Karl Renner

Drei Parteitage

(1. September 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 12, 1. September 1909, S. 529–535.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In diesem Monat September halten drei Bruderparteien ihre Tagung ab: die deutsche Sozialdemokratie in Oesterreich, die deutsche Sozialdemokratie im Reiche und die tschechische Sozialdemokratie. Alle drei werden an dem Ausbau ihrer autonomen Organisation, an der Klärung ihrer autonomen Taktik und zugleich an der Befestigung ihrer gemeinsamen Beziehungen fortarbeiten, das Gewicht ihrer Verhandlungen und die Bedeutung ihrer Beschlüsse werden sie denkwürdig machen wie alle vorangegangenen Tagungen. Was aber alle drei Parteitage auszeichnet, ist die besondere Stimmung, die sie beherrscht. Niederreiten wollte die Bülowsche Blockmehrheit unsere deutschen Genossen: der Block ist geborsten und hat unter sich seinen Schöpfer begraben. Einkreisen wollten die bürgerlichen Parteien aller Nationen unter Gessmanns Führung uns alle, die deutschen, tschechischen und übrigen Sozialdemokraten Oesterreichs: der Kreisring ist zerbrochen und bitterer denn je befehden sich die bürgerlichen National Parteien, das neue Parlament, welches als Instrument der Vernichtung unserer Partei den Gessmännern aller Zungen nach ihrem Wunsche hätte dienen sollen, ist selbst durch ihren Zwist lahmgelegt, jene Wählerschichten, deren Interesse und politisches Bekenntnis leicht schwankt, die da im Reiche und bei uns von dem einkreisenden Block eine Wiederbelebung der bürgerlichen Politik und fruchtbare Gesetzesarbeit erwarten mochten, wenden sich enttäuscht von dem sterilen Wirrwarr der Blockillusion ab und der einzigen Partei zu, die schnurgerade und ohne Wanken, selbstbewusst und ohne Nachgiebigkeit gegen wandelnde Stimmungen der Bevölkerung den Weg der sozialen Entwicklung fortschreitet.

Neben dieser gemeinsamen Freude, der wir uns mit Recht hingeben können, treten allerdings die Unterschiede in den Kampfbedingungen der drei Bruderparteien grell hervor. Dieselbe Idee müht sich da und dort an anderem Stoffe und so mag der oberflächliche Blick an den drei Parteien den gleichen bewegenden Geist nicht mehr erkennen.

Glücklich der französische, englische und italienische Genosse, dem der Boden des Klassenkampfes in seinem Staate und seiner Nation sich rein darstellt. Kautsky hat jüngst [1] den Nationalstaat als die Voraussetzung des wirksamen Klassenkampfes bezeichnet. Das sagt vor allem, dass der Widerstreit der wirtschaftlichen Interessen und Klassen sich dort in durchsichtiger Klarheit darstellt, wo sowohl der Staat nur einer Nation gehört, als auch diese eine Nation selbst und direkt die souveräne, den Staat beherrschende Macht ist. Der Franzose, der Engländer, der Italiener bestimmt in seinem Parlament und durch dieses die Geschicke seiner Nation selbst und so werden diese auch durch die sozialdemokratische Opposition direkt beeinflusst. Dynastie, Bureaukratie, Diplomatie und Heer sind dort blosse Mittel in der Hand der herrschenden Klasse geworden. Nicht so bei uns, bei den Reichsdeutschen und Oesterreichern. Hier überwiegt selbst bei dem grössten Teile der herrschenden Klassen – ein Zeichen ihrer politischen Unreife und Zerrissenheit – die Vorstellung, der Staat gehöre nicht der Nation oder den Nationen, sondern dem Hause Hohenzollern oder Habsburg; die Staatsgewalt sei am besten aufgehoben dort in den Händen der Junker, bei uns in den Händen der k. k. Bureaukratie. Da und dort ist die Staatsgewalt nicht einmal völlig losgelöst von der Umklammerung der Kirchen und die römische Kurie regiert offen oder verborgen mit. Da und dort ist der Staat nur ein unvollständiger Notbau über den alten landesfürstlichen Territorialstaaten. Der König von Bayern, der Grossherzog von Baden lebt in der deutschen Verfassung ebenso leiblich fort wie bei uns der König von Böhmen und der gefürstete Graf von Tirol rechtlich. Auf der ganzen Erde ist nur ein Fleck übrig geblieben, auf dem die ständische Landesgliederung fortbesteht, das Gebiet von Deutschland und Oesterreich-Ungarn. Hier wimmelt es noch von Königen, Gross- und Erzherzogen, Fürsten, Markgrafen, Herzogen, gefürsteten Grafen etc., wobei es rechtlich nicht gar zu viel ausmacht, dass sie in Deutschland als gesonderte Familien, in Oesterreich als eine Familie in Erscheinung treten. Im Gegenteil: das Deutsche Reich mit seinen vielen Dynasten ist mehr zur Einheit geworden als die österreichischen und ungarischen Kronländer trotz der einen Dynastie. In diesem mitteleuropäischen Himmelsstrich hat der Staat weder die Länder, noch die Kirchen, haben die Nationen weder die Dynastien, noch ihre Bureaukratien verdaut. Und so ist den drei Bruderparteien das schwere Los gefallen, sich mit staatsrechtlichen, konfessionellen, partikularistischen und dynastischen Absonderlichkeiten herumzuschlagen, die noch dazu für jede Partei und in jedem Staate andere sind, die jedoch für alle das gleiche Hemmnis darstellen.

