Karl Renner

Die Trilogie unserer Leiden

(1. März 1911)


Der Kampf, Jg. 4 6. Heft, 1. März 1911, S. 241–245.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das hat noch gefehlt, um das Mass voll zu machen. Die unselige Politik der bürgerlichen Parteien unseres Staates führt jetzt den zweiten Teil der Tragödie der Völker Oesterreichs auf und rast der Katastrophe zu.

Der Fluch der Völker, der Nationalismus, zeigt sich wieder einmal in einem anderen Lichte. Dieser Wahnsinn hat nämlich zwei Methoden. Durch anderthalb Jahrzehnte haben die bürgerlichen Parteien in ihrem Chauvinismus das Ansehen dieses Staates in der Welt herabgesetzt, seine Macht untergraben, der Nationalismus hat gedroht, das Reich in Stücke zu reissen und die Trümmer den Nachbarn zu verhandeln. Nach allen Himmelsgegenden, nach Berlin und Petersburg und Rom und – Belgrad gingen die Pilgerzüge der Nationalisten. Sie gaben dem Staat kein Budget, dem Heer keine Rekruten, der Gemeinsamkeit keinen Pfifferling mehr. Los von Ungarn! brüllten die Horden Luegers vor dem ungarischen Ministerium in der Bankgasse, los von Wien 1 schrien die Magyaren in den Strassen von Pest. Und so auf den Hund haben sie die Reputation, den Kredit und die Volkswirtschaft des Staates gebracht, dass die Zaunkönige des Balkans mit ihren jungen Schnäbeln das „altehrwürdige Reich“ zerreissen zu können sich herausnahmen.

Noch klingt uns allen im Ohre das Geschrei der Lautmäuligsten: eines gewissen Herrn Karl Hermann Wolf, eines Klofač; die pathetische Phrase der Eingebildetsten, eines Prade, Sylvester und Dobernig, der Ministerankläger von anno dazumal, eines Kramař und Stransky, der Protagonisten des Slawentums in der Welt; und all das langatmige Geschwätz der Atlasse des magyarischen Globus, eines Tisza und Apponyi, eines Kossuth und Justh. Zehn entscheidende Jahre der Weltentwicklung haben sie mit ihrem unfruchtbaren Lärm ausgefüllt und die Völker Oesterreich-Ungarns in Stillstand erhalten, gerade zu jener Zeit, wo die Welt handelspolitisch verteilt worden ist. Damals hat der bürgerliche Nationalismus die Völker Oesterreichs um die Plätze an der grossen Tafel der Erde betrogen und heute hausieren unsere Kaufleute vor den versperrten Toren aller Länder vergebens. Keine Macht der Geschichte bringt uns dieses versäumte Jahrzehnt zurück. Wir spüren es ja in allen Gliedern der Volkswirtschaft: Sie sind gelähmt durch die chronische Krise, dieweil alle anderen Staaten sich längst regen und schaffen.

Das war der erste Teil des Trauerspiels der österreichischen Völker. Man sagt, das Drama sei wie ein reinigendes Gewitter für die Seelen. Man sagt auch, „der Schaden macht klug und „durch Fehler lernt man“. Die Auschreitungen des Nationalismus hatten das eine Gute, dass alle Nationen in Stunden der Selbstbesinnung ernsthaft ihr Verhältnis zum Staate nachprüften. Da gingen die Deutschen daran, im Pfingstprogramm des Jahres 1899 Nation und Staat abzugrenzen. „Wir bestellen nur unser eigenes Heim wir gönnen jedem anderen das seine“, hiess es. Da begannen auch die Bürgerlichen mit der nationalen Autonomie zu kokettieren. Der Staat sollte gleichsam neutralisiert werden: Er scheidet aus seiner Machtfülle das aus, was die Nationen für sich brauchen, er gibt ihnen, was der Nationen ist, damit auch diese ihm geben, was des Staates ist. Und damit erschien eine Zeitlang der nationale Friede im Anmarsch.

Allein es war nur ein lichter Zwischenraum im Wahnsinn. Der Nationalismus tobte fort, die bürgerlichen Parteien aller Nationen wollten den Frieden nicht, bis das Ge-wissen der Massen sich empörte, bis die revolutionäre Wahlrechtsbewegung das Kurienparlament in Scherben schmiss und die Staatsgewalt sich an der Wahlreform wieder aufrichtete.

