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Der Kampf, Jahrgang 2 1. Heft, 1. Oktober 1908, S. 5–10.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Mit unseren guten alten Feinden, den Christlichsozialen, haben wir es bei den diesmaligen Landtagswahlen in Niederösterreich wieder zu tun und fast allein zu tun. Die österreichische Arbeiterschaft schlägt sich bei den Reichsratswahlen in siebzehn Kronländern mit etwa zwei Dutzend Parteien. Das verwirrt, das macht beinahe nervös. Bei diesen Landtagswahlen können wir mit erlöstem Aufatmen rufen: Endlich allein mit unserem intimsten Feind!
Alter Hass rostet weniger als alte Liebe und so begrüssen wir auf dem Kampfplatz Gessmann und seine Leute mit dem Grusse: Wir bleiben die Alten. Wir sind dieselben wie 1889 in Hainfeld, wie 1893 beim denkwürdig grossen Maigang, wie 1896, als Lueger um seine Bestätigung als Bürgermeister rang, wie bei den Wahlen von 1897 und 1901. Dieselben im Wesen, nur stärker. Aber die Christlichsozialen sind dieselben nicht mehr. Ihr Wachstum ist zugleich Wesensänderung gewesen und so haben sich auch unsere Kampfmethoden gegen sie stets geändert und noch zu ändern.
Als die österreichische Arbeiterschaft in Hainfeld den Wahlrechtskampf proklamierte, hielt noch Plener im Parlament seine saffianledernen Reden im Namen des deutschen Volkes, Matzenauer repräsentierte dort die Stadt Wien und wer da innerhalb der festen Wälle der Kurien vom Wahlrecht sprach, ward überlegen behohnlächelt als gutmeinender Utopist. Kein Wunder, dass die Massen draussen mit Schadenfreude zusahen, wie sich hinter den Kurienwällen, mitten unter den Privilegierten ein Wiener Advokat auftat und weidlich auf die Steifleinernen seinen Spott ausgoss.
Die Arbeiter vergnügten sich über Lueger, aber irregemacht hat er sie nicht.
In dieser Rolle ist Lueger und die christlichsoziale Partei gross geworden: Nicht als Bekämpfer der Privilegien, sondern als Opposition unter den Privilegierten; nicht als Erstürmer und Schleifer der Kurien, sondern als Eroberer des dritten Wahlkörpers in der Gemeinde, der Fünfguldenmänner in der Stadt. Die öffentliche, allgemein zugängliche Volksversammlung war für ihn kein glücklicher Boden, aber die Wählerversammlung der Fünfguldenmänner verschaffte ihm Triumphe. Diese Wählerschaft war sein christliches Volk von Wien und gefolgt von ihr verstand er es natürlich leicht, die asthmatischen Liberalen niederzudonnern und niederzurennen. Wen wundert’s, dass er sich in dieser Kinderstube ein Goliath fühlte?
Was Lueger sich selbst dünkte, ist geschichtlich gleichgültig. Der tatsächliche Grund seiner Erfolge ist die politische und ökonomische Erhebung des Wiener Kleinbürgertums.
Vom Anbeginn an liegt indessen im christlichen Sozialismus eine zweifache Auflehnung. In jeder Krisenzeit rebelliert das Handwerk, fühlt sich der Handwerker als Auch-Arbeiter und wettert gegen das Kapital, das sein schmales Besitztum bedroht. Gehen die Geschäfte wieder gut und hat er sein Besitztum vor dem Zusammenbruch gerettet, dann freut er sich als Auch-Besitzer seines Profits und ist empört über die Begehrlichkeit der Arbeiter, die auch von der Konjunktur etwas haben wollen.
Von dieser periodischen Revolte der Kleinbürger wohl zu unterscheiden ist das Misstrauen uud die Missgunst des Kapitalisten der Industrie gegen Handels- und Finanzkapital und der Hass aller anderen Sorten von Kapitalisten gegen das Finanzkapital im besonderen. Diese letztere dauernde Abneigung nährt den Antisemitismus der Reichen; er sitzt tief, ist aber still und gesittet wie der Neid, der sich nicht gern selbst verrät. Jener Antisemitismus der kleinen Leute aber bricht periodisch aus und weicht dann wieder einer gewissen respektvollen Scheu vor den Leuten, denen man es so gern gleichtäte und die doch so ganz unerreichbar sind im Geldmächen.
Oekonomisch geht die Luegerei aus vom Kleinbürgertum und Lueger ist persönlich der Typus dieses bald ungemütlichen, bald gemütlichen Antisemitismus. Der kleine Mann wird ihm zuerst durch eine vieljährige Depressionsepoche zugetrieben. In jener Zeit trug die christlichsoziale Partei alle typischen Eigenheiten kleinbürgerlicher Politik. Das Kleinbürgertum ist der Tandelmarkt aller Klassen: abgelegte Kleider aller Stände und Neues um billiges Geld. Hier kleidet sich der Kavalier als Strizzi und der Strizzi als Kavalier. Aus dem Bildlichen ins Politische übersetzt: das Kleinbürgertum, das die Aufsteigenden aus den unteren Klassen und die herabkommenden oberen aufnimmