hatten Gleichviel ob das Land aus dem sie kamen reich oder arm war, sie fanden immer etwas nach Hause zu schicken. Der uralte Instinkt des Plünderns im Kriege sprach aus allen Erzählungen. Sie sprachen in Ausdrücken, die in manchen Formen der modernen Literatur beliebt sind. Ich gebe diese Sprache nicht wieder. Dann wiederum sprachen sie von „Schluß machen, wir wollen nicht wieder raus“. Der blöde Ausdruck „wir haben die Nase voll“ war der meistgebrauchte. Im gleichen Atemzug prahlten sie mit unverhohlenem Stolz mit Scheußlichkeiten, die sie für Heldentaten hielten, und manche erklärten, daß die besetzten Gebiete nicht wieder geräumt werden dürften. Kurz, der Inhalt der Gespräche war dürftig. Wie primitive Menschen sprachen sie meistens im Plural, der den eigenen Anteil am Geschehen schwer erkennen läßt. Der Raubbau des Krieges hatte längst nach der Substanz gegriffen. Gold- und Silbergeld verschwand. Die Regierung ließ ungedeckte Banknoten drucken. Man glaubte zwar noch, daß die goldenen Uhrketten, die für eiserne umgetauscht wurden, die eingeschmolzenen Kirchenglocken, Türklinken, eisernen Zäune nach dem Kriege von den Gegnern in neuem Glanz doppelt und dreifach eingelöst werden müßten, aber es regten sich schon Zweifel. Indessen wurde der Militär- und Polizeiapparat des Staates immer mehr verstärkt und führte zur härteren Unterdrückung des eigenen Volkes und der Völker der besetzten Gebiete. Die Leitung des Spartakusbundes rief nach einer revolutionären Lösung.
Im Spartakusbrief vom April 1917 wurde erklärt:
»Die kapitalistischen Staaten sind nicht mehr imstande, aus eigenem Willen dem entfesselten imperialistischen Hexensabbat Halt zu gebieten. Nur eine einzige Macht wäre imstande und war durch die Geschichte berufen, dem rasenden Abrutsch der Gesellschaft in den Abgrund der Anarchie und der Verwilderung in die Speichen zu fallen: das internationale sozialistische Proletariat. Einen anderen Ausweg aus dem Kriege als die revolutionäre Erhebung des internationalen Proletariats zum Kampfe um die Macht gibt es nicht mehr – es sei denn die völlige Erschöpfung der Gesellschaft, das heißt wirtschaftlicher, kultureller, moralischer Zusammenbruch, die Agonie nach unabsehbarer Dauer des Krieges.«
Damit betonte der Spartakusbund seine eigentliche Aufgabe: revolutionärer Umsturz, Organisierung der Revolution. Doch zur Revolution gehörte die Mitwirkung eines möglichst großen Teils der Arbeiterklasse. Die Massen der Arbeiter hatte sich bisher nicht mit Aufgaben der Revolution beschäftigt. Die Vorkriegsschriften des Parteitheoretikers Kautsky über diese Aufgaben waren Probleme kleiner Studienzirkel geblieben, sie waren niemals zu Aufgaben der Massen geworden. Es war unsere Sache als Spartakusbund, die revolutionären Instinkte und Energien zu wecken und zu lenken. Ich habe die revolutionären Ereignisse im März 1917 in Rußland bisher nur kurz erwähnt. Auf unsere Streiks im April hatten sie keinen Einfluß. Die abendelangen, erregten Diskussionen um die Vorbereitungen des Streiks ließen wenig Zeit für die Beobachtung anderer Ereignisse. Pressemeldungen aus dem Ausland unterlagen der Militärzensur. Wir konnten ihnen darum keinen oder nur geringen Glauben schenken. Wir wußten zu wenig über Ursachen, Verlauf und Umfang der russischen Ereignisse. Die Zeitungen berichteten zuerst von Hungerrevolten der Hausfrauen in St. Petersburg. Erst als die Revolte auf die Front übersprang und die Nachricht von der Abdankung des Zaren kam, verstanden wir, daß sich in Rußland eine Umwälzung anbahnte. Unsere Diskussionen im Betrieb erhielten nun konkreten Inhalt. Wir hatten ein Beispiel. Den sozialdemokratischen Mitgliedern konnten wir sagen, daß es jetzt keinen Vorwand vom „Kampf gegen den Zarismus“ mehr gebe. Im April-Spartakusbrief wurde zur russischen Revolution geschrieben:
»– Sobald jedoch in Rußland das Proletariat den „Burgfrieden“ durch offene Revolution aufgesagt hat, fällt ihm das deutsche Proletariat, indem es die Kriegsaktion ruhig weiter unterstützt, nunmehr direkt in den Rücken. Jetzt wirken die im Osten fechtenden Truppen nicht mehr gegen den „Zarismus“, sondern gegen die Revolution. Und sobald das russische Proletariat bei sich zu Hause den Kampf für den Frieden aufrollt dies ist sicher bereits begonnen und wird mit jedem Tag mehr der Fall sein – verwandelt sich das Verharren des deutschen Proletariats in der Haltung eines gehorsamen Kanonenfutters in offenen Verrat an den russischen Brüdern –«
Jetzt bestätigt selbst der Parteivorstand der Sozialdemokratie, daß eine Beteuerung vom August 1914, der Krieg werden „gegen den Zarismus“ geführt, ein erlogener Vorwand war. Der russische sozialdemokratische – menschewistische – Führer Tscheidse hatte nach dem Sturz des Zarenhauses von deutschen Sozialdemokraten gefordert, daß sie nun auch die Absetzung des Hohenzollern betreiben sollten. Im Leitartikel vom 3. April 1917 antwortete das Zentralorgan der Partei der Vorwärts:
»Die Forderung nach der deutschen Republik kann nur von Deutschen selbst, nicht aber von Russen, Franzosen, nicht von Untertanen des Königs von England oder des Königs von Italien erhoben werden – Das deutsche Volk in seiner Mehrheit ist nicht antimonarchisch. Wenn noch Schwierigkeiten zu überwinden sind, so werden sie – überwunden ohne eine Spur von gewaltsamem Umsturz und ohne Sturz der Monarchie.«
Diese Antwort des Parteivorstandes der Sozialdemokratie brachte uns in den nächsten Zusammenkünften meiner Spartakusgruppe auf das Thema Monarchie. Wir wußten wohl, daß die Absetzung des Kaisers eine Forderung der Entente, und daß die Parole „Hang the Kaiser“ in England ein populäres Schlagwort war. Der Kaiser erwiderte diese unfreundlichen Absichten. Er sagte im Juli 1917 am Schluß des Krieges wird eine große Verständigung mit Frankreich kommen dann wird ganz Europa unter meiner Führung den eigentlichen Krieg gegen England beginnen den zweiten Punischen!
Bisher hatten wir in meiner Spartakusgruppe nur selten die Frage der Monarchie und des Kaisers besprochen, im Jugendbildungsverein noch seltener. Auch in den Spartakusgruppen wurde diese Frage nur gestreift, weil wir es als selbstversändlich voraussetzten, daß eine proletarische Revolution in eine Republik einmündet. In den Jahren vor dem Krieg galt der Hauptkampf Karl Liebknechts dem Militarismus der Herrschaft der Militärkaste. Der Kaiser war Haupt dieser Kaste ihr Symbol. Doch habe ich bei Gesprächen mit Arbeitskollegen öfters festgestellt, daß überraschend viele Arbeiter von einer Republik keine rechte Vorstellung hatten. In Deutschland mußte die Republik nicht nur die Abwesenheit des Königs sein, sondern die Übernahme der Verantwortung durch das Volk. Mit der Monarchie aber war ein imponierendes Gepränge verbunden, das nicht nur die Herzen der Bürger, sondern auch vieler Arbeiter höher schlagen ließ.
In den Maitagen erhielt die Leitung des Spartakusbundes auch die ersten eigenen Nachrichten aus Rußland über Schweden und auch direkt von der Ostfront. Leo Jogiches, der Kopf des Spartakusbundes, war in Wilna geboren, er sprach Polnisch und Russisch und hatte im besetzten Osten Freunde und Anhänger aus einer Jugendzeit. Im Mai-Spartakusbrief konnte er die ersten Aufrufe der aufständischen Arbeiter und Soldaten Petrograds aus den Tagen der Erhebung veröffentlichen.
Die beiden ersten Aufrufe der Revolutionäre knüpften an den Aufstand in Petersburg im Jahre 1905 an und forderten als erstes die Wahlen von Delegierten der Arbeiter und Soldaten. In den Fabriken und Werken sollten auf je tausend Arbeiter ein Vertreter kommen, die Truppen, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, sollten in jeder Kompanie einen Vertreter wählen. Das geschah ohne Zeitverlust, und die Vertreter wählten die Delegierten-Räte, russische Sowjets, als erste Maßnahme zur verantwortlichen Leitung der Revolution.