Da trat der Oberst Fabricius mit Säbel und Feldbinde in das Budapester Parlament und die schnatternde Schar der Gänse stob auseinander. Und nun ging es Schlag auf Schlag, bis endlich der bosnische Konflikt und das Standrecht in Prag den Nationalismus aller Zungen belehrte, dass die Flinte, die schiesst, und der Säbel, der haut, und die Galgenschnur ganz andere Machtfaktoren sind als die Schimpfsalven der Tribüne. Nicht zwar durch die Logik ihrer Köpfe, aber durch die Logik der Dinge sind dann Kamarilla und Regierung dahinter gekommen, das sdie Revolten der nationalistischen Bourgeoisien ein fauler Zauber, blosser Theaterlärm sind, dass der Bourgeois es ganz gerne hört und sieht, wenn die anderen sich die Köpfe einschlagen, aber selbst seine Ruhe liebt. Und so setzte man den Bienerth auf die Ministerbank, trug ihm die Ermattungsstrategie auf, legte ihm die Rolle des Hungerkurkünstlers bei und wartete ab.

Da schlug denn der Heldenmut der Nationalisten um in schmachvolle Feigheit. Von jetzt ab drängen sich die bürgerlichen Parteien heran an die Regierung, buhlen um ihre Gunst und aller nationaler Lärm entsteht bloss durch das Gedränge um die Gnade von oben, ist bloss der Ruf höhnischer Schadenfreude bei denen, die das Glück haben, Bienerth zu dienen, und das Gewinsel des Neides der Zurückgesetzten.

Das Verhalten der bürgerlichen Parteien zu der Regierung im Parlament, der Mehrheit wie der Minderheit, ist schon lange eine Schmach für unser öffentliches Leben. Das Wort des Tacitus „ruere in servitium“ [1] passt voll und ganz auf diese Parteien. Dabei kommen – man vermag es kaum auszusprechen – die Christlichsozialen noch besser weg als der sogenannte Deutsche Nationalverband. Denn sie waren von jeher schwarzgelb und regierungstreu und, wenn sie Bienerth und Stürgkh halten, wissen sie auch warum. Denn die Regierung besorgt ihre Geschäfte. Geradezu widerlich aber sind diese Deutschfreiheitlichen, die jetzt schon seit Jahren jede klerikale, reaktionäre, volksfeindliche Tat der Regierung decken, jede Schmach auf sich nehmen, nur damit den Slawen nicht das Heil zuteil werde, diese Schmach tragen zu dürfen. Und am allerwiderlichsten sind die Leute um Wolf. Der baronisierte Chiari und der Eingänger Steinwender waren niemals Himmelsstürmer und Reichsfeinde. Aber dass gerade jene, die das „Los von Rom“, das „Los von Oesterreich“, das „Heil Hohen-zollern“, das Wort von der „polnischen Sauwirtschaft“ eingebürgert haben, sich jetzt Herrn Grafen Stürgkh als den Träger eines deutschen Regimes einreden lassen und darum im Bunde mit Polen und Römlingen der Regierung Knechtesdienste tun, das ist schmählicher, als man das von irgend einer Bourgeoisiepartei gewöhnt ist.

Natürlich sagen sie, dass sie um des nationalen Erfolges willen Selbstverleugnung üben! Aber wo ist denn dieser Erfolg? Wo denn? Wo ist denn die Abgrenzung in Böhmen? Wo die Provinz Deutschböhmen? Wo sind die deutschen Kreisregierungen? All das ist ferner als je, eine Fata Morgana: Das einzig Reale ist die hochmögende Statthalterschaft des Grafen Thun, die wiederaufgerichtete feudale Vormundschaft über die Bourgeoisien beider Zungen in Böhmen.

Nicht immer, wenn auch nicht selten ist die Prostitution eine Schande – häufig ist sie nur Unglück. Aber eine Prostitution ohne Entgelt, aus blosser Liebe zur Sache, das ist Schande und Torheit zugleich.