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Der reichsdeutsche Parteitag wird den Nachlass der Aera Bülow liquidieren. Der überraschende Wahlsieg im zweiten pfälzischen Wahlkreis ist für ihn von guter Vorbedeutung, er bricht den Bann des zweiflerischen, selbstquälerischen Missmutes in einigen Kreisen der Genossen, welche von den Mandatsverlusten der letzten Wahlen über Gebühr betroffen wurden und dem Gerede von der Unfruchtbarkeit der alten Taktik zu viel Bedeutung beimassen. Das, worin die Lage der reichsdeutschen Sozialdemokratie von der unseren so sehr abweicht, geht auf zwei Umstände zurück. Sie steht einerseits einer dem Proletariat gegenüber starken, seit Sedan mit unerhörter Autorität umkleideten Staatsmacht gegenüber, die es sich leisten kann, die Bourgeoisie selbst politisch zu bagatellisieren. Die Bourgeoisie andererseits, die politisch machtlos und den Junkern tributpflichtig ist, tritt dennoch zugleich wirtschaftlich mit gewaltiger Kraft und in starker Einmütigkeit dem Proletariat gegenüber: Sie darf ökonomisch als herrschende Klasse sich um so schrankenloser gegen das Proletariat austoben, je dienstwilliger sie dem Kaiser und den Junkern auf dem Boden der Politik sich unterwirft. Im nationalen Imperialismus haben sich, wenigstens auf Zeit, Gross- und Kleinbürger, grosser und kleiner Landwirt geeinigt, der Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft ist auf der Basis der gegenseitigen Garantie hoher Schutzzölle für beide auf Kosten des Proletariats ausgeglichen. Diesem ökonomischen Ausgleich, der Bülows Werk ist, entsprach ja auch die Idee, Liberalismus und Konservatismus politisch zu paaren. In diesem System war kein Raum für irgend einen parlamentarischen Einfluss des Proletariats, für sozialpolitische Gesetzgebung.

Auf dem Boden des deutschen Reichstages hätte die deutsche Sozialdemokratie nur Macht gewinnen können durch die Kontrolle der Verwaltung. Die staatliche Verwaltung aber untersteht in der Ueberzahl der Geschäfte nicht dem Reich, sondern den einzelnen Bundesstaaten. Der Reichstag ist in seiner Kompetenz nur ein Stück eines Parlaments und mit dem französischen oder englischen Unterhaus gar nicht vergleichbar. Führen doch die Regierungen der Einzelstaaten, bloss den Landtagen verantwortlich, die wirtschaftliche, kulturelle und politische Verwaltung der deutschen Nation und in den meisten dieser Landtage ist das Proletariat gar nicht oder nicht ausreichend vertreten! Der Reichstag ist darum blutleer, verhandelt in vielen Angelegenheiten beinahe bloss akademisch und bleibt darum auch für das Bürgertum politisch unfruchtbar. Um so mehr für das Proletariat! Man vergleiche in dieser Beziehung nur einmal unser gewiss armes Parlament mit dem deutschen Reichstag: Bei uns kommen in der Budgetdebatte beinahe alle noch so geringfügigen Affären der Verwaltung zur Sprache. Jede Staatsdienerkategorie, jede Schulfrage, jeder behördliche Missbrauch, jeder Strassenbau,

Lokalbahnen, jede Richterbesetzung etc. Der deutsche Reichstag hat allerdings eine weite, gesetzgeberische Kompetenz, aber in der Kontrolle der Verwaltung greift er nicht viel über den Wirkungskreis unserer Delegationen hinaus.

