Karl Renner

Organisation der Welt

(1. Mai 1910)


Der Kampf, Jg. 3 8. Heft, 1. Mai 1910, S. 337–333.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


 

O Menschheit! Von wie viel Stürmen und Verlusten von wie viel Schiffbrüchen musst du heimgesucht werden, da du ein vielköpfiges Ungeheuer geworden bist und dein Trachten auseinander geht.
                                                                                                          Dante.

Der ganzen Welt der Herrschenden hat bei der Jahrhundertfeier der grossen französischen Revolution im Jahre 1889 das grosse Arbeiter-Weltparlament zu Paris den Fehdehandschuh hingeworfen, der alten Welt hat damals die neue Welt prinzipiellen und unversöhnlichen Kampf angekündigt und die Maifeier als ihr neues Bundesfest gestiftet.

Ein vielköpfiges Ungeheuer ist die Menschheit geworden, ein Ungeheuer, das sich selbst zerfleischt. Die Einheit und Gemeinschaft alles dessen, was Menschenantlitz trägt, ist zerrissen durch den Widerstreit der herrschenden Klassen. Den Erdball, die gemeinsame Heimstätte der Menschenkinder, haben sie aufgeteilt in Staaten, auf dass diese einander fremd und feindlich entgegendrohen; die Menschheit, die grosse Arbeits- und Kulturgemeinschaft haben sie zerklüftet in Nationen, in Staatsvölker, auf dass sie sich gegeneinander mit todbringenden Geschützen, mit mörderischen Land- und Schiffskanonen rüsten und einander Vernichtung sinnen; Zerstückt die Erde, zerstückt die Menschheit und auf den Trümmern irrt heimlos klagend die Menschenliebe, die Menschlichkeit! Da haben ihr die Proletarier aller Reiche ihre Hütten und Kammern, sie haben ihr die Herzen aufgetan, da hat der Pariser Kongress die von den Höfen und Palästen verbannte, flüchtige Menschheit auf den Thron gehoben und mit Festesgrüssen gefeiert: Der 1. Mai soll ein Tag der Völkerverbrüderung wider Militarismus und Kriegsrüstung, wider den völkerverhetzenden Chauvinismus und Nationalismus, der Tag der Wiederkunft der Menschheit sein.

Die Menschheit ist heute desorganisiert, anarchisiert. Der Kapitalismus hat alle Bande des Gefühles zwischen den Menschen zerrissen, im Kleinen wie im Grossen. Er hat die Feldflur in Parzellen, in lose treibende Eigentumsstücke zerschnitten, er hat die Familien, die patriarchalischen Gemeinschaften aufgelöst in Individuen, in den Einzelnen mit seinem Eigentum, und zwischen den Individuen die Konkurrenz, den Kampf aller gegen alle proklamiert. Er hat ebenso die Völker mit ihrer überlieferten Erdscholle voneinander gelöst und sie ebenso souverän gemacht wie den Eigentümer auf seiner Ackerscholle, er hat zwischen den Staatsvölkern kein anderes Verhältnis anerkannt als jenes des Kampfes aller gegen alle, des lauernden Krieges und des unaufhörlichen Rüstens. Staatssouveränität und Privateigentum sind die zwei Seiten derselben Medaille, dieselbe Fälschung unzerstörbarer Wahrheiten. Denn unbestrittene Tatsache ist, dass kein Individuum von allen anderen losgelöst, unbeschränkt und unverantwortlich existieren kann, und hätte es tausend Hektar zu eigen; ebenso unbestreitbar ist, dass kein Staat, von der Kultur- und Verkehrsgemeinschaft der ganzen Menschheit losgelöst, selbstherrlich und unverantwortlich, also souverän, dazusein vermöchte, besässe er auch einen halben Erdteil. Eine unzerstörbare Gemeinschaft verbindet Mensch und Mensch, Staat und Staat und diese Gemeinschaft wird täglich fester und inniger.

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Woher dennoch diese allgemeine Desorganisation?