Die deutschen Nationalisten werden sich vergebens damit zu rechtfertigen suchen, dass die slawischen nicht ein Haar besser sind. Man darf sich durch die vorgeschützte Oppositionsstellung der Herren Kramař und Schusterschitz nicht täuschen lassen. Diese Opposition ist blosses Scheinmanöver, gut genug, die politischen Kinder in der eigenen Nation – und es gibt solche! – zu täuschen. Man nenne uns den Punkt, wo sie in Opposition gegen das System stehen! Wann haben sie die Wirtschaftspolitik, die Sozialpolitik, die politische Praxis, die klerikale Richtung der Regierung als solche bekämpft? Welche ihrer realen Vorlagen haben sie befehdet? Haben sie sich nicht selbst zu der Steuerreform der Regierung, zu ihren Plänen der Sanierung der Landesfinanzen bekannt? Sind sie nicht im Herzen höchlichst befriedigt darüber, dass die Staatsanwälte die Arbeiterblätter wieder zu konfiszieren beginnen? Man prüfe die Abstimmungslisten über alle wirklich verhandelten Anträge nach und wird finden, dass diese sogenannte Opposition in keiner einzigen prinzipiellen Frage einheitlich oder auch nur ganz überwiegend, aus Prinzip gegen die Regierung votiert hätte. Sie stimmt offen mit der Regierung, verwaltet hinter den Kulissen mit und beratschlagt in vertraulichsten Komitees mit der angeblich gehassten Mehrheit und Regierung, wie denn die Staatskassen zugunsten der Länder geschröpft werden könnten.

Sie führt keinen sachlichen, prinzipiellen Kampf, sie ist keine Opposition in konstitutionellem Sinne. Sie verlegt ihren Kampf auf lauter Formalien, auf Erklärungsdebatten, Tagesordnungsfragen, Geschäftsordnungskniffe, weil sie in der Sache nichts Besonderes will. Sie will persönlich daran, will Sitze im Ministerium, Stellen in der Verwaltung, Expansion im Staatsdienst, sie will dieselbe wirtschaftliche und soziale Reaktion, nur in anderer Zunge, dieselbe Schmach in anderer Mundart! Reale Erfolge für die Nation kann sie ebensowenig erpressen, wie die Mehrheit sie zu erbetteln vermag. Denn die Regierung kann sie nicht geben – bei Strafe der Obstruktion des Gegners. Sowenig als Herr Wolf die Abgrenzung erkriecht, ertrotzt Kramař die Brünner Universität. Auf diesen Wegen ist nichts zu finden!

Beide Methoden sind trotz des verschiedenen Gehabens dieselben. Denn das Bellen ist ebenso Hundeart wie das Schweifwedeln. Es ist immer derselbe Byzantinismus. Man muss unsere Herren Bürgerlichen nur verstehen. Bedientenseelen sind demütig, solange die Herrschaft gnädig ist. Fühlen sie sich zurückgesetzt, so laufen sie zu einem andern Herrn und verunglimpfen den früheren. Jahrelang haben die bürgerlichen Parteien mit dem bekannten Bürgerstolz vor Königsthronen den daheim verschmähten Byzanitinismus im Ausland, in Berlin und Petersburg, offeriert. Durch Flinte und Galgen bescheiden gemacht, begnügen sie sich, ihn in heimatlicher Konkurrenz zu betätigen. Und darauf haben sie sich jetzt eingerichtet.

Natürlich werden Hof- und Militärpartei des Vorteils gewahr und nützen ihn aus. Unerhörte, ungeheuerliche Forderungen stellt der Moloch Militarismus und der Leviathan Marinismus. Es ist rein so, als beabsichtige man eine Belastungsprobe auf den Wahnwitz des Nationalismus zu veranstalten.

Die ganze Oeffentlichkeit war durch diese Forderungen in starres Entsetzen versetzt. Bürgerliche Fachleute der Volkswirtschaft erhoben ihre warnende Stimme, Marinefachleute wagten sich hervor und zeigten die Ueberflüssigkeit und Gefährlichkeit der Dreadnought-Experimente für Oesterreich auf. Sogar die Neue Freie Presse sah sich genötigt, auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen und von Abstrichen zu reden. Der Deutsche Nationalverband berief eine Sitzung ein, um seine Delegierten entsprechend zu instruieren.

Der Leser denkt wohl, dass nunmehr die öffentliche Intelligenz des Landes sich an die ernste Prüfung der Vorlagen machte? Es ist ein schicksalsschwerer Schritt, wenn ein Binnenland wie Oesterreich-Ungarn daran geht, die See mit Wehr und Waffen zu beschreiten, wenn die Bewohner der Alpen, die Söhne der Puszta, die Anrainer der podolischen Ebene in Galizien und jene zwei Völker, welche das innerste Herz des europäischen Festlands, den böhmischen Gebirgskessel bewohnen, auf einmal die Hälfte ihres Interesses auf das Meer verlegen, wenn ein Land, das von grossen Militärmonarchien zu Lande umdräut ist, neue Feinde auf dem unbegrenzten Kriegsschauplatz des Weltmeers sucht. Ein Entschluss wahrhaftig, der des Bedenkens wert ist.