Da die Staatsgewalt im Deutschen Reich auf einen Kaiser und auf ein viertel-hundert Regierungen, auf einen halbakademischen Reichstag und ein viertelhundert reaktionäre Landtage zersplittert ist, so findet die deutsche Nation selbst für ihren politischen Willen keinen einheitlichen Ausdruck, sie hat im Rate der Völker keine direkte Stimme, ist selbst die deutsche Bourgeoisie politisch nicht selbstbewusst, nicht mündig, nicht ihr eigener Herr. Darum erscheint es als verwunderliche Kritiklosigkeit, vom deutschen Proletariat zu verlangen, was nicht einmal der noch herrschenden Bourgeoisie gelingt: das politische Leben Deutschlands entscheidend zu beeinflussen! Es bleibt der deutschen Sozialdemokratie unter diesen Umständen nicht viel mehr übrig als der wiederholte Appell von diesem Reichstag an die Massen der Nation, von diesem sonderbaren Reich, von „Kaiser und Reich“ an das Volk. – Die Kritik dieser Regierungen und dieser Verfassung, die Aufbietung der politisch so vielfältig beherrschten und ökonomisch so einmütig von Agrariern und Industriellen ausgebeuteten Massen gegen das System des Imperialismus, das die ganze Steuerkraft der Nation auf Rüstungen zu Wasser und zu Lande verschwendet, dadurch die deutsche Nation selbst allen Volkern als Störefried erscheinen lässt und in Kriegsgefahr stürzt, diese Parole wird jetzt durchschlagen. Denn es zeigt sich, dass der Katzenjammer nach dem Block-, Kolonial- und Flottenrausch früher als erwartet gekommen ist: „Die Erhebung des nationalen Geistes“ endigt mit unerträglichem Steuerdruck und mit der Zentrumsknechtschaft und die „Niedergerittenen“ der letzten Wahlen werden in hellen Scharen wieder in den Reichstag einziehen.

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Ganz anders stellen sich die Machtverhältnisse dar, unter denen wir in Oesterreich kämpfen, ganz anders die Staatsgewalt, die wirtschaftlichen Klassen und die nationale Politik. Wir haben wohl eine einheitliche Staatsgewalt, aber sie leitet ihre Autorität nicht von einem Sedan her; sie hat seit Solferino und Königgrätz, seit der Lostrennung Ungarns, seit Taaffe und Badeni vor den acht Nationen als notwendiges Uebel ihr Dasein gefristet, da ja doch eine Polizei die ehrsame Bürgerschaft vor Dieben schützen, die Richterschaft in Rechtsstreitigkeiten urteilen und jede Subvention auch ausgezahlt werden muss. Das so ungefähr der Aufgabenkreis, den Bienerth korrekt zu verwalten sich rühmt. Wir kochen mit Wasser, politische Ziele hat unsere Staatsgewalt nicht. Nationale kann sie nicht haben, da ja acht Nationen unter ihr wohnen und hadern. Neben der einheitlichen Staatsgewalt haben wir keine einheitliche Bourgeoisie, sondern acht nationale Bourgeoisien, die sich völlig von der reichsdeutschen unterscheiden. Diese ist politisch zerrissen, die deutsche Nation des Reiches hat es nicht zu irgend einem starken Ausdruck ihrer selbst gebracht, sie entscheidet nicht souverän ihr eigenes Schicksal; bei uns dagegen ist jede einzelne Bourgeoisie politisch und national beinahe geschlossen, jede im höchsten Grade selbstbewusst, geradezu überempfindlich in allen Fragen der nationalen Ehre und Selbstbestimmung. Jede nationale Bourgeoisie ist bereit zu Hoch-, Staats- und Landesverrat, sobald sie sich in ihrer nationalen Ehre gekränkt zu sein einbildet oder aus solchem Vorgehen sich nationalen Vorteil verspricht, ebenso geneigt aber zu serviler Ergebenheit an Dynastie und Regierung, wenn diese ihr gewogen zu sein nur vorgeben! Diese zynische nationale Demagogie, die zwischen Hochverrat und Byzantinismus schwankt, hat zum Schluss alles politische Leben in ein Chaos verwandelt.

Keine der acht Nationen hat einen Staat, ihren Staat als Ausdruck ihrer gesonderten Existenz. Eine Staatsmaschinerie soll acht Völkern dienen. Aber kein Volk hat an ihr einen bestimmten, abgemessenen Anteil: Was jedes zu ergreifen und festzuhalten versteht, besitzt es. Jede Steuerkrone fällt in einen allgemeinen Sack, aus dem ihn diejenige Nation holt, die gerade zuzugreifen das Geschick hat. Das, was man sonst Staat und die sichtbare Verkörperung einer Nation nennt, ist hier ein Objekt allgemeinen Unwillens, soweit es Geld und Leistungen – unbestimmt für wen – fordert, und ein Objekt allgemeiner Plünderung, sobald Geld und Leistungen verwendet werden sollen. In diesem Wettstreit war die österreichische Staatsgewalt daran, allmählich unterzugehen, bis das österreichische Proletariat im Wahlrechtskampfe sich Beachtung erzwang und im Parlament des allgemeinen Wahlrechtes die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze sich mächtig durchrangen, bis das Werk der Wahlreform dem Staat wieder Autorität und Macht gab.

Seither hat das politische Leben den doppelten Charakter: Der ungelöste Kampf der Nationen um den Staat erhält den alten Widerstreit der nationalen Bourgeoisien, zugleich aber stossen die Klasseninteressen des Proletariats und der Bourgeoisie, die feindlichen Gegensätze von Industriepolitik und Agrarismus gevzaltig aufeinander. Hochernste wirtschaftspolitische und soziale Abstimmungen, wie die über die Getreidezölle, über die Handelsverträge, wechseln mit dem alten nationalen Radau ab. Das Volkshaus verfällt aus der höchsten Würde parlamentarischer Beratung und Abstimmung in den würdelosesten Krakeel. Und so wechselt auch in der Volksstimmung die Hoffnung auf das Haus des allgemeinen Wahlrechtes mit der bittersten Enttäuschung.

Wir österreichischen Sozialdemokraten haben unter dieser zeitweiligen Enttäuschung selbst gelitten. Aber diese Missstimmung weicht mit der Erkenntnis ihrer Ursachen. Geordnete Verfassungsverhältnisse sind die Voraussetzung der reinen unverfälschten parlamentarischen Klassenkämpfe. So wie die deutsche Sozialdemokratie in dem halbakademischen Reichstag und dem viertelhundert ihr halb oder ganz verschlossenen Landtagen sich schwer abmüht und doch nie das erreicht, was der französischen ihre Kammer so leicht ermöglicht, die volle, allseitige und geschlossene Einwirkung auf den ganzen Körper und Geist ihrer Nation, die unmittelbare Beeinflussung der Gesamtpolitik, so ist uns unsere Verfassung ein ständiges Hindernis der Betätigung. Mühsam wälzen wir den Block der Altersversicherung den steilen Berg hinan, schon glauben wir oben zu sein – da wälzt uns irgend ein Streitfall der ungelösten nationalen Verfassungsfragen einen Stein entgegen, der alles mit in die Tiefe reisst, und wir müssen von vorn anfangen. Kommt die deutsche Nation im Reich und mit ihr auch die deutsche Sozialdemokratie in dem ohnmächtigen Teilparlament des Reichstages nicht zur vollen Geltung, so kommt das österreichische Proletariat nicht zur wirksamen Klassenvertretung der Arbeiterschaft in einem Parlament, das zugleich die Nationalvertretung von acht hadernden Nationen ist, und in einem Staate, der zugleich den Staat keiner Nation und aller Nationen darstellt. Immer wieder werden wir daran erinnert, dass unser Gegenwartsprogramm seit Brünn sowohl das allgemeine Wahlrecht als auch die nationale Autonomie umfasst. Zerfällt die eine deutsche Nation im Reich widersinnigerweise in viele Königreiche und Länder, so muss der österreichische Staat, der vielen Nationen eine Heimstatt sein soll, vernünftigerweise jeder Nation einen gesetzlich gesicherten staatlichen Wirkungskreis, den verfassungsrechtlich streng umschriebenen Einfluss auf Amt und Schule gewähren, damit jeder das Seine in Frieden geniesse und in gemeinsamer Beratung nur das erledigt werde, was allen gemeinsam ist, die wirtschaftliche, soziale und politische Gesetzgebung und Verwaltung.