Die abendländische Menschheit besass im Mittelalter Ansätze einer Gesamtorganisation in der Kirche, im Papsttum und im Kaisertum. Ein Herr im Himmel, ein Herr auf der Erde – so stellte sich den Volksmassen die Weltorganisation dar. Aber niemals kam diese zur Verwirklichung, sie war auf gemeinsame geistige Knechtung, auf gemeinsame Herrschaft und Ausbeutung, nicht auf der Freiheit aller begründet. So scheiterte die geplante Weltmonarchie der Päpste, der Hohenstaufen, der Habsburger und zuletzt auch des grossen Napoleon. Die Völker, die sich gegen die Weltmonarchie auflehnten, forderten zwar mehr als heute die Einheit der Menschheit, aber sie sollte eine freie Einheit sein. Darum mussten sie sich vorher erst aus den Klammern jeder kirchlichen oder fürstlichen Weltherrschaft loslösen. Das Freiheitsstreben der Völker erhielt damals in dem sogenannten Nationalitätsprinzip seine zusammenfassende Formel: Jede Nation ein Staat! Die Welt dem Bund der Nationen! Eine doppelte Forderung lag in diesem Prinzip: erstens die Befreiung von jeder Oberherrschaft, die Selbständigkeit gegenüber jeder Herrschaft von aussen und zweitens die Ueberwindung aller inneren Zerstückung durch die Kleinstaaterei, durch die Landesfürsten, die zahllosen Könige, Herzoge, Markgrafen etc., welche seit der Auflösung der mittelalterlichen Welt sich in die Stücke des Volkes geteilt hatten. Einheit und Freiheit der Nation war das Losungswort. In diesen Kämpfen haben unsere Altvordern, die Sozialisten jener Tage, auch ihren Mann gestellt. „Ein zweifaches Ideal,“ ruft Wilhelm Liebknecht als Angeklagter im Leipziger Hochverratsprozess seinen Richtern zu, „hat mir von Jugend an vorgeschwebt: das freie und einige Deutschland und die Emanzipation des arbeite ndenVolkes, das heisst die Abschaffung der Klassenherrschaft, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Menschheit. Für dieses Doppelziel habe ich nach besten Kräften gekämpft und für dieses Doppelziel werde ich kämpfen, solange noch ein Hauch in mir ist. Das will die Pflicht!“ [1]

Die Einheit und die Freiheit der Nation bedeutete im Munde der alten Revolutionäre nicht die Loslösung des Volkes aus dem Bunde der Völker, nicht Herrschaft über andere, nicht Feindseligkeit und Krieg gegen sie. Eins und frei sollten die Nationen sein, um sich als Freie und Gleiche desto inniger zu verbünden. Derselbe Liebknecht,der,alsJünglingzumFührer von Freischaren gewählt, mit der Waffe in der Hand, die Einheit und Freiheit seiner Nation auf dem Schlachtfelde erkämpfen half, derselbe Liebknecht ist das erste und eifrigste Mitglied der Internationale, der Vorkämpfer des „allgemeinen freien Völkerbundes“ [2] und widerspruchslos ist seine nationale mit seiner internationalen Gesinnung vermählt: „Ihr Arbeiter in Süd und Nord, in Ost und West, auf dem ganzen Erdenrund, ihr alle, die ihr mühselig und beladen seid, ihr Elenden und Ausgestossenen, für die kein Platz ist am Tische der Gesellschaft, die ihr im Schweisse eures Angesichts die Reichtümer schafft, welche andere geniessen, erkennet, dass trotz der Grenzpfähle, die euch trennen, eure Sache überall dieselbe ist, dass überall eure Not denselben Ursachen entspringt, dass überall folglich dieselben Mittel erforderlich sind, um eure Not zu enden; werft darum die nationalen Vorurteile beiseite, die euch bisher, zum Nutzen eurer gemeinsamen Feinde und zu eurem eigenen Schaden, in feindlichen Lagern auseinanderhielten, nur zu oft in brudermörderischen Kampf treiben; vereinigt euch unter dem Banner der Menschenliebe und arbeitet voll edlen Wetteifers, im Bewusstsein des hohen gemeinsamen Zieles, verschiedene Armeekorps einer und derselben Armee, verschiedene Glieder der einen grossen Menschenfamilie, an dem Werk der allgemeinen Befreiung!“ [3] „Wer hat die Stirn,“ wendet sich Liebknecht an die Hochverratsrichter, „dieses grossartige, welterlösende Streben zu verdammen? Wir stehen vor Richtern und Geschwornen, die sich zum Christentum bekennen – hat Christus sich etwa nicht vorzugsweise an das arme Volk gewendet? Besteht nicht das Hauptverdienst des Christentums, insoweit es nicht unheiligen Staats- und Klassenzwecken dienstbar gemacht worden ist, darin, den engherzigen Nationalismus der Hebräer durchbrochen und die Idee des allgemeinen Menschentums, das heisst modern ausgedrückt, das internationale Prinzip an die Stelle gesetzt zu haben?“