Wir Sozialdemokraten sind Gegner der Rüstungen, uns ist das keine Frage. Aber den Bourgeoisien Oesterreichs, die einen grossen Teil ihres Vermögens in die trügerische SalzLut versenken sollen, müsste das doch wohl ein Gegenstand ernster Erwägung sein?

Und die zweite Frage! Beim Anblick der alten Ritterrüstungen fragt, sich der moderne Mensch, ob sein Körper nicht zu schwach geworden sei, so schwere Wehr zu tragen. Dieselbe Frage hat die bürgerliche Oeffentlichkeit angesichts der Landrüstungen aurgeworlen und prophezeit, dass sie die Völker über kurz oder lang erdrücken müssen.

Und nun sollen wir über dem schweren Eisenhemd ungezählter Gewehre und Feldgeschütze noch den Panzer der Seeschiffe und Küstengeschütze tragen?

Ist da nicht die bescheidene, aber dringende Frage erlaubt: Sind wir stark und reich genug für dieses doppelte Gewand?

Ein Volk, das sich diese Frage nicht einmal erlaubte, das seine Kräfte vor diesem Entschluss nicht ernsthaft prüfte, ein solches Volk wäre unreif und unwert, zu sein!

Nichts nützt die Berufung auf das Ausland, zumal auf das verbündete Deutschland. Ja, Deutschland ist in vierzigjährigem Frieden sehr stark und reich geworden, aber wir in OesterreidrUngarn haben uns selbst in dem vierzigjährigen Kampf der Nationalitäten aufgerieben und infolgedessen den Weltenfrühling der Wirtschaftsmächte, Aussaat und Erntezeit verpasst!

Schlagen wir doch, nur so fürs erste, als Stichprobe, ein wenig die statistischen Handbücher auf, vergleichen wir Deutschland mit Oesterreich!

Das besteuerte Bruttoeinkommen in Oesterreich macht rund 4 Milliarden Kronen aus, jenes von Preussen allein 16 Milliarden Mark [2], das ist beinahe fünfmal so viel. Und dabei ist Oesterreich noch bei weitem reicher als Ungarn, das ja mitzuzählen ist. Ein armes Land sind wir also; wir sollen mit dem reichen Deutschland gleichen Schritt halten – zu Wasser und zu Land!

Und ein hungerndes Volk sind wir dazu! Der Konsum an Weizen und Roggen per Kopf der Bevölkerung betrug im Jahrfünft 1902 bis 1906 im Deutschen Reich 247,6, in Oesterreich-Ungarn 174,0 Kilogramm. Wir hatten also schon damals, vor der enormen Teuerung, buchstäblich nicht genug Brot zu essen. [3] Auch der Verbrauch aller anderen Zerealien gibt dasselbe Bild: Gerste per Kopf Deutsches Reich 77,9, Oesterreich-Ungarn 45,4 Kilogramm, Hafer Deutsches Reich 120,6, Oesterreich-Ungarn 54.4 Kilogramm. Nur der Mais (Viehmast und Polenta) steht günstiger: Deutsches Reich 15,8, Oesterreich-Ungarn 72,1 Kilogramm.

Man meint also wohl, dass wir wenigstens das Nahrungsmittel der armen Teufel, die Kartoffel, in hinreichendem Quantum konsumieren? Welch traurige Täuschung! Im Durchschnitt des Jahrfünfts 1901 bis 1905 entfallen auf den Kopf der Bevölkerung im Deutschen Reich 635,7 Kilogramm, in Oesterreich-Ungarn jedoch nur 258,3 Kilogramm Kartoffeln. Und von diesem Quantum raubt der Staat durch die Prämien für Schnapsbrenner einen beträchtlichen Teil dem Konsum und führt ihn dem Fuselkessel zu.

Wo man anpackt, überall dieselben Zeichen der Armut, der Minderernährung, der Zurückgebliebenheit. Betrachten wir die durchschnittliche Menge des Konsums von Bier, Branntwein und Wein im Jahrfünft 1900 bis 1905 in Litern:

 

Bier

Wein

Branntwein

Gesamter
Getränke-
genuss

Deutsches Reich

119,7

  6,58

  8.2

134.5

Oesterreich-Ungarn

  43,2

17.8  

10,3

  71,3

Also auch hier ein Manko von 63 Litern per Kopf und das in dem Reiche, welches das gesegnete Weinland Ungarn, das berühmte Bierland Böhmen, das berüchtigte Schnapsland Galizien mitumfasst!