Nicht alle Truppen in Petrograd waren auf die Seite des Volkes übergelaufen. Die aufständischen Einheiten konnten nicht in die Kasernen zurück, sie standen auf den Straßen. In einem Bericht eines englischen Augenzeugen las ich den lapidaren Satz, der das Wesen der Revolution erhellt: »In Uniform gesteckte Bauern entdecken, daß sie Menschen sind und wollen mitbestimmen.« Die russischen Bauern schlossen sich den Arbeitern an. Der zweite Aufruf vom gleichen tage appellierte an die Bevölkerung zu helfen, die Soldaten zu ernähren. Hier bezeugte die Mehrheit der Bevölkerung den Willen zur Revolution; sie befolgte diesen Appell bereitwilliger, trotz größter Entbehrungen.
Am folgenden Tag schon gab der Petrograder Arbeiterdelegiertenrat eine Erklärung über die Ereignisse und seine Absichten:
»Bürger! Die alte Regierung hat das Land an den Rand des völligen Zerfalls gebracht und das Volk dem Hunger ausgeliefert. Länger zu dulden war unmöglich. Die Bevölkerung Petersburgs trat auf die Straße, um ihre Unzufriedenheit kundzugeben. Sie wurde mit Salven begrüßt. Anstatt mit Brot bewirtete die Zarenregierung das Volk mit Blei.
Die Soldaten wollten aber nicht gegen das Volk vorgehen und erhoben sich gegen die Regierung. Im Verein mit dem Volke ergriffen sie Besitz von Waffen, Militärlagern und einer Reihe wichtiger Regierungsinstitutionen.«
Es folgt die Mitteilung von der Bildung des Delegiertenrats.
»Alle zusammen werden wir mit vereinten Kräften für die völlige Beseitigung der alten Regierung kämpfen und für die Einberufung der konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts.«
Dann erließen die Revolutionäre einen Aufruf An die Völker der ganzen Welt, der sich besonders an die Deutschen richtete, und in dem es hieß:
»Und so fordern wir Euch auf: Werft das Joch eurer absolutistischen Ordnung ebenso ab, wie das russische Volk die Selbstherrschaft des Zaren von sich abgeschüttelt hat. Weigert euch, als Mittel der Eroberung und der Gewalt in den Händen von Königen, Junkern und Bankmännern zu dienen – und mit vereinten Kräften werden wir dem furchtbaren Gemetzel ein Ende setzen, das die Menschheit mit Schmach bedeckt und die großen Tage der Geburt der russischen Freiheit verdüstert.«
Die Aufrufe zeigten gleichzeitig den Beginn einer Doppelherrschaft an: neben der adlig-großbürgerlichen, aus der Duma – dem Parlament – hervorgegangenen Regierung als Nachfolgerin des Zarenregimes traten die Arbeiter- und Soldatenräte selbständig nach innen und außen auf.
Jogiches verstand es erstaunlich gut, Rosa Luxemburg, die zu dieser Zeit im Zuchthaus Wronke in Schlesien (später in Breslau) gefangen gehalten wurde, laufend mit Informationen, Briefen, Zeitungen zu versorgen. Was nicht durch die Post geschickt werden konnte, besorgte die tüchtige Sekretärin Rosa Luxemburgs, Mathilde Jakob, die so oft es möglich war, zwischen Berlin und Schlesien hin und her fuhr. So konnte Jogiches bereits den ersten Aufrufen und Maßnahmen der Revolutionäre in Petersburg die Stellungnahme Rosa Luxemburgs beifügen. Natürlich anonym, aber Sprache und Stil waren uns wohlbekannt. Rosa Luxemburg schrieb unter anderem:
»Mit dem Ausbruch der russischen Revolution ist der tote Punkt überwunden, auf den die geschichtliche Situation mit der Fortdauer des Weltkrieges und dem gleichzeitigen Versagen des proletarischen Klassenkampfes geraten war – die ängstliche Spannung, mit der man hier jede Äußerung Tscheidses und des Arbeiter- und Soldatenrates in bezug auf die Kriegs- und Friedensfrage auffängt, sind jetzt eine handgreifliche Bestätigung der Tatsache, – daß einzig und allein die revolutionäre Aktion des Proletariats einen Ausweg aus der Sackgasse des Weltkrieges bietet – Allerdings, das Proletariat eines einzelnen Landes vermag auch mit dem größten Heroismus diese Schlinge nicht lösen. Die russische Revolution wächst von selbst zu einem internationalen Problem an – Nun aber die deutsche Bourgeoisie! – Der deutsche Imperialismus in Nöten, der gerade jetzt im Westen wie in Kleinasien tief in der Klemme sitzt und zu Hause vor Ernährungssorgen nicht ein noch aus weiß, möchte sich so rasch wie möglich mit leidlichem Anstand aus der Affäre ziehen, um sich in Ruhe wieder zu weiteren Kriegen aufzuflicken und zu rüsten. Dazu soll die russische Revolution dienen, und zwar durch ihre proletarisch sozialistische Friedenstendenz –
Eine Republik und zwar eine vom revolutionären sozialistischen Proletariat frisch gezimmerte und beherrschte Republik direkt in der Flanke zu haben, das ist wirklich mehr als man dem ostelbischen Polizei- und Militärdienst zumuten darf – Wer garantiert nun daß morgen nach Friedensschluß, sobald der deutsche Militarismus seine Pranken aus dem Eisen befreit hat, er sie nicht dem russischer Proletariat in die Flanke schlägt um der gefährlichen Erschütterung des deutschen Halbabsolutismus vorzubeugen?! –
Die Gefahr des deutschen Militarismus für das revolutionäre republikanische Rußland hingegen ist eine sehr reale Tatsache. Die russischen Proletarier wären gar zu leichtsinnige Politiker, wenn sie sich nicht die Frage vorlegen würden: wird das deutsche Kanonenfutter das sich heute auf allen Feldern vom Imperialismus zur Schlachtbank führen läßt nicht sich morgen auch gegen die russische Revolution kommandieren lassen?
Gegen diese natürlichen Zukunftssorgen der russischen Revolution gibt es nur eine ernste Garantie: das Erwachen des deutschen Proletariats, eine Machtposition der deutschen Arbeiter und Soldaten im eigenen Hause, eine revolutionäre Aktion des deutschen Volkes für den Frieden.«
In diesem Aufsatz waren Fragen gestellt und dem Spartakusbund Aufgaben zugewiesen, die uns jahrelang beschäftigen sollten. In der Spartakusgruppe und im Jugendbildungsverein stimmten wir den Erkenntnissen und Befürchtungen Rosa Luxemburgs zu, daß das russische Proletariat ohne die Hilfe anderer Völker seine revolutionären Aufgaben, Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung, nicht erfüllen könnte. Daß ein Waffenstillstand oder ein Friede im Osten den deutschen Militaristen den Sieg oder das Verbluten Frankreichs den Kompromiß im Westen ermöglichen könnte, daß Deutschland anschließend die russische Revolution erwürgen und nach Vernichtung der russischen Revolution zum neuen Krieg um die Weltherrschaft rüsten würde. Die Schlußfolgerung war uns einleuchtend: Deutschland darf nicht siegen, ein Sieg Deutschlands wäre nach den Plänen der Militärs, der Alldeutschen, der „Untergang in die Barbarei“, Zerstörung der Länder und Versklavung der Völker.
Jetzt galt es die Bedeutung der russischen Revolution klar zu erkennen und den Arbeitern begreiflich zu machen, daß in Rußland ein neuer Mensch aufgestanden war. Alle Referate von Kühn und Budich in unserer Spartakusgruppe endeten mit den Worten, die einzige Losung müsse sein: Proletarische Revolution in Deutschland. Diese Losung wiederholte ich im Jugendbildungsverein, im Parteidistrikt, wir waren ja jetzt Mitglieder der USPD, und im Betrieb. Es galt Sympathie-Demonstrationen für die russische Revolution zu veranstalten und Propaganda unter den Soldaten zu machen, nicht mehr im Osten zu kämpfen, aber auch nicht zuzulassen, nach dem Westen abtransportiert zu werden. So begann unsere eigentliche „Militärpropaganda.“ In der Bevölkerung war die Hoffnung auf baldigen Frieden erwacht. Man gab sich vielfach der Illusion hin, der Krieg werde nun bald zu Ende sein.
Ich habe mir vorgenommen, nur Vorgänge zu schildern, deren Zeuge ich war. Aber ich muß unvermeidlich auf die Ereignisse eingehen, die die Situation erst schufen und die somit mein Tun bestimmten. Schilderungen persönlicher Erlebnisse müssen im Zusammenhang mit den geschichtlichen Ereignissen stehen. Ich erwähnte bereits, welche Aufgaben wir uns stellten, und daß unsere Spartakusgruppe nur sieben Mann zählte. Mit Paul Nitschke traf ich mich fast täglich, die anderen fünf sah ich in den Zusammenkünften. Ohne etwas zu verharmlosen, ist hieraus zu erkennen, welche geringe Kraft wir darstellten. Daß es andere Spartakusgruppen gab, die zahlenmäßig stärker waren als meine Gruppe, erfuhr ich erst später. Insgesamt waren wir in der Arbeiterschaft zu wenig verankert, wir waren keine Massenpartei. Es gab wenige opferwillige Menschen. Es fehlte uns an Zeit und Geld. Wir hatten wohl die klare Einsicht in das verbrecherische Treiben der Kriegsherren, aber die Einsicht allein war noch keine Waffe. Jetzt, während der russischen Revolution, war auch das Interesse an der russischen Literatur neu erweckt, und ich mußte im Jugendbildungsverein des öfteren Stellen aus der russischen Literatur und Geschichte vorlesen, die uns jetzt besonders bedeutungsvoll erschienen. Ich las wieder von Alexander Herzen vor und über die Gruppe von Sophie Perowska, Alexander Herzen sprach uns besonders an mit seinem Ausspruch: »Intoleranz der Jugend ist eine notwendige Triebkraft für große Handlungen, nur Intolerante erreichen ein neues Ziel.« Die russische Literatur war uns ein Schlüssel zum Verständnis für das Zusammengehen der russischen Arbeiter, Bauern und Intellektuellen. Der Begriff Freiheit in der russischen Literatur weist immer auf geistige und persönliche Freiheit hin, der deutsche Begriff Freiheit meint meist die nationale. Die Russen wollten das Zuchthaus des Staates abschaffen, die Deutschen wollten es vergrößern und mit Fahnen und Soldatenbildern ausschmücken. Die russischen Sozialdemokraten im Exil blieben Revolutionäre, die deutschen Demokraten nach 1848 waren Auswanderer, die mit der Heimat meistens auch ihre Ideen aufgaben.
Die Agitation im Parteidistikt der USPD war jetzt zwar leichter, da wir offener sprechen konnten, aber die Zahlabende fanden nach jahrzehntelanger Gewohnheit weiterhin nur einmal im Monat statt. Doch die Parteikneipen wurden Abend für Abend von Mitgliedern, meist älteren, besucht, die dort „politisierten“ und sich informieren wollten. Im Betrieb wiederum war unsere Agitation sehr begrenzt. In einem Großbetrieb kann sich niemand hinstellen und Reden halten. Weit mehr als die Aufpasser läßt die Organisation der Arbeit das gar nicht zu. Der Arbeiter ist auf seine Arbeit konzentriert und die Maschinen beanspruchen seine ganze Aufmerksamkeit. Hin und wieder wirft man sich ein Wort zu. Nur in den kurzen Pausen, wenn die Maschinen abgestellt waren – Automaten liefen weiter – sprachen wir über den Krieg und die Not. Die Kollegen stimmten kopfnickend zu. Wenn ich die Losungen des Spartakusbundes erklärte und von der Notwendigkeit einer Revolution sprach, bejahten sie die eine und die andere Losung mit Kraftworten und Verwünschungen auf den Krieg. Doch immer gab es persönliche Einwendungen: „Werde Du erst mal so alt wie ich“ und „Hab’ Du erst mal Familie wie ich“. Mit diesen und ähnlichen Worten wurde eine Mitarbeit zwar niemals direkt abgelehnt, aber abgeschoben. Wenn ein Kollege seinen Einberufungsbefehl erhielt, wurde geflucht und geschimpft, aber der Befehl wurde befolgt. Hinzu kam die Umschichtung der Arbeitenden in den Betrieben. Mehr und mehr Frauen kamen herein – ohne Lust zu der erzwungenen Arbeit. „Ich habe es eigentlich gar nicht nötig, in dieser Dreckluft zu arbeiten“, sagten sie bei jeder Gelegenheit. Politisch waren sie uninteressiert. Da waren zur Arbeit zurückgeholte ältere Arbeiter, dazu junge Burschen, die ihre Lehre zurückstellen mußten. Besonders schwierig war die Kategorie der „Reklamierten“, die bereits im Felde gewesen waren. Die Reklamierten taten sich eigentlich nur durch den Gebrauch von widerwärtigen Frontausdrücken hervor, sie waren sonst zu keiner Aktion zu bewegen. „Wir wissen, was Krieg ist, geh’ du erst mal raus!“ sagten sie zu mir. Dann brauchte nur eine großer Siegesmeldung zu kommen und sofort schlug die Stimmung um. Unter solchen Umständen war revolutionäre Agitation so schwer wie das Durchfeilen einer Stahlkette mit einer Nagelfeile. Bei alledem hatte ich noch viele Sympathien. Fast alle Kollegen, weibliche und männliche, waren sehr kollegial und hilfs bereit zu mir. Sie paßten auf meine Maschine auf, wenn ich in eine andere Abteilung gehen wollte, halfen mir auch bei Arbeiten mit denen ich nicht fertig wurde. Aber gerade dieses Verhalten der Kollegen ließ mich meinen Einfluß überschätzen. Wenn ich in der Spartakusgruppe von Fällen der Solidarität in meinem Betrieb erzählte, glaubte man sogleich daß es sich um Revolutionsbereitschaft handele. Darin geht es Revolutionären wie Missionaren, sie verwechseln Sympathiebezeugungen mit aktiver Mitarbeit.
Inzwischen hatten wir erfahren, daß Lenin, Radek, Sinowjew und andere führende russische Sozialdemokraten im April in Petrograd angekommen waren.
Kahn berichtete in der Spartakusgruppe über die Ereignisse, die in den Spartakusbriefen bisher nicht erwähnt wurden, weil der immer vorsichtige Jogiches erst von den russischen Genossen genaue Auskünfte darüber wünschte, wie die Reise zustande gekommen war. Die Bedeutung dieser russischen Revolutionäre kannten wir mehr aus Artikeln in der Arbeiterpolitik und Lichtstrahlen als aus den Spartakusbriefen. Lenin und seine engeren Mitarbeiter waren im ersten Transport unter Leitung des Schweizer Sozialdemokraten Platten, in einem Sonderzug durch Deutschland nach Schweden gefahren. Nach diesem ersten Transport mit Lenin und seinen engeren Mitarbeitern reisten weitere über 200 im Schweizer Exil lebende Russen auf dem gleichen Wege nach Rußland zurück. Die Reise Lenins und seiner engeren Freunde wurde und wird heute noch zu verleumderischen Angriffen auf Lenin benutzt; unter den dem ersten Transport folgenden Reisenden waren aber auch Gegner Lenins.
Trotzki war im Mai, einen Monat nach Lenin, aus Kanada über England kommend, in Peltrograd eingetroffen. Bei der Zwischenlandung in England war er verhaftet worden, aber nach Protesten der Russischen Provisorisehen Regierung und britischer Arbeiter wurde er freigelassen und konnte seine Reise fortsetzen. Britische Arbeiter ließen sich nicht abhalten, Trotzki mit einem großen Demonstrationszug, angeführt von einer Musikkapelle, zum Schiff zu begleiten.
Es wird wohl aus Unwissenheit wenig beachtet, daß es damals, 1917, noch keine kommunistische Partei Rußlands gab. Lenin, Tscheidse, Plechanow, Martow, um nur die bekanntesten Führer zu nennen, waren Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, in der es verschiedene Fraktionen gab. Die beiden Hauptfraktionen waren der linke Flügel, die „Bolschewiki“ unter Führung Lenins, der rechte Flügel, die „Menschewiki“ unter Führung Martows. Zwischen diesen stand die Gruppe unter Führung Trotzkis, die sich bald dem bolschewistischen Flügel anschloß. Eine weitere Gruppe mit Maxim Gorki und die bürgerlichen „Sozialrevolutionäre“ waren nicht nur theoretisch für den Umsturz in Rußland, sondern agierten sehr aktiv dafür. Jedoch für die einen sollte die Revolution mit dem Sturz des Zarismus beendet sein, für die Bolschewiki begann damit der entscheidende Teil.
Erst ein weiteres Jahr später, im März 1918, änderte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, Bolschewiki, ihren Namen in „Kommunistische Partei Rußlands – Bolschewiki“. Diese Fakten sind zwar allgemein bekannt, doch sie werden immer wieder entstellt geschildert.
Die Reise der russischen Heimkehrer durch Deutschland war kein „selbstmörderischer Geniestreich Ludendorffs“, wie es in manchen Geschichtsbüchern heißt, sondern die Unterstützung einer Rebellion gegen die russische Regierung war ein Teil der politischen Kriegsführung des deutschen Generalstabs vom Beginn des Krieges an. Der deutsche Generalstab kannte die russischen revolutionären Sozialdemokraten zu wenig, um sie richtig einschätzen zu können. Die Russen dachten an ihre Revolution, und keinen Moment daran, sich von den Deutschen Weisungen geben zu lassen. Der deutsche Generalstab kannte keine Skrupel oder völkerrechtliche Bedenken. Er organisierte Sabotageakte und Attentate auf Eisenbahnen in Kanada und den USA, China, Sibirien; er versuchte die mexikanische Regierung gegen die USA in den Krieg zu ziehen, er versuchte den „Heiligen Krieg“ der islamischen Bevölkerung gegen die Engländer zu schüren, er versuchte Aufstände in Irland, Marokko, Indien, Georgien, Finnland zu organisieren, er wollte russische Provinzen von Rußland lösen, er versprach den russischen Juden einen eigenen Staat und gleichzeitig den Polen ihr Königreich, und so fort. Kurzum, der deutsche Generalstab versuchte die Aufwiegelung der Völker aller der Länder, in denen die Entente dominierte. Um aber Frankreich und vor allem England vernichten zu können, war die Ausschaltung der Ostfront, also der Sonderfriede mit Rußland nötig.
Im Frühsommer 1917 hatten wir in Berlin die ersten Solidaritäts-Demonstrationen für die russische Revolution durchgeführt. Um einem Verbot zuvorzukommen, wurden die Aufforderungen und Losungen zur Demonstration vom Jugendbildungsverein und von Funktionären der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei mündlich weitergegeben. Wir versammelten uns am Abend eines Wochentages am Bülow-Platz und den umliegenden Straßen, strömten auf ein Signal hin zusammen und wollten geschlossen über den Alexanderplatz und durch das Stadtzentrum ziehen. Wir waren ungefähr zweitausend Teilnehmer. Von den Führern der Unabhängigen Sozialdemokraten war der Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour gekommen. Unter Hochrufen auf die russische Revolution, unter Rufen „Nieder mit dem Krieg“ kamen wir bis zum Alexanderplatz. Hier trafen wir auf die ersten Ketten der inzwischen alarmierten Polizisten. Da die Straße um diese Zeit von Menschenmassen belebt waren, konnten die meisten von uns durch die Polizeikette durchbrechen, wir kamen jedoch nur bis zur Unterführung des Bahnhofs Alexanderplatz. Hier waren bereits die Durchgänge gesperrt. Kurz entschlossen gaben wir einander die Losung: in die Untergrundbahn und zum Wilhelmsplatz. Dort waren wir bald mehrere hundert Mann stark und versuchten, – immer wieder unter Hochrufen auf die russische Revolution und Rufen „Nieder mit dem Krieg!“ – in die Wilhelmstraße zu den Ministerien zu ziehen. Doch kam auch hier von allen Seiten Polizei, die den U-Bahnhof sperrte und sich vor den Regierungsgebäuden aufstellte und die Zugänge zur Wilhelmstraße und Unter den Linden absperrte. Hier wurden zahlreiche Personen verhaftet, darunter waren aber mehr auffällige Passanten als Demonstranten. Von meiner Jugendgruppe war niemand verhaftet worden. Wir zogen uns nach Auflösung der Demonstration durch den Tiergarten nach Moabit zurück, wo wir noch bis Mitternacht singend und unter Hochrufen auf die russische Revolution durch die Straßen zogen.
Eine zweite Demonstration veranstalteten wir kurze Zeit darauf im Grunewald. Diesmal kamen nur Jugendliche. Wieder war Ledebour gekommen, den ich bei dieser Gelegenheit persönlich kennenlernte. Er hielt vor uns und den sich sammelnden Spaziergängern eine die russische Revolution begrüßende, temperamentvolle Rede, seine Worte mit lebhaften Gesten verstärkend. Ledebour war damals schon fast siebzig Jahre alt. Er war seit 1900 Reichstagsabgeordneter, und er hatte in den Jahren vor dem Kriege wohl die schärfste Zunge im Reichstag gehabt. Er war immer ein erbitterter Gegner des monarchistischen Obrigkeitsstaates und des Militarismus. Obwohl Ledebour in fast allen Fragen des Widerstandes gegen den Krieg mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg übereinstimmte, war er nicht Mitglied des Spartakusbundes geworden. Doch hatte er inzwischen die weiteren Kriegskredite abgelehnt und war Mitbegründer der USPD. Ich gebe diesen Demonstrationen für die Russische Revolution nicht nachträglich größere Bedeutung, als sie hatten, doch die Behörden schreckten auf; sie deuteten die Demonstrationen richtig als Warnzeichen. Die Mehrheitssozialdemokraten lehnten die Demonstrationen ab. Die Bevölkerung verhielt sich meist freundlich, ging aber nicht mit.
Jogiches durchschaute die Politik des deutschen Generalstabes. Er warnte vor einem Sonderfrieden und erstrebte den allgemeinen Frieden durch eine Revolution in Deutschland. Jogiches schrieb im Spartakusbrief vom August 1917:
»Nach einigen heftigen Kämpfen hat es die russische Arbeiterklasse siegreich durchgesetzt, daß von der Provisorischen Regierung offiziell als Formel der Kriegsziele anerkannt wurde: keine Annexionen, keine Entschädigungen, ein Friede auf Grund der Selbstbestimmung der Nationen. Auf den ersten Blick hatte damit die proletarische Politik einen vollen und entscheidenden Sieg davongetragen.
Aber ein allgemeiner Friede kann von Rußland allein nicht herbeigeführt werden. Das russische Proletariat kann den Widerstand der eigenen herrschenden Klassen niederzwingen, es ist nicht imstande, auf die imperialistischen Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens ausschlaggebenden Einfluß auszuüben.
So ist in Wirklichkeit, trotz der machtvollen und siegreichen Friedensaktion der russischen Volksmassen zunächst weder ein Sonderfriede noch ein allgemeiner Friede praktisch zu erreichen.
Will sie die russische Republik – sich etwa durch einen Sonderfrieden aus der Schlinge des Völkermordes ziehen, dann verrät sie das internationale Proletariat und die eigenen Schicksale an den deutschen Imperialismus. Ist sie aber nicht imstande, einen allgemeinen Frieden allein durchzusetzen, dann bleibt nur die Wahl zwischen aktiver Kriegsführung, mit der sie die Interessen des Entente-Imperialismus besorgt, und passiver Kriegsführung, d. h. militärischer Untätigkeit, mit der sie ebenso todsicher die Geschäfte des deutschen Imperialismus fördert – Den imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution liquidieren –
Hier beginnt aber das Faktum der russischen Revolution. Die Diktatur des Proletariats ist in Rußland – falls eine internationale proletarische Revolution ihr nicht rechtzeitig Rückendeckung schafft – zu einer betäubenden Niederlage verurteilt, gegen die das Schicksal der Pariser Kommune ein Kinderspiel gewesen sein dürfte –
Sobald der Krieg, mit welchem Ausgang immer, beendet, und namentlich im Falle eines für Deutschlands Machtstellung halbwegs günstigen Ausgangs, wird der natürliche Gegensatz zwischen dem preußisch-deutschen Militär- und Polizeistaat und der russischen Republik mit der ganzen zurückgehaltenen Heftigkeit zum Durchbruch kommen. Die Mittelmächte haben zum Vernichtungskampf gegen das revolutionäre Rußland von Hause aus viel triftigere Gründe als England, Frankreich oder Italien. Vor allem, weil Deutschland sowohl wie Österreich als die reaktionärsten Staaten Europas das größte Inventar der Reaktion vor revolutionären Gefahren zu behüten haben; ferner weil sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem Revolutionsherd befinden; endlich – weil beim Ausbruch einer europäischen Revolution Deutschland, wie es dessen herrschende Klassen instinktmäßig herausfühlen, gemäß einer führenden kapitalistischen Stellung zum Mittelpunkt der internationalen Erhebung werden würde –
Die anscheinend wunde Stelle der wirklichen sozialistischen Politik im Kriege liegt darin, daß sich Revolutionen nicht auf Kommando machen lassen – Dies ist aber auch gar nicht Aufgabe der sozialistischen Partei. Pflicht ist nur, jederzeit unerschrocken „auszusprechen was ist“, d. h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, das politische Aktionsprogramm und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben.
Heute wie vor drei Jahren gibt es nur die Alternative: Krieg oder Revolution! Imperialismus oder Sozialismus! Dies laut und deutlich zu proklamieren und daraus jeder in seinem Lande die revolutionären Konsequenzen zu ziehen – dies ist die einzige proletarisch-sozialistische Friedensarbeit, die heute möglich ist.«
Dieser Artikel war nicht nur ein weiterer Appell an die deutsche Arbeiterschaft, dem russischen Beispiel zu folgen, sondern auch ein Beweis, wie kritisch die Politik Lenins und Trotzkis beobachtet wurde. In der entscheidenden Frage, Übergang der Macht von der provisorischen Koalitionsregierung an das Proletariat, das heißt an die Partei Lenins, stimmte Jogiches mit Lenin und Trotzki überein. Er schrieb:
»Das neue Koalitionsministerium wird kraft der inneren logischen Entwicklung über kurz oder lang einer rein sozialistischen Regierung, d. h. der tatsächlichen und formellen Diktatur des Proletariats, Platz machen müssen.«
Jogiches befürchtete immer einen Zusammenbruch der russischen Revolution, wenn die Revolution in Deutschland ausbleiben sollte. Gegen diese Stellungnahme des Spartakusbundes schrieb Parvus im Auftrag des Parteivorstandes der Mehrheitssozialdemokratie in einer Denkschrift vom 18. November 1917, daß »die Sprengung der Entente für Deutschland wichtiger sei als alles andere« und daß ein Sonderfrieden Deutschland die wirtschaftliche und industrielle Erschließung Rußlands ermöglichen würde. Das wäre ein Schlag gegen England und Amerikas Wirtschaft.