Indessen – nicht der einige Freistaat Deutschland in friedlicher Einigung mit freien Nationen ward begründet: Mit Blut und Eisen ward das vergrösserte Preussen der Hohenzollernkönige als das Deutsche Reich der kapitalistischen Ausbeutung begründet, der Bismarck des Sozialistengesetzes trat seine Herrschaft an, während Wilhelm Liebknecht mit Bebel auf zwei Jahre als Hochverräter in die Haft wanderte.

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Der Kapitalismus bediente sich nunmehr des Nationalitätsprinzips und fälschte die alte Formel um: Nicht Einheit und Freiheit der Nation im Bunde freier Völker – die souveräne Herrschaft des nationalen Kapitalismus über ein geschlossenes, durch Zölleabgeschlossenes, durch Bajonette verteidigtes grosses Wirtschaftsgebiet mit seinen Millionen rechtloser Proletarier – das war, das ist das neue nationale Ideal! Mögen immer grosse Teile der eigenen Nation ungeeint und unbefreit bleiben, das geschlossene Ausbeutungsgebiet ist die Hauptsache! Um so besser, wenn Teile anderer Nationen, Polen, Dänen, Franzosen, unter nationale Fremdherrschaft geraten! Am allerbesten, wenn es gelingt, fremde überseeische Gebiete, Kolonien mit andersfarbigem Volk der nationalen Herrschaft zu unterwerfen! Imperialismus und Kolonialpolitik, die Herrschaft über fremde Völker, über fremde Länder und Meere, selbst um den Preis eines Weltkrieges, der Zerfleischung der Menschheit, der Vernichtung anderer Völker – das ist das nationale Ideal des Kapitalismus.

Der alte nationale Gedanke war eine Idee zur Organisation der Welt, zur friedlichen Gliederung der einen grossen Menschenfamilie – der neue bedeutet den Kampf aller gegen alle, die Anarchie, die Desorganisation der Welt. Die Menschheit wird zum vielköpfigen Ungeheuer, zur kriegerischen Bestie, die Welt zu einem Arsenal von Mordwerkzeugen.

Die Souveränität der Nation triumphiert mit dem kapitalistischen Eigentum!

In Wahrheit aber ist die Idee der Nation gefälscht, verderbt, vernichtet.

Und trotz aller Triumphe des Kapitalismus ist der Sozialismus, trotz aller Triumphe dieses sogenannten Nationalismus der Internationalismus im Vormarsch! Die Menschheit lässt sich nicht verleugnen, nur tritt die künftige Königin vorerst als dienende, misshandelte Magd in die Welt!

Die Grossstaaten sind statt Nationalstaaten im alten Sinne zu Wirtschaftsstaaten geworden und die Einheit der grossen Wirtschaftsgebiete ist ihr beherrschendes Gesetz. Insofern ist der Nationalstaatsgedanke auf der ganzen Linie gescheitert. Die französische Republik einigt nicht alle Franzosen (Belgien, Schweiz, Elsass), aber sie umfasst die Mauren von Algier mit; das Königreich Italien lässt die Italiener von Korsika, von der östlichen Adria, von Malta und Tunis „unerlöst“, aber es sucht Kolonien in Afrika. Das Deutsche Reich umfasst weder die österreichischen noch die schweizer, noch die baltischen Deutschen, wohl aber Teile der Polen, Franzosen und Dänen, es beherrscht Gebiete von Ost- und Westafrika mit schwarzer Bevölkerung. Grossbritannien ist nicht verbunden mit den englisch redenden Vereinigten Staaten von Nordamerika, wohl aber sucht es ein Weltreich über alle Meere und alle Sprachen hinweg mit Südafrika, Indien, Australien und Kanada zu begründen. Nicht mehr „jede Nation für sich“ ist das Leitprinzip der Politik, sondern die Verknüpfung von Nationen nach Notwendigkeiten des Wirtschaftslebens.