Aber man halte diesen gewissenlosen bürgerlichen Parteien konkrete Daten, ziffermässige Beweise vor – sie hören nicht darauf; blind und taub stellen sie sich gegenüber der Vernunft, gegenüber der Not des Landes und dem Elend der Massen.

Sie überlegen den Schritt zur Seemacht nicht, sie prüfen nicht die Leistungsfähigkeit des Landes! Um alles in der Welt nur keine Ziffern.

Was also erwägt denn der verehrliche Deutsche Nationalverband in ernster Sitzung?

O, das ist einfach, zum Schreien simpel! Die Neue Freie Presse hat das Stichwort gegeben: Wenn wir nicht bewilligen, bewilligen Schusterschitz und Kramar. Wenn wir uns nicht prostituieren, tun es die anderen! Und also bewilligt der Verband!

Wahrhaftig – der Nationalismus ist der Fluch der Völker Oesterreichs, so und so: ob er wie ein Besessener um sich schlägt und das Reich schändet und verwüstet durch den Faustkampf der Rassen, oder ob er mit der byzantinischen Besonnenheit des Staatsmannes operiert!

Und damit also endet das zweite Drama der Völker: Im Namen der Nation werden alle Völker ausgezogen bis aufs Hemd und ihre Habe wird dem Moloch und dem Leviathan geopfert! Im Namen der Nation, ihrer Ehre, ihrer Gunst bei Hofe wird das Volk zum Bettler gemacht! Und nichts, gar nichts ist dafür gewonnen. Nicht das Splitterchen eines nationalen Rechtes, nicht eine Andeutung der Autonomie.

Wir können aber diese doppelte Rüstung nicht tragen, wir können nicht die zweifache Front der Feinde bestehen. Die eine Front zu Lande – das war Russland, der Balkan und Italien, sie ist absehbar und niemals geschlossen. Als Seemacht des Mittelmeeres aber haben wir es nicht nur mit Italien zu tun. Seemächte des Mittelmeeres sind ausserdem und vor allem England und Frankreich, später vielleicht auch die Türkei, Griechenland und Russland, eine unabsehbare Front von Feinden. Hier zwingt der erste Schritt, bis zu Ende zu gehen.

Aber wie können wir das? Wir haben bisher infolge des eingebildeten Konflikts mit einem Miniaturstaat des Balkans einige Schulden gemacht, die uns heute schon schwer drücken. Unsere Renten sind gesunken um den Gesamtbetrag von einer Milliarde. Wir müssen den Rentenmarkt überschwemmen und der Zeitpunkt ist nahe, wo jedes Anlehen das Kapital der Renten um ebenso viel senkt als der Staat ausleiht. Auf dem Rentenwert ist unsere Postsparkasse aufgebaut, die Sparbüchse der Aermsten. Schon heute ist unsere Zahlungsbilanz passiv, schon müssen wir trotz unserer Unterernährung Brotfrucht ausführen, um die Zinsen zu zahlen. Geht das so fort, so hebt sich der Vorhang zum dritten Trauerspiel, zur wirtschaftlichen Katastrophe der Völker Oesterreichs, welche an unserem Landheer und an diesen Dreadnoughts liquidiert werden wird. Mutmasslich wird dann der Byzantinismus der bürgerlichen Parteien wieder umschlagen und endlich keine erfolglosen Pilgerfahrten ins Ausland mehr unternehmen. Dann wird die Trilogie unserer Leiden beendet sein.

Der Nationalismus – das ist der Feind der österreichischen Völker. Er vernichtet sie, indem er sie bestrickt, er macht sie blind, indem er ihnen die helle Fata morgana der nationalen Ehre vorgaukelt, er entkräftet sie und macht sie zu Sklaven durch das Schlagwort von der Macht der Nation. Wehe dem Volk, das sich von ihm betören lässt!

* * *

Anmerkungen

1. Zu Deutsch: „Hineinrennen in die Knechtschaft“.

2. Das ungeheure Anwachsen veranschaulichen folgende Ziffern: 1896: 10.148; 1900: 12.042; 1905: 13.947; 1907 : 15.874. Das ist in zwölf Jahren um 56 Prozent bei einem Bevölkerungszuwachs von 19 Prozent.

3. Der Roggenkonsum steht in einem noch ärgeren Missverhältnis: Deutsches Reich 151,6 Kilogramm, Oesterreich-Ungarn 64,0 Kilogramm; er wird durch den etwas reichlicheren Weizenkonsum in Ungarn ergänzt, doch bleibt an beiden Brotfrüchten zusammen noch immer ein Manko von über 70 Kilogramm per Kopf und Jahr gegenüber Deutschland.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024