Wir im Spartakusbund werteten diese Haltung des Parteivorstandes als einen weiteren Versuch, eine Revolution in Deutschland zu verhindern, und polemisierten in den Betrieben und Gewerkschaftsversammlungen heftig dagegen:
Nach der Erschießung zweier Matrosen, Köbis und Reichpietsch, erhielten wir die ersten Nachrichten über angebliche Meutereien in der deutschen Kriegsmarine. Wir erfuhren, daß Heizer und Matrosen auf verschiedenen deutschen Kriegsschiffen Kommissionen gebildet hatten, um bessere Verpflegung und gerechtere Behandlung zu erreichen. Der Abstand zwischen Marineoffizieren und ihrer unnahbaren Arroganz und Mannschaften – die meistens aus der Industriearbeiterschaft stammten – war in der Marine noch krasser als beim Landheer. Mitglieder von Kommissionen verschiedener Schiffe hatten sich an Land getroffen, um gemeinsam über Möglichkeiten von Beschwerden und Verbesserungen der Verhältnisse zu beraten. Es hatte eine Versammlung von vierhundert Matrosen stattgefunden in der offen über die unerträglichen Schikanen gesprochen wurde. Diese Versammlung war von Spitzeln gemeldet worden und wurde als Meuterei ausgelegt. Fünf Matrosen, die als Einberufer und Sprecher aufgetreten waren, wurden zum Tode verurteilt, zahlreiche andere Matrosen die sich in der Versammlung oder auf den Schiffen beschwert hatten wurden zu insgesamt vierhundert Jahren Zuchthaus verurteilt. Kobis und Reichspietsch wurden hingerichtet. Unter den drei weiteren zum Tode verurteilten aber zu Zuchthaus begnadigten Matrosen befand sich ein 22-jähriger Marineflieger, Rudolf Egelhofer, dem ich später in München begegnen sollte. Die Matrosen hatten Verbindung zur USPD aufgenommen. Diese war auf derartige konkrete Entwicklungen jedoch nicht vorbereitet. Die Funktionäre der neuen Partei hatten keine revolutionäre Erfahrung, die ausgereicht hätte, die Unzufriedenheit der Matrosen mit der der Industriearbeiter zu koppeln. Die USPD konnte nicht mehr tun, als ihnen Mut zuzusprechen und zu raten, sich nicht mißhandeln zu lassen und die Beschwerden weiterzuleiten. Wegen dieser Matrosenaffäre wurde die USPD vom Reichskanzler Michadis des Landesverrats beschuldigt. Über diesen Michadis hieß es im Spartakusbrief vom November 1917:
»Als Bethmann-Hollweg von den Alldeutschen Annexionstreibern wegen seiner „Halbwahrheiten“ gestürzt worden war, präsentierten die Hindenburg und Ludendorff dem Kaiser als Reichskanzler einen obskuren Bürokraten namens Michaelis, der mit Recht als willenloses Werkzeug der Militär- und Polizeidiktatur galt. Doch bewies er sich als so unfähig, daß er schon nach etwa hundert Tagen in die Dunkelkammer der Bürokratie zurückgeschickt werden mußte.«
Die Hinrichtung der beiden Matrosen blieb im Gedächtnis der Kriegsschiffbesatzungen und der Bevölkerung der Hafenstände unvergessen. Sie war eine der Ursachen, daß sich die Matrosen als erste erhoben, als sie beim Zusammenbruch der deutschen Fronten geopfert werden sollten.
Zur selben Zeit erhielten wir auch Nachrichten über Meutereien in der französischen Armee. Im Frühjahr 1917, einige Monate vor der Erschießung der zwei deutschen Matrosen, berichtete Kühn in unserer Spartakusgruppe, daß es in der französischen Armee echte Meutereien gegeben habe. Auch in Frankreich sei nicht die revolutionäre Propaganda die Ursache gewesen, sondern es waren spontane Aktionen erschöpfter und verzweifelter Soldaten.
Das zeitliche Zusammentreffen der Ereignisse: russische Revolution, Munitionsarbeiterstreiks im April in Deutschland, Meutereien in der französischen Armee, Erschießung der Matrosen in Deutschland, bewies, daß die Kriegsführenden an einem Punkt angelangt waren, der revolutionsreif war. Doch nur in Rußland zogen die Arbeiter und Bauern aus der Situation revolutionäre Schlüsse.
Einige Wochen später, im Herbst, erhielt ich den Befehl zu erneuten Musterung. Nachdem ich bei der Musterung im Frühjahr noch einmal zurückgestellt worden war, hieß es jetzt „zur Feldartillerie“.
Wir hatten im Jugendbildungsverein beschlossen, die Aufforderung zur Musterung zu befolgen, nicht aber die Einberufungsorder. Zwischen Musterung und Einberufung lag meistens eine Frist von einigen Tagen, manchmal, je nach Wichtigkeit der Arbeitsstelle, die man hatte, auch von Monaten.
Es schien mir nach einiger Zeit, daß ich im Betrieb schärfer beobachtet wurde, und es schien mir deshalb ratsam, die Arbeitsstelle wieder zu wechseln. Kollegen sagten mir, daß meine Agitation mit der Zeit zu stark aufgefallen sei. Es schlichen zu viele Aufpasser um unsere Abteilung herum. Die Kollegen wurden nervös. Doch, obwohl meine Taschen und mein Werkzeug öfters durchsucht wurden, waren niemals Schriften bei mir gefunden worden.
Kurz bevor ich diesen Betrieb verließ, passierte auch das an sich belanglose Begehnis, wovon ich Ernst Toller erzählte, als wir im Jahre 1933 in einem Café in Zürich saßen und über die Haltung der deutschen Arbeiterschaft zum Hitlerregime sprachen. Toller fand dieses Begebnis so typisch, daß er es in seine Erinnerungen, Eine Jugend in Deutschland, aufnahm; er war seinerzeit in Zürich dabei, diese zu schreiben.
Anfang Dezember 1917 starb der damals in Berlin wohlbekannte unabhängige Abgeordnete Stadthagen. Meine Belegschaft beauftragte mich, im Trauerzuge mitzugehen, am Grabe einen Kranz niederzulegen und einige Worte zu sprechen. Zwei Kollegen sollten mich begleiten. Aus der Belegschaftsversammlung wurde an mich die Frage gestellt, ob ich auch einen schwarzen Anzug und einen Zylinderhut hätte. Den schwarzen Anzug und die schwarze Krawatte hatte ich, doch machte ich klar, daß ich weder zur Beerdigung noch irgendwann einen Zylinder aufsetzen würde. Nach langem Hin- und Herreden war man zufrieden, als ich versprach, zum schwarzen Anzug ein Paar schwarze Handschuhe zu kaufen und barhäuptig zu gehen. Meine beiden Kollegen, die mich flankierten, trugen geliehene Zylinderhüte.
Toller war durch meine Erzählung deprimiert. Daß Arbeiter mitten im Kriege, in einer Zeit, in der täglich Tausende sinnlos sterben mußten, so albern spießerhaft sein konnten, war ihm unfaßlich. Verspießerte könnten gelegentlich wild werden, aber keine Revolution machen. Es fiel Toller schwer zu erfassen, wie die Organisationen, die Millionen Menschen umfaßten, durch ihre Bürokratie – die in keiner Frage vorausschaute, sondern sich stets Ansichten der Zeit anpaßte – diese Massen zur Passivität erzogen hatten, diese nicht führten, sondern „verwalteten“. Der Theatermann Toller wußte allerdings inzwischen, daß Menschen angesichts vieltausendfachen Todes unbeweglich bleiben, aber bei Romeos und Julias Theatertod gerührt schluchzen.
Gewerkschaftskollegen rieten mir, zum Kabelwerk Cassirer zu gehen. Dieses Werk suchte dringend Arbeiter. Ich ging hin und wurde sofort eingestellt. Das Werk lag im nördlichen Charlottenburg, ich hatte morgens und abends fast eine halbe Stunde zu gehen. Es sollte meine letzte Arbeitsstelle im Kriege sein. Die Kabelfabrikation dieses Werkes war wegen Kupfermangel eingestellt und die Produktion auf Granatenherstellung umgestellt worden. Die Umstellung zeigte alle Merkmale der Eile. Als ich eintrat arbeiteten ungefähr 1.300 Personen im Betrieb, etwa 1.000 Frauen und 300 Männer. Das Werk nahm jeden Arbeiter den es kriegen konnte. Die Belegschaft war so ein Sammelsurium ohne ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und ohne Werksverbundenheit. Hier arbeiteten auch französische Kriegsgefangene. Die Munitions-Abnahme Offiziere, die ein bis zweimal wöchentlich den Betrieb kontrollierten, redeten angesichts der zahlreichen Unfälle, Erkrankungen und der großen Mengen unbrauchbarer Granaten vor den Arbeitern von Sabotage. Es war aber keine Sabotage, es war einfach Unfähigkeit. Das Werk war für Granatendrehen nicht geeignet. Die Maschinen standen viel zu eng beieinander und hatten meistens keine Schutzvorrichtungen. Dieses Werk hätte höchstens die Hälfte der vorhandenen Belegschaft haben dürfen.