Die Notwendigkeit bricht durch: Allem Chauvinismus und allen Souveränitätslehren zum Trotz wird offenbar, dass die Nationen isoliert nicht leben können, dass wirtschaftliche und kulturelle Gemeinsamkeiten sie zusammenzwingen. Die Tatsache, dass sie aufeinander angewiesen sind, setzt sich durch, im Notfälle selbst durch Zwang und Eroberung!

Die Sozialdemokratie hat dies längst erkannt und vertritt darum die freie Verbindung, die friedliche Verschmelzung der Völker. Sie anerkennt die Notwendigkeit der grossen Wirtschaftsgebiete, die Niederwerfung der trennenden Zollschranken. Wir österreichischen Sozialisten sind darum immer ent-schieden für das einheitliche Wirtschaftsgebiet Oesterreich-Ungarn – kraft freier Vereinbarung der Teile – eingetreten und haben alle Wünsche nach Zwischenzöllen abgelehnt. Wurden doch solche auch für einzelne Kronländer gefordert! Auch hierin sind die Ideen und die materiellen Interessen des Proletariats vollständig eins. Der Kapitalistenklasse hingegen ist Herrschaft und Ausbeutung eingeboren, also kann sie die Herrschaft ohne die Unterwerfung der anderen, die Freiheit nicht ohne Abschluss von den anderen, ohne eigene Isolierung nicht denken. Darum kann sie ohne Herrschaftskonflikt, ohneKrieg und ohne Eroberung, ohne Unterdrückung, die Einigung von Völkern so schwer vollziehen.

Herrschen kann nur einer über und gegen den andern, frei sein aber können alle neben- und miteinander!

Staatsprinzip ist heute das grosse, geschlossene Wirtschaftsgebiet. Geschlossen ist ein Gebiet nur teilweise, es ist nie abgeschlossen. In vielen und immer mehr Bedürfnissen bleibt es mit dem Weltmarkt, mit allen anderen Staatsgebieten verbunden. Ohne die Baumwolle Amerikas, Aegyptens und Indiens, ohne die überseeischen Kaffeeplantagen und Kautschukwälder, ohne die Rohstoffe und Lebensmittel aus allen Staatsgebieten, ohne Absatz eigener Erzeugnisse in alle Länder der Welt kann kein Wirtschaftsgebiet bestehen. Alle Länder der Welt stehen heute in Arbeitsgemeinschaft, sie sind faktisch untereinder verbunden. Aber rechtlich ist jeder Staat völlig ungebunden, souverän.

Freie Staaten, die Herrschaft und Ausbeutung nicht kennen, würden ihre faktische Verbindung leicht zur friedlichen Vereinigung vollenden. Die Herrschaft, die Ausbeutung kann dies nicht; Herr sein kann nur einer über den andern. So wird die faktische Verbindung der Menschheit zur Reibung, zum kriegerischen Konflikt ihrer Teile: zum bewaffneten Kampf um Absatzgebiete, zur kriegerischen Bedrohung des Nebenbuhlers. Und das ist das Erschreckende in der gegenwärtigen Entwicklung: die Menschheit will eins werden und diese bürgerliche Welt kann das unter der Herrschaft des Kapitals nur durch Krieg und Eroberung. Das Kapital bindet nur durch Blut und Eisen, es bereitet eine neue Menschheit nur durch Unmenschlichkeit vor! So in der Produktion daheim, so auf der Bühne der Welt. Das Proletariat jedes Landes hat die grosse Aufgabe, die Bestie daheim zu zähmen, damit die losgelassenen Bestien nicht die ganze Welt verheeren! Dazu muss es auch in jedem Lande völlig eins sein, ein geschlossenes Ganze, eine Union!