Die nationale Selbstregierung muss vorerst zur Wahrheit werden, bevor unser sozialer Kampf rein und voll zur Geltung kommen kann! Das gilt für die Deutschen im Reich sowohl wie für die deutschen und für die tschechischen Sozialdemokraten in Oesterreich, wenn auch für jeden in anderer Weise. Der reichsdeutsche Parteitag wird seine Aufgabe erfüllen, wenn er der Junkerschaft, dem schwarzen Block, der Reichsregierung und den reaktionären Landtagen den erneuten Krieg ansagt, wir aber haben, jeder für uns, deutsche und tschechische Sozialdemokraten, unseren nationalen Bourgeoisien im Namen der Selbstregierung der Nation entgegenzutreten und den Kampf gegen den zügellosen, jede soziale Arbeit verhindernden und vernichtenden nationalen Chauvinismus zu führen.

Wir führen den Kampf durch die Kritik, indem wir die Verwüstungen dieses Chauvinismus aufzeigen, wir führen ihn positiv, indem wir die verfassungsrechtliche Regelung der nationalen Machtverhältnisse fordern. Unser nationales Programm allein ist für die Nationen fruchtbar, es ist allein imstande, ihnen das volle Recht auf ihre Aemter und Schulen zu geben und sie kampflos zu stellen. Die nationale Autonomie ist nicht nur der Friede, es ist auch der gesicherte Genuss des nationalen Rechtes. Davon vor allem haben wir die Volksmassen, die der marktschreierische Nationalismus zu verwirren sucht, zu überzeugen.

Wir deutschen Sozialdemokraten sehen wieder einmal unsere Bourgeoisie mit klingendem „Gott erhalte“ in das Lager der k. k. Regierung marschieren. Binnen zwei Jahren hat sie ihren Zyklus vom Hochverrat zum Byzantinismus durchmessen. Die alte Selbsttäuschung: der Habsburgerstaat könne ein deutscher Staat sein, lässt sie hoffen, sie brauchten die nationale Autonomie, ihr besonderes Nationsrecht nicht. Und so ist ihnen das Wiener Ministerium mehr als ihr eigenes Recht, so ist ihnen Bienerth für die Nation. Und doch zittern sie schon, morgen könnte das System umschlagen und sie aus ihrem eingebildeten Himmel werfen! Diese Herren lernen nichts aus der Geschichte: Auf das deutsche Bürgerministerium folgte Potocki, auf Auersperg Taaffe, auf Windischgrätz Badeni. Kein österreichisches Ministerium hält den Deutschen Treue – weil es das nicht kann. Zwischen nationaler Vorherrschaft und Ohnmacht hin- und hergerissen, haben die Deutschen wieder vergessen, was sie im Pfingstprogramm sich geschworen: Wir bestellen nur unser eigenes Haus! Heute bestellen sie zur Abwechslung wieder das Haus Habsburg – um morgen sich vielleicht wieder dem Haus Hohenzollern anzubieten! Dieser unmännlichen, bedientenhaften Schaukelpolitik gegenüber beharren wir Sozialdemokraten nationalpolitisch auf unserer Devise: Nicht dem Hause Habsburg, nicht dem Staate, nicht der Regierung, sondern der Nation zu dienen; wir wollen für unsere Nation das eigene Haus und gönnen jeder anderen das ihre! Unsere nationalen Angelegenheiten soll weder die Regierung noch eine Kronlandsmehrheit beeinflussen, sondern in Gemeinde, Kreis und Nationsvertretung die Nation selbst führen. Der deutsche Arbeiter wird uns verstehen. Unter dieser Parole werden wir den verlogenen Chauvinismus unserer Bourgeoisie besiegen.