Ich arbeitete hier wieder als Werkzeugschleifer und Maschineneinrichter. Die Drehstäbe bestanden um diese Zeit schon nicht mehr aus Stahl, sondern aus Eisen, mit einer aufgeschweißten Stahlschneide. Die Schneiden dieser Drehstähle wurden schnell stumpf und glühten aus. Dann riefen mich die Frauen, den Stahl herauszunehmen ihn zu schleifen und wieder einzusetzen. Sie standen daneben und erzählten mit ihre Geschichte von ihren Männern im Felde, von den Kindern die von Großeltern oder Nachbarn betreut wurden oder in der Wohnung eingeschlossen waren. Auch für die unverheirateten Mädchen gab es nur ein Thema: „Wann ist der Krieg aus?“. Hier konnte ich offen sprechen, hier hörte man aufmerksam zu, wenn ich gegen den Krieg sprach. Ich wurde bald zum Betriebsvertrauensmann gewählt. Die Arbeitsverhältnisse waren so wie sie im Frühkapitalismus gewesen sein mögen. Immer war etwas los. Besonders in den Nachtschichten. Keine Nacht ohne Zusammenbruch einer oder mehrerer Frauen an den Maschinen infolge Erschöpfung, Hunger, Krankheit. Stundenlang standen Maschinenreihen still, weil Transmissionsriemen gerissen waren, mal fehlte Material dann fehlten Werkzeuge. An manchen Tagen im Winter wurde nicht geheizt, die Arbeiter standen in Gruppen herum, sie konnten und wollten nicht arbeiten. In der Kantine gab es zwölf mal in der Woche, mittags und mitternachts, Kohlrüben; manchmal mit, meistens ohne Kartoffeln. In der Kantine kam es fast täglich zu Schreianfällen von Frauen, manchmal auch zu deprimierenden Schlägereien untereinander, weil angeblich „die Kelle nicht gefüllt“ war. Die Werksleitung wollte uns Vertrauensleuten die Regelung derartiger Streitfälle übertragen. Damit wäre der Ärger und die Wut auf uns abgelenkt worden. Wir lehnten ab.
Ein seltsamer Kollege blieb mir unvergessen. Er war ein großer, hagerer Mensch, ledernes Gesicht, eingefallene Backen und er redete jedermann, ob Frau oder Mann mit „Du“ und „Menschenskind“ an. Als Mitglied der Verhandlungskommission redete er auch die Mitglieder der Direktion und die Abteilungsleiter mir den gleichen Worten an. Wenn wir wegen irgendeiner Sache vorstellig wurden, und der Direktor fragte, was wir wollten, so war das erste, was er sagte: „Na, Menschenskind, wir kommen wegen Kohlrüben. Mach mal Fett hin!“ Man ließ ihn gewähren. Er war für dieses Werk ein schwer ersetzbarer Arbeiter. Er war ein Könner und von sinnlosem Fleiß. Als gelernter Schmied war er nach der Lehre zur See gegangen, und er verfluchte beinahe jeden Tag das Unglück, daß sein Schiff ausgerechnet bei Kriegsausbruch in einem deutschen Hafen gelegen habe, so daß er sofort zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Verwundet und lungenkrank wurde er entlassen und kam zum Betrieb Cassirer. Hier arbeitete er bereits eineinhalb Jahre.
Ein anderer Kollege erzählte mir, daß er bis spät in die Nacht hinein Geschichten lese. Er habe Bakunin und Kropotkin gelesen und Heines Buch der Lieder läge immer auf seinem Nachttisch. Er war bereits über sechzig, weißhaarig und schon einmal invalidisiert worden, aber er wurde wegen Arbeiterknappheit wieder zur Arbeit geholt. Täglich zitierte er Kotzebue:
“Ha, wer bin ich, und was soll ich hier, unter Tigern und Affen, welchen Plan hat Gott mit mir und warum bin ich erschaffen.“
Er schimpfte auf den Krieg und nannte die Offiziere Berufsmörder, sie seien so scheußlich wie Henker. Er machte Gedichte gegen den Krieg und gegen das Militär, die wir an die Klosettüren klebten.
Er war kein Sozialdemokrat, er hatte seine eigene Theorie. Diese war einfach: Kein Ehepaar sollte mehr als zwei Kinder haben, dann werden die Arbeiter knapp und würden besser behandelt, und Kriege würden wegen der Gefahr der Ausrottung vermieden werden.
Ich hatte auch Gegner im Betrieb. Denunzianten und Spitzel machten sich bald bemerkbar. So war in meiner Abteilung ein älterer Arbeiter, der gerade erst zum Vorarbeiter ernannt worden war. Er kam tags darauf mit Kragen und Krawatte zu Arbeit und verlangte, mit „Sie“ angesprochen zu werden. Den Gefallen taten wir ihm gern, wir konnten ihn nun von unseren Gesprächen fernhalten. Unser Verdacht war begründet, er meldete sich später als Zeuge bei der Polizei; er hatte oft herumgeschnüffelt und sich Notizen gemacht.
In unserer Spartakusgruppe berichtete Kühn im November, daß Jogiches in einer Sitzung der Zentrale der Berliner Spartakusgruppen, die einige Tage zuvor stattgefunden hatte, die Machtübernahme in Rußland durch die linken Sozialdemokraten – Bolschewiki – unter Führung Lenins und Trotzkis mit heftigen Worten verurteilt habe. Jogiches habe wiederholt erklärt, daß sie sich nicht an der Macht halten könnten, daß die russische Arbeiterbewegung auf Jahrzehnte hinaus zerschlagen werden würde, und daß die Gefahr eines Sieges des deutschen Militarismus bestehe. Jogiches habe auch die Auflösung der Konstituante und die Übernahme ihrer Aufgaben durch die Sowjets kritisiert.
Die Sitzung der Zentrale der Berliner Spartakusgruppen, von der Kühn berichtete, fand in Berlin-Neukölln statt, in einer großen Wohnung, in der ein Zimmer als Büro diente. Es gab dort eine Bibliothek nebst Archiv, an den Wänden hingen Bilder von internationalen Sozialistenführern, einige mit Widmung. Kühn erzählte, als Jogiches ins Zimmer trat, ging er auf das Bild Lenins zu, nahm es ab und drehte es um, das Gesicht zur Wand. Aber am Schluß der Aussprache habe Jogiches erklärt, daß es sich von selbst verstehe, daß jetzt die neue Regierung Lenin-Trotzki mit allen Kräften unterstützt werden müsse. Zur Unterstützung gebe es nur ein wirksames Mittel: Erhebung der deutschen Arbeiterschaft gegen den Krieg beginnend mit Streiks und Propaganda für Gehorsamsverweigerung in der Armee. Die Russen haben Jogiches skeptische Haltung und seine Warnungen niemals vergessen. Obwohl später bekannt wurde, daß auch Mitglieder des Zentralkomitees der Bolschewiki, Stalin, Sinowjew, Kamenew und andere die gleichen Befürchtungen geteilt hatten. Bei internationalen Feiern bei denen die Opfer und Märtyrer des Sozialismus aller Länder gefeiert werden, wird Jogiches selten erwähnt. Doch in Polen und Litauen ist er nicht vergessen.
Wir beschlossen in unserer Gruppe, die antimilitärischen Propaganda zu verstärken und mehr Schriften unter die Soldaten zu bringen. In meinem Distrikt lagen in einem ausgedehnten Rechteck an der Rathenower Seydlitz-Krupp-Lehrter-Straße die Kasernen und Stallungen einen Ulanen-Regiments. An den Eingängen in der Rathenower und der Seydlitz Strasse standen Posten, an der Lehrter und Krupp Straße umschloß eine zwei einhalb Meter hohe Mauer das Kasernengelände. In der Lehrter Straße war zudem das berüchtigte Zellengefängnis in dem in dieser Zeit Kriegsgerichte tagten. Wir hatten in unserem Jugendbildungsverein ein Geschwisterpaar, das in der Lehrter Straße wohnte. Sie hielten die Tür ihres Hauses offen, wenn wir an der Mauer waren. Im Notfalle konnten wir durch den Hof des Hauses über einen Zaun in das Gelände des Lehrter Bahnhofs gelangen.
Beim Hineinschmuggeln unserer Schriften mußten wir es so machen, wie es die Soldaten machten, die ihren Urlaub überschritten hatten – über die Mauer klettern. Das war meine Arbeit. Ich war der beste Turner unserer Gruppe. Wir gingen zu dritt oder zu viert, es waren auch stets ein oder zwei Mädchen dabei, damit Soldaten oder Passanten nicht mißtrauisch wurden, wenn sie uns so spät dort antrafen. Nachdem ich die Schriften an den verschiedenen Orten, in den Korridoren und an den Stalltüren niedergelegt hatte, war das Zurückklettern stets schwieriger, aber es standen vielfach Geräte an der Mauer. Alle diese Unternehmungen glückten uns.