In der Weltpolitik bereiten sich die Dinge vor, die weit hinausführen selbst über das bisher geschlossene Wirtschaftsgebiet! Schon wird eine mitteleuropäische Wirtschaftsund Zollunion erörtert, schon tritt selbst den chauvinistischen Kapitalisten die Notwendigkeit vor Augen, gegen die Wirtschaftsmacht des englischen Reiches, Russlands und Amerikas, den ganzen Kontinent zusammenzufassen, es gewinnt den Anschein, als ob die Welt zwischen England, Russland und Amerika kapitalistisch aufgeteilt werden sollte. Hat doch selbst Kaiser Wilhelm den Ausspruch getan: „Europa ist zu klein, um geteilt zu sein“. Der Nationalstaatsgedanke scheitert selbst für die grösseren Nationen und selbst in seiner kapitalistischen Form. Die Welt drängt nach einer Neuorganisation! Die wirtschaftliche Einheit überschreitet alle Berge und überbrückt alle Meere, sie hält nicht an den Grenzen der Nationsgebiete und wirft alle Nationen durcheinander. [4]

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Und also müsste wohl Liebknecht, wenn er noch lebte, von seinem grossen Doppelziel das eine, die Einheit und Freiheit seines Volkes, streichen? Und also hätten die kleinen Nationen und alle Völker, die erst jüngst erwacht sind, ihr Jahrhundert versäumt und müssten auf ein nationales Eigenleben verzichten? Da der Staat Wirtschaftsstaat und die Wirtschaft zur Weltwirtschaft geworden, bliebe ihnen nichts übrig als der Verzicht auf ihr nationales Sonderdasein?

Die Kapitalistenklasse, die nach Herrschaft und Ausbeutung strebende Schicht jeder Nation, mag das befürchten. Sie braucht den Staat als Herrschaftsmittel und der Staat einer anderen Nationalität nimmt ihr diese Herrschaftsmöglichkeit.

Nicht so der Sozialist, der Herrschaft und Ausbeutung, damit auch den Staat bekämpft. Die Nationen waren da vor dem Staat, sie bestehen fort, trotz des feindlichen Staates, wie die Polen beweisen, sie werden sein auch nach dem Staat. Und gescheitert ist das Nationalitätsprinzip nur so weit, als es die Nation an den Staat unlösbar verknüpfen will: Wenn der Satz „Eine Nation – ein Staat“ auch dahinfällt, wenn er geschichtlich sich nirgends verwirklicht hat, so ist dennoch die Einheit und Freiheit jeder Nation möglich durch die nationale Autonomie!

Alle Glieder einer Nation können vereinigt sein in einer freien demokratischen, in einer machtvollen Organisation, ohne dass diese durch den Fetisch einer vorgespiegelten Souveränität von allen anderen Völkern isoliert ist. Diese Organisation kann ihre kulturellen Aufgaben selbstherrlich erfüllen und der Nation volle Eigenpersönlichkeit in der Welt sichern.

Aber hebt umgekehrt diese nationale Autonomie nicht die Einheit des Wirtschaftslebens auf? Spaltet sie nicht doch wieder die Menschheit? Scheitert dann nicht umgekehrt jenes grossartige welterlösende Streben, jenes hohe Ziel, das der Sozialismus sich setzt, das das Christentum verfehlt hat? Wenn die Nationale Autonomie auch die wirtschaftliche und soziale Trennung erzwänge, dann wäre sie für die Menschheit ebenso verderblich wie der nationale Chauvinismus!

Mehrere hundert Mann marschieren in einem Regiment, in einem Demonstrationszug. Sie sind eine volle Einheit, eine Union – bis auf den gleichen Schritt, bis auf jeden Ton des Marschliedes, das sie singen. Wenn sie miteinander in den Kampf ziehen, hören sie darum auf, jeder der Sohn eines anderen Vaters, das Glied einer anderen Familie zu sein? Ein Körper im Kampf, viele Körper in Familiensachen.

So können viele Menschen im wirtschaftlichen und sozialen Kampfe ein Körper, eine Union sein und doch daneben in sprachlichen Angelegenheiten Autonomie geniessen.