Völlig anders sind unsere tschechischen Genossen gestellt. Ihre Bourgeoisie ist jetzt gerade am anderen Ende des Zyklus. Vor zwei Jahren waren ihre Hochverräter Exzellenzen geworden, heute sind ihre Exzellenzen in der Union mit Hochverrätern. Die tschechische Bourgeoisie ist aus dem kalten Himmel der Regierung in die heisse Hölle der Obstruktion gestürzt. Diese leidenschaftliche Nation ist durch die Schaukelpolitik der Regierungen abwechselnd in eiskaltes Wasser und in höllisches Feuer geworfen worden und dabei völlig besinnungslos geworden. Uns anderen fehlt jeder Massstab für die Hohlheit und Leidenschaft der Agitation des tschechischen Nationalismus, aber jene Schaukelpolitik lässt sie begreifen. Kein Wunder, dass alle Narren losgebunden sind! Wieweit die politische Zersetzung dieser Bourgeoisie vorgeschritten sein muss, lehrt ein Symptom: Choc und Genossen sprengen mit Pauken und Tschinellen das Volkshaus; unmittelbar nachher werden die Chocleute des Hochverrates angeklagt und prozessiert, zugleich findet eine Nachwahl statt, der Chocmann wird gewählt und der Gewählte (Abgeordneter Schwiha) ist ein – k. k. Bezirksrichter!

Es hat eine Zeit gegeben, in der die tschechische Politik einem festen, sicheren, realen Ziele zustrebte: die Zeit, als Palacky in Kremsier die nationale Autonomie vertrat. Damals war das Recht der Nation ihr Inhalt. Seitdem ist dieses Recht durch zweierlei Staatsrecht vertauscht worden, zwischen denen die tschechische Bourgeoisie bis heute in fehlerhaftem Zirkel einherirrt. Bald huldigt sie dem österreichischen Staatsrecht, will durch k. k. Minister ganz Oesterreich beherrschen und im Bunde mit allen anderen Slawen das slawische Oesterreich konstruieren. Sobald und weil sie darin bald wieder scheitert, zieht sie sich schreiend auf das Staatsrecht des Königreichs Böhmen zurück und will sich begnügen, wenigstens Deutschböhmen zu unterwerfen, um den Preis der Aufopferung der anderen Kronländer, wo Tschechen wohnen. Zwischen einer Utopie der Zukunft: einem slawischen Gesamtösterreich, und der Utopie der Vergangenheit: dem tschechischen Wenzelsreich umhergeschlagen, hat sie die Besinnung auf das Wirkliche und Mögliche eingebüsst. Alle ihre Tugenden und Fehler verkörpern sich in dem Romantiker Kramař. In der völligen Geistesverwirrung ihrer Nation, in der absoluten Zerfahrenheit der nationalen Politik haben unsere tschechischen Genossen augenblicklich vielleicht die schwierigste Aufgabe in der Internationale, ihre Nation aus dem Wirrsal falscher Staatsrechte herauszuführen auf den geraden Weg des Volksrechtes: Nicht das Staatsrecht des Reiches noch jenes eines Landes, sondern die verfassungsrechtliche Organisation der Nation als der lebendigen Gemeinschaft aller Nationsgenossen, die alte Palackysche Idee wird die politische und geistige Gesundung der tschechischen Nation bewirken und ihr Vorkämpfer ist und bleibt der tschechische Arbeiter, der Erbe von Tabor und der böhmischen Brüder!