Wir verbreiteten auch den Aufruf des Soldatenrates der russischen zwölften Armee, den dieser bei der Besetzung Rigas durch die deutschen Truppen an diese richtete:
»Deutsche Soldaten! Der Vollzugsausschuß der XII. Armee lenkt Eure Aufmerksamkeit darauf, daß Ihr für den Absolutismus kämpft gegen die Revolution, Freiheit und Gerechtigkeit. Euer Sieg bedeutet den Tod der Demokratie und der Freiheit. Wir verlassen Riga, wir wissen aber, daß die Revolution sich stärker und kraftvoller erweisen wird als die Macht der Kanonen. Wir sind dessen sicher, daß die deutschen Soldaten schließlich mit der russischen revolutionären Armee zum Siege der Freiheit schreiten werden. Ihr seid heute stärker als wir, aber Euer Sieg ist lediglich der Sieg der rohen physischen Kraft. Die moralische Kraft steht auf unserer Seite. Die Geschichte wird einst künden, daß das deutsche Proletariat gegen seine russischen Brüder marschierte und die internationale Solidarität preisgab. Die Schuld kann nur dadurch gesühnt werden, daß ihr Euch zum Schutze Eurer eigenen Interessen wie derer der ganzen Welt erhebt. Eure ganze Kraft gegen den Imperialismus zusammenfaßt und im Verein mit uns den Feind zu Boden werft.«
Die letzte Schrift, von der ich einige Exemplare in die Kaserne bringen konnte, war die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, des früheren deutschen Botschafters in London, über die Schuld der deutschen Regierung am Kriege.
Für die Militärbehörden und die Polizei war diese Sache weit ernster als die Agitation in den Fabriken. Eine Agitation unter dem Militär und in Kasernen hatte es bisher nicht gegeben. In den letzten Jahren vor dem Kriege hatte es in Deutschland Proteste und Prozesse wegen Soldaten-Mißhandlungen gegeben. Selbstmorde mißhandelter Soldaten führten zur Aufdeckung von schweren Verbrechen in den Kasernen. Rosa Luxemburg war bereits vor dem Kriege wegen Anprangerung von Soldatenmißhandlungen zu Gefängnis verurteilt worden. Ihr Verteidiger vor Gericht war Paul Levi gewesen. Karl Liebknecht hatte im Reichstag Soldatenmißhandlungen an die Öffentlichkeit gebracht. In der Literatur und in satirischen Zeitschriften wurde der Militarismus verhöhnt. Aber eine direkte „gezielte“ antimilitaristische und Antikriegsagitation, wie sie jetzt vom Spartakusbund geführt wurde, hatte es doch nicht gegeben. Die Militärbehörden wurden ungeduldig und verlangten, daß die Polizei unter Einsatz aller Kräfte nach Spartakus suchte. Wer ist Spartakus? war die Frage. Die bekannten Führer waren doch sämtlich im Gefängnis. Die Polizei beobachtete die legalen und oppositionellen Parlamentarier, Post und Telefon standen unter Kontrolle. Doch diese Parlamentarier harten keine Verbindung zu Spartakus.
An einigen Orten im Reich waren Mitglieder von Spartakusgruppen, bei denen Schriften gefunden wurden, Jugendliche, Frauen, Männer, zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Die Spartakusschriften, die der Polizei in die Hände fielen, wurden in der politischen Abteilung VII registriert.
Sichtbaren Erfolg hatte unsere Agitation weder in den Fabriken noch in den Kasernen. Soldaten und Arbeiter murrten, sie hungerten, sie starben. Für uns im Spartakusbund und im Jugendbildungsverein war die Forderung des Tages der Kampf gegen den Krieg, der Kampf für den Frieden. Später, nachdem die deutschen Heere an allen Fronten geschlagen waren, versuchten geschlagene Generäle die revolutionäre Agitation für die Niederlagen verantwortlich zu machen. Die amtlichen Dokumente über den Kriegsverlauf beweisen die Unwahrheit dieser Behauptungen. Die Wahrheit ist, daß eine einzige frische amerikanische Division stärker war als alle Propaganda. Zu einer wirksamen Propaganda hätten auch Millionen gehört: Geld und Menschen. Wir waren zu wenige und wir waren mittellos. So ging der Krieg weiter bis zur militärischen Niederlage.
Auch in Rußland hatte man versucht, der revolutionären Friedensagitation der linken Solzialdemokraten-Bolschewiki die Schuld zu geben, daß die deutschen Truppen im Sommer 1917 und danach, fast ungehindert ihren Vormarsch in Russland fortsetzen konnten. Diese Beschuldigung wurde von den Urhebern selbst widerlegt. Der General Alexejeff, der bis zur Abdankung des Zaren Chef des Generalstabes des russischen Heeres war, erklärte auf der „Staatskonferenz“, die der Ministerpräsident und Kriegsminister Kerenski Ende August 1917 in Moskau abhielt: »Die Offensive Brussiloffs, vom Juni 1916, hatte ihre strategischen Ziele nicht erreichen können, weil es eben an der notwendigen Ausrüstung gefehlt hatte – Die russische Armee ist seit dem Sommer 1916 nicht fähig gewesen, die Offensive aufzunehmen.« Im Sommer stand es mit dem deutschen Heer ebenso.
Seit 1917 unterhielt die USPD in einem Bürohaus in der Schickler Straße, im Zentrum Berlins, einige Räume, von denen einer mit Schulbänken ausgestattet war und als Vortragszimmer diente. Ich ging in diesem Spätherbst und Winter mit Paul Nitschke einmal wöchentlich zu den Vorträgen. Hier lernte ich das Mitglied des Zentralvorstandes Ernst Däumig kennen. Er referierte am ersten Abend über die Ereignisse im Osten, insbesondere über die deutschen Bestrebungen, die Ostseeprovinzen und die Ukraine von Rußland abzutrennen. An der Wand war eine große Karte von Rußland angebracht, und der Referent zeigte den Verlauf der Fronten. In seinen Referaten ging Däumig kaum über das hinaus, was die Kriegsberichter der Tageszeitungen meldeten, nur daß er am Schluß stets ironisch sagte: „Wir müssen abwarten, wie das mal enden wird.“ Diese Zurückhaltung war nicht Feigheit. Die neue Partei wollte kein Verbot ihrer legalen Tätigkeit riskieren.
Die Abende wurden sehr interessant, da ich hier noch andere Vorstandsmitglieder kennenlernte, so die spätere Reichstagsabgeordnete Anna Nemitz und ihre Freundin Maria Wagner, den Abgeordneten und späteren preußischen Kultusminister Adolf Hoffmann, der den Spitznamen „Zehn-Gebote-Hoffmann“ trug, und zahlreiche Jugendliche aus anderen Bezirken. Es waren stets zwischen vierzig und sechzig Personen anwesend, überwiegend Jugendliche. Ich konnte bald feststellen, daß nicht wenige Mitglieder anderer Spartakusgruppen dabei waren. Sie boten mir in der üblichen vorsichtigen Art die gleichen Schriften an, die ich ihnen anzubieten hatte. Es kamen auch Beamte der politischen Polizei zu den Vorträgen. Sie stellten sich an die Tür, schauten, hörten zu und gingen wieder. Wir erkannten diese Typen sehr rasch; jedenfalls eher und besser als sie uns. Für mich sollte es sich später vor dem Untersuchungsrichter herausstellen, daß sie reichlich Notizen über uns gemacht hatten.
Die Maßnahmen der Regierung Lenins und die Befürchtungen Jogiches blieben das Hauptthema bei allen Diskussionen in der Spartakusgruppe und im Jugendbildungsverein. Wir erfuhren bald daß die führenden Bolschewiki sich über die Gefahren eines Sonderfriedens klar waren. Die Bolschewiki hätten aber ohne das Versprechen den Krieg zu beenden, die Regierung Kerenski nicht stürzen können.
Ihre Schuld war es nicht, daß die großartigen Ansätze zu einer neuen Gesellschaftsordnung in einem opfervollen Bürgerkrieg verteidigt werden mußten, nachdem die Revolution selbst fast unblutig verlaufen war. Die Geschichte beweist, daß eine Konterrevolution stets das Mehrfache an Opfern fordert als die Revolution selbst.
Geldmangel und die zeitraubende Suche nach einer Druckerei, die es riskierte, einen längeren Spartakusbrief zu drucken, waren die Ursache, daß erst zwei Monate später, im Januar 1918, wieder ein Brief erscheinen konnte. In diesem Brief sprach Jogiches noch einmal von seiner Besorgnis um die Entwicklung der russischen Revolution. Die Formulierung ließ erkennen, daß die Auffassung Jogiches, auch die von Rosa Luxemburg war. Es hieß im Brief vorn Januar 1918:
»– Der preußisch-deutsche Halbabsolutismus in traulichen Verhandlungen mit den Lenin und Trotzki, die erst vor ein paar Jahren um das Berliner Polizeipräsidium einen weiten Bogen machen mußten! – Wieviel lieber würden die Hindenburg und Ludendorff ihre „Dicke Berta“ mit der „Bande“ in Petersburg reden lassen! Doch stille! Solche Herzenswünsche müssen einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben
– Es ist psychologisch begreiflich, daß die Bolschewisten in ihrer Situation jetzt das Bedürfnis haben, in der entscheidenden Frage, der des Friedens, ihre Politik als Erfolg gekrönt anzusehen, und sie auch so vor dem russischen Volk hinstellen. Nüchterne Betrachtung der Dinge zeigt sie in anderem Licht.