Sie können und – müssen es! Ein Fabrikant sperrt viele Dutzend, viele Hundert Menschen in eine Fabrik, sie stehen unter einem Herrn und werden einträchtig ausgebeutet, ohne Rücksicht darauf, welche Sprache sie sprechen. Die eine Fabriksmauer, der eine Fabriksherr erzwingt die Union in der Ausbeutung – also müssen die Sklaven jeder Werkstatt in einer Union sich verteidigen.

Die Stadt ist umschlossen von einer Verzehrungssteuerlinie, gleichmässig- bewuchert die Krämerschaft die Bewohner aller Zungen, gemeinsam nur können die Ausgewucherten sich wirksam verteidigen. Die Union ist ihnen diktiert von den Tatsachen.

In einem Kartell sind alle Eisenindustriellen verbunden, nur in einer Union können sich ihre Sklaven verteidigen!

Soweit ein modernes grosses Wirtschaftsgebiet durch eine Zollschranke und durch das gleiche Recht uniert ist, soweit ist auch die ganze Kapitalistenklasse uniert und zwingt der Arbeiterschaft im wirtschaftlichen und sozialen Kampfe die Union gebieterisch auf! Sich zu teilen, in der Werkstatt, in der Gemeinde, in der Branche sich zu spalten und national zu separieren, wäre Selbstverstümmelung, wäre Selbstmord.

Union also ist die volle unterschiedslose Einigung auf allen Stufen, die volle Einigung in jeder einzelnen Werkstatt, in jedem Betriebe, in jeder Branche, im ganzen Wirtschaftsgebiet, die volle Einigung im wirtschaftlichen Kampfe um die soziale Erlösung der Arbeiterklasse.

Diese Union ist wirtschaftlicher Zwang, sie erscheint vielen unter der Herrschaft des Kapitalismus als ein Uebel. Aber in Wahrheit ist diese innige Verbindung alles dessen, was Menschenantlitz trägt, das höchste Glück der Welt, das höchste Ziel des Menschengeistes. Höher als Selbstsucht ist Gemeinsinn, höher als ein Einzelvolk steht die Völkerfamilie, die Menschheit. Sie ist der einzige, wahre Souverän der Welt!

Warum soll ich den Bruder, der ausgebeutet wird und leidet wie ich, nicht lieben wie mich, wenn er eine andere Sprache spricht? Warum soll derjenige, der in der Arbeit mein Bruder ist, nicht auch mein Bruder sein am Feierabend, in der Stunde des Kampfes? Wenn wir uns in der Werkstatt verstehen müssen, weil der Ausbeuter es will, warum sollen wir uns nicht verstehen können, wenn es gilt, gegen ihn zu kämpfen? Die soziale Union ist nicht nur möglich, nicht nur notwendig, sie ist auch selbstverständlich, zweckmässig und gut!

Das ist der grosse Organisationsgedanke des Sozialismus: Wie keiner aufhört, seiner Familie anzugehören, wenn er im Maifestzug mitdemonstriert, so möge jeder in sprachlich-kulturellen Dingen mit seiner Nation einen Körper bilden – die nationale Autonomie – er gehört doch in der Werkstatt, in der Stadt, in seiner Branche, im ganzen Staat einer einheitlichen Organisation an, in der alle für einen und einer für alle einstehen im wirtschaftlichen und sozialen Kampf, der internationalen Union!

Gegen diese Doppelorganisation wendet sich in der letzten Zeit ein Teil der tschechischen Genossen. Sie wollen auch in Gewerkschaften und Genossenschaften die nationale Autonomie, sie wollen getrennte tschechische Organisationen, die, niemand als sich selbst verantwortlich, souverän beschliessen. Nur schwerer Schaden kann der tschechischen Arbeiterschaft wie dem gesamten Proletariat Oesterreichs aus der Spaltung der Gewerkschaften erwachsen. Wenn aber die Gewerkschaften national gespalten, keine mit der anderen organisch verbunden, jede für sich selbst verantwortlich, keine der anderen zur Hilfe verpflichtet, als wahre Souveräne einander gegenüberstehen – worin sind sie noch international? Freilich Sympathie wird der Arbeiter immer mit dem Arbeiter haben – die Internationalität würde also ein blosses Gefühl sein. Gefühlt haben die Arbeiter einer Werkstatt auch früher miteinander; das hat den Unternehmer nicht gehindert, sie zu unterdrücken. Sie haben gelernt, das Gefühl durch die gemeinsame Organisation zu stärken, für einander nicht nur zu fühlen, sondern auch zu kämpfen, zu zahlen und Opfer zu bringen. Dann erst waren sie stark. Für einander fühlen auch Kaiser Wilhelm und der Zar, zwei grosse Souveräne – das hindert sie nicht, gegeneinander zu rüsten. Die Internationalität kann kein blosses Gefühl sein, sie muss, wie Jaurès es ausgesprochen hat, „nicht bloss klingende Phrase, sondern lebendige Aktion, wirkliche und immer wache Macht sein“. Wirtschaftlich und sozial separiert wird das österreichische Proletariat zu Dantes vielköpfigem Ungeheuer und viele Stürme und Verluste, viele Schiffbrüche werden es heimsuchen!