Auf beiden autonomen Parteitagen Oesterreichs wird jede nationale Sozialdemokratie für sich mit ihrem Bürgertum abrechnen, die deutsche als Opposition mit Regierungsparteien, die tschechische als Opposition mit der Obstruktion. Wie verschieden die Stellung sei, ein Geist wird beide beherrschen und mit gleichem Ernst werden beide das Problem erfassen: Uns den Boden für den reinen Klassenkampf zu sichern. Das sind die Lehren der Krisis: Unsere Greise sollen fürderhin betteln gehen, weil die nationalen Bourgeoisien sich nicht vertragen! Das Volkshaus soll unfruchtbar bleiben, weil die nationalen Bourgeoisien den Weg zum Frieden nicht finden. Die Bureaukratie, die Kamarilla soll die Volksvertretung beliebig massregeln, weil die nationalen Bourgeoisien zu regieren nicht verstehen. Und in letzter Linie: Das Recht der Völker Oesterreichs soll durch den Absolutismus ersetzt werden, da die Völker es selbst nicht finden! Genosse Bauer hat recht [2], wenn er findet, das politische Problem Oesterreichs spitze sich zu zu dem Dilemma: „Nationale Verständigung und Geschäftsordnungsreform durch das Parlament selbst oder bureaukratisches Oktroi! Sollen die nach einer Lösung drängenden Probleme demokratisch durch das Parlament oder bureaukratisch durch die Regierung geregelt werden?“ Wir beide, deutsche und tschechische Sozialdemokraten, haben unserem Volke selbst das Dilemma zu stellen: Wollt ihr mit uns das nationale Selbstbestimmungsrecht begründen oder wollt ihr mit bedenkenlosen Hetzern im Kampfe aller gegen alle die Macht und Entscheidung der k. k. Regierung in die Hand spielen und so die Rechtlosigkeit aller mit der Allmacht der Regierung krönen? Tatsächlich ist es so, dass die Völker Oesterreichs am Scheidewege stehen. Die Krone und die Staatsgewalt haben anlässlich der auswärtigen Verwicklungen das alte Machtbewusstsein wiedergefunden, sie brennen darnach, „den Völkern den Herrn zu zeigen“! Nun ist das Wort an den Völkern! Unsere Stimme darf und wird nicht fehlen! Auch das Parlament steht vor seiner Schicksalsstunde: Ob das junge Volkshaus zu einem machtvollen Parlament wird gleich der Kammer der Weststaaten oder zurücksinkt auf das Niveau einer halbakademischen Vertretung.

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So vielgestaltig sind die Tatsachen, mit denen sich die drei demselben Ziele zustrebenden Parteien, die Genossen des Reiches, die deutschen und die tschechischen Genossen Oesterreichs, auseinanderzusetzen haben, weil jede derselben der besonderen staatlichen und nationalen Misere ausgesetzt ist. Ueber sie hinaus hebt uns freilich geistig und moralisch die grosse gemeinsame Aufgabe, der Kampf gegen den alleuropäischen Kapitalismus, der heute mehr als je in der Gestalt des staatlichen Imperialismus wehrhaft geworden ist, der damit die auswärtige Politik beschritten, durch wahnsinnige, alles Vorausgegangene überbietende Rüstungen für Heer und Marine die Leistungsfähigkeit der Massen erschöpft und kaum mehr für soziale und kulturelle Reformen Raum gelassen hat. Schon in den vier letzten Jahrzehnten des Friedens glich Europa einem starrenden Waffenlager, es war das schlafende Entsetzen und Verderben. Mit Grauen müssen wir daran zu glauben beginnen, dass der Wahnwitz des alleuropäischen Imperialismus darangeht, dieses schlafende Entsetzen und Verderben zu wecken, die lagernden Waffen in Bewegung zu setzen und die Furie des Völkermordes zu entfesseln. Mehr als je müssen wir auf der Hut sein: Rüsten die anderen die Werkzeuge des Mordes, so müssen wir das Werkzeug der Eintracht rüsten, unsere Organisationen! In den grossen Entscheidungen der nächsten Epoche müssen die Arbeiterbataillone Europas stark und marschbereit sein. Noch können wir nicht absehen, wie die Dinge sich wenden: Aber wie ein Militär gesagt: „Bereit sein ist alles,“ so müssen wir daran festhalten: Organisiert sein ist das erste! So steht die innere Parteiarbeit, der Ausbau der Organisation, mit gleichem Recht neben den grossen Fragen der äusseren und inneren Parteipolitik auf der Tagesordnung. Die drei Parteitage werden die innigste Gemeinschaft der Sozialdemokratie Deutschlands und Oesterreichs offenbaren, der sich anschliessende Verbriiderungstag italienischer und österreichischer Genossen in Ancona wird den Kreis der mitteleuropäischen Internationale schliessen: Es wird ein Herbst reicher Ernte, eine viel verheissende Wintersaat!

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Fussnoten

1. In dem Aufsatz über die nationalen Aufgaben der Sozialisten unter den Balkanslawen, Kampf II., Seite 105 ff.

2. Die Lehren des Zusammenbruches, oben, Seite 484.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024