Die nächste Wirkung des Waffenstillstandes im Osten wird nur die sein, daß deutsche Truppen vom Osten nach dem Westen dirigiert werden. Vielmehr: sie sind es schon
– Zu Hunderttausenden sind deutsche Truppen noch vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Rußland nach Italien und Flandern verladen worden. Die letzten blutigen deutschen Vorstöße bei Cambrai und im Süden, die neuen „glänzenden“ Erfolge in Italien sind bereits Wirkungen des bolschewistischen Novembersturzes in Petersburg. Noch warm von Verbrüderungsszenen mit russischen revolutionären Soldaten, von gemeinsamen photographischen Gruppenaufnahmen, Gesängen und Hochs auf die Internationale, stürzen sich bereits die deutschen „Genossen“ mit aufgekrempelten Ärmeln in heldenmütigen Massenaktionen ins Feuer, um ihrerseits französische, englische und italienische Proletarier abzuschlachten. Durch die frische Massenzufuhr deutschen Kanonenfutters wird das Gemetzel an der ganzen West- und Südfront mit zehnfacher Kraft auflodern. Daß Frankreich, England und Amerika dadurch zu äußersten, verzweifelten Anstrengungen veranlaßt werden, liegt auf der Hand. Und so ergeben sich als nächste Wirkungen des russischen Waffenstillstandes und des ihm auf dem Fuße folgenden Sonderfriedens im Osten nicht die Beschleunigung des allgemeinen Friedens, sondern erstens, die Verlängerung des Völkermordens und ungeheure Steigerung seines blutigen Charakters, was auf beiden Seiten Opfer fordern wird, gegen die alles bisherige erblassen dürfte; zweitens, eine enorme Stärkung des militärischen Position Deutschlands und damit seiner verwegensten Annexionspläne und –Appetite.
Die Schuld an diesem tragischen geschichtlichen Quidproquo fällt in erster Linie auf das deutsche Proletariat. Auf ihm ruht die Hauptverantwortung vor der Geschichte für die ungeheuren Blutströme, die nunmehr vergossen werden –
Die Russen aber, sie müssen handeln. Die Arbeiterklasse hat dort die Macht. Sie ist im Innern Siegerin. Sie ruft mit lauter Stimme hinaus nach ihren Brüdern in der Welt. Und statt der Brüder antwortet ihr der heisere Schakalschrei zünftiger Diplomaten.«
Dann hieß es über Lenins Losung „Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten“:
»Es ist freilich Aufgabe des revolutionären Proletariats, überall die weitgehendste politische Demokratie und Gleichberechtigung der Nationalitäten durchzuführen, es kann aber am allerwenigsten seine Sorge sein, die Welt mit neugebackenen nationalen Klassenstaaten zu beglücken. An dem Apparat der staatlichen Selbständigkeit nach außen, die mit Demokratie gar nichts zu tun hat, ist nur die Bourgeoisie in jeder Nation interessiert. So wird auch eine bei den Friedensverhandlungen oder später vollzogene Annexion Polens, Litauens und Kurlands durch die Mittelmächte ganz als ein Wunsch der betreffenden Nationen ausstaffiert werden – Die Bolschewisten dürften im weiteren Verlaufe der Dinge mannigfach an den Stacheln dieser von ihnen so unbedacht propagierten Phrase hängen bleiben.«
Hier war Jogiches zu skeptisch. Lenin hatte die Stacheln wohl bedacht. Er hatte geschrieben: »Die nationale Frage ist nur ein Teil des sozialistischen Umschwungs.«
Der Januarbrief 1918 sollte Jogiches letzter Spartakusbrief sein.
Rosa Luxemburg entwarf nach den Hinweisen und Informationen die sie von Jogiches erhielt in der Zelle des Zuchthauses Breslau ihre klassische Schrift über die russische Revolution. Diese Schrift wurde zur leidenschaftlichen Kritik einer Revolutionärin die wollte, daß der reißende Strom der Revolution von allem Schlamm freibleibe. Die spärlichen Informationen, die Rosa Luxemburg in der Gefängniszelle erhielt, ließen sie nicht erkennen, daß in der Revolution Maßnahmen, Mittel, Methoden, in erster Linie nicht von den Revolutionären, sondern von ihren Gegnern bestimmt werden.
Die Meinungsverschiedenheiten hemmten unsere Aktivitäten in der Spartakusgruppe und im Jugendbildungsverein nicht im geringsten. Im Gegenteil, sie regten uns an, den Anschluß an die russische Revolution zu gewinnen und den aufgezeigten Gefahren zu begegnen. Wir waren ein politischer Kreis, folglich waren die Diskussionen um die Dinge, die uns erfüllten, Voraussetzung jeder Handlung.
Die Mehrheit der Partei- und Gewerkschaftsbürokraten akzeptierte die Pläne der Militärs. Die Leitartikel der Partei- und Gewerkschaftspresse dieser Zeit beweisen es. Es war nicht etwa nur die Dienstbeflissenheit der vom Militärdienst Freigestellten, diese Leute bezeugten ihre Verbundenheit mit dem Militär-Staat. Somit blieb auch die Masse der Bevölkerung passiv.
In diesen Tagen wurde ich zum ersten Male von der Zentrale des Spartakusbundes zu einer wichtigen Arbeit herangezogen. Jogiches hatte die Kopie der Denkschrift des Fürsten Lichnowsky in die Hände bekommen und ich sollte in der Druckerei bei der Herstellung und dem Versand helfen. Fürst Lichnowsky, der bis zum Ausbruch des Krieges deutscher Botschafter in London war, hatte dem Kaiser eine Denkschrift übergeben über die Bemühungen der britischen Regierung zur Erhaltung des Friedens. Aus dieser Denkschrift ging hervor, daß die britische Regierung den Krieg beinahe um jeden Preis vermeiden wollte, daß aber in Berlin der gleiche Wille zum Frieden nicht vorhanden war, und daß der wichtigste Bericht Lichnowskys über die Haltung der britischen Regierung vom Auswärtigen Amt „geändert“, das heißt gefälscht worden war, ehe er dem Kaiser vorgelegt wurde. Lichnowsky hatte auch am 26. Juli 1914 warnend berichtet, daß alles getan werden müsse, „dem deutschen Volk einen Kampf zu ersparen, bei dem es nichts zu gewinnen und alles zu verlieren habe“. Von der Denkschrift wurde während des Krieges viel und geheimnisvoll geflüstert, besonders nachdem Fürst Lichnowsky deswegen aus dem Preußischen Herrenhaus ausgeschlossen worden war.
Der Besitzer der kleinen Druckerei in der Grünstraße, im Zentrum Berlins, konnte die Denkschrift nur abends drucken, wenn sein Mitarbeiter Feierabend hatte. So machte ich an mehreren Abenden in der Druckerei Hilfsarbeiten und mußte anschließend fertige Exemplare gleich aus dem Hause schaffen. Der Versand ins Reich mußte harmlos getarnt auf mehrere Postämter verteilt werden. Diese Arbeit leistete ein untersetzter Mann mittleren Alters, Michel genannt. Er hieß Otto Franke und war Mitglied der revolutionären Obleute und gleichzeitig Verbindungsmann zur Zentrale des Spartakusbundes. Zu seiner Hilfe hatte er Anna Colditz, eine kaufmännische Angestellte; aus meinem Bezirk Moabit waren Willi Leow und ich dabei.
Ein Gegner des Krieges, der Hauptmann von Beerfelde, hatte einen Bekannten im Auswärtigen Amt, der Einblick in die Akten hatte. Dieser überließ ihm die Denkschrift für eine Nacht. Im Büro Jogiches wurde sie abgeschrieben. Das Original wurde am anderen Morgen wieder zu den Akten gelegt. Es konnte während des Krieges nicht entdeckt werden, wie wir die Denkschrift in die Hände bekommen hatten. Nach dem Krieg gab Lehmann-Russbueldt für den Bund „Neues Vaterland“ die Denkschrift in der Schriftenreihe des Bundes noch einmal heraus.
Ich wurde nach meiner Verhaftung täglich stundenlang von Kriminalbeamten der „Abteilung VII“ und vom Untersuchungsrichter beim Reichsgericht über die Denkschrift verhört; ich konnte nur zugeben, daß ich sie mit verbreitet hatte. Wie Jogiches zu der Denkschrift gekommen war, erfuhr ich erst nach dem Kriege. Auch den Hauptmann von Beerfelde habe ich erst nach dem Kriege kennengelernt; er war ein Freund des Kapitänleutnants Hans Paasche, der im Mai 1920 ermordet wurde.
Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023