Das hohe Doppelziel Liebknechts, für das auch jeder andere Sozialist gelobt hat zu kämpfen, solange noch ein Hauch in ihm ist, kann nur erfüllt werden in einer Doppelorganisation, deren eine Form die nationale Autonomie, deren andere die volle wirtschaftlichsoziale Union von der Werkstatt und der Ortsgruppe bis zum geschlossenen Wirtschafts- und Rechtsgebiet herstellt. Und bald darüber hinaus! Die Zeit kommt und ist vielleicht nicht allzufern, wo die gewerkschaftlichen Branchen über Staatsgrenzen hinweg zu Weltunionen sich zusammenfassen–je eher, desto besser für das Proletariat! Die nationale Autonomie kann diesem Fluge nicht folgen, sie beschränkt sich auf jene, welche dieselbe Sprache sprechen. Die zweifache Organisation tritt dort nicht in Erscheinung, wo Nation und Wirtschaftsgebiet zusammenfällt wie im Nationalstaat, aber sie kann und muss dort Platz greifen, wo heute schon in einem grossen Staats- und Wirtschaftsgebiet viele Nationen zusammenwohnen, wie im Nationalitätenstaat, wie in Oesterreich-Ungarn insbesondere; sie stellt sich geschichtlich dar einerseits als die Läuterung und Erfüllung des Nationalitätsprinzips, dessen Loslösung von der gefährlichen Fälschung durch den kapitalistischen Staat, anderseits als die Vorbereitung für die internationale Einswerdung der Menschheit. Die nationale Autonomie verwirft also das Prinzip der Souveränität, der absoluten Herrschaft und Isolierung, sie bedingt eine Doppelorganisation, „eine für die Aufgaben der sprachlichen Kultur, nach Nationen, wobei das Personalitätsprinzip einzutreten hätte, und eine für die Aufgaben der technischen Kultur, die rein territorial aufzubauen wäre“. [5] Die nationale Autonomie erfordert als Ergänzung die territoriale Union in wirtschaftlichen und sozialen Dingen, die nationale Selbstregierung schliesst also nicht aus, sondern gebietet die volle Internationalität der wirtschaftlichen und sozialen Aktion: Die

Menschen reden in verschiedenen Zungen, aber ihre Hände arbeiten an den gleichen Maschinen, sie verzehren die Produkte der ganzen Welt, den Kaffee der Tropen, den Weizen Argentiniens, sie kleiden sich in die Baumwolle Amerikas, Asiens und Afrikas und der Ruf oder Zwang des Kapitals führt sie weit übers Meer zusammen in dieselbe Kohlengrube, auf dieselbe Plantage!

Insbesondere aber muss das Proletariat aller Zungen im kleinen wie im grossen eins sein in der sozialen Aktion! In derselben Werkstätte in Brünn und Pilsen und Wien und beinahe überall stehen deutsche und tschechische Arbeiter gegen denselben Kapitalisten! In den Skodawerken in Böhmen und in Donnawitz in Steiermark stehen die Arbeiter demselben Eisenkartell gegenüber! In Böhmen und in Tirol vereinigen sie sich in Konsumvereinen gegen denselben Agrarismus. Selbst über alle Länder und Meere hinweg dieselbe Solidarität der Interessen: Oesterreichische, deutsche, französische Arbeiter empfangen jeden Samstag ein Geldstück als Lohn, das deshalb entwertet wird, das sie allesamt deshalb betrügt und verkürzt, weil billige Negerarbeit in Transvaal das Gold entwertet – sie haben das Interesse, dass der Neger so entlohnt werde wie sie! Und nicht ohne Grund haben die Sozialistenkongresse darum von den teilnahms-berechtigten Mitgliedern nicht nur das Bekenntnis internationaler Gesinnung, sondern auch die Verpflichtung zu internationaler Aktion gefordert.

Nationale Autonomie – soziale Union! Das ist die Formel, die das Proletariat an Stelle des alten Nationalitätsprinzips, an Stelle des neueren nationalen Imperialismus, an Stelle der Souveränitätsfiktion der Kapitalistenklasse setzt. Diese Formel, getragen von dem machtvollen Willen des Proletariats, wird bei den Neugestaltungen der Welt, denen wir entgegengehen, wird insbesondere am Tage unseres Sieges Bedeutung für Europa gewinnen. „Dasselbe Problem, das heute für die Gestaltung Oesterreichs gilt, wird dann für die Gestaltung dieses neuen Gemeinwesens auftauchen: Die Doppelorganisation nach Nationen und nach Wirtschaftsgebieten wird eine glückliche Lösung auch dieses neuen Problems bilden. In dieser Beziehung vermag Oesterreich noch vorbildlich zu werden: alle Ideen, welche die sozialistischen Denker Oesterreichs darüber zutage fördern, alle Erfahrungen, welche die proletarischen Organisationen Oesterreichs darüber sammeln – sie alle werden die Neubildung von ganz Europa, ja des ganzen Kreises europäischer Kultur befruchten.“ [6]

Eine stolze Aufgabe ist uns Oesterreichern damit von der Internationale des Proletariats gestellt. Sie muss uns befeuern, sie muss uns aber auch mit dem Gefühl höchster Verantwortung erfüllen. Beinahe alle Widersprüche der Welt hat das Geschick in diesem Lande gehäuft und uns mit der Organisation dieser Welt im kleinen betraut, auf dass wir lernen und die Genossen aller Länder lehren, wie die Welt im grossen neuzuorganisieren sei. Kapitalismus und Nationalismus haben die Welt desorganisiert, die Ordnung der Welt zum Problem gemacht. Kein geringerer als Kant [7] hat die Erreichung einer internationalen Organisation der Kulturnationen als das grösste Problem für die Menschengattung bezeichnet, zu dessen Ausführung uns die Natur zwinge. Dieses Problem hat unser Pariser Kongress den Arbeitern der ganzen bewohnten Erde gestellt und mit Freuden haben sie die Idee ergriffen. Zwanzig Jahre nach Paris huldigen von den Schneefeldern Sibiriens bis zur Goldküste Afrikas, vom Lande der Mitternachtssonne bis zum Kap der Guten Hoffnung an diesem Ersten Mai der Idee der Völkerverbrüderung und Völkerfreiheit, der nationalen Befreiung und der internationalen Aktion, der sozialen Union der Massen. Unauslöschbar steht in den Herzen des Proletariats die Heilsbotschaft des Kommunistischen Manifests, der internationalen Arbeiterassoziation und des Pariser Kongresses geschrieben: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Keine Macht der Welt wird sie aus ihren Herzen reissen. Auf diesem unzerstörbaren Grunde wird eine neue Welt erstehen: die Welt der Arbeit und des Friedens!

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Anmerkungen

1. Der Hochverratsprozess wider Liebknecht, Bebel, Hepner vor dem Schwurgericht in Leipzig vom 11. bis 26. März 1872, Berlin 1894, Seite 77.

2. Ebenda, Seite 257.

3. Ebenda, Seite 262.

4. Deutsche und Tschechen arbeiten nicht nur in den Skodawerken in Pilsen, sondern auch in den Kohlengruben von Pennsylvanien in Amerika zusammen.

5. Karl Kautsky, Nationalität und Internationalität, Seite 35.

6. Kautsky, ebenda, Seite 36.

7. Kant, Zum ewigen Frieden. Vergleiche Walter Schücking, Die Organisation der Welt. Leipzig 1909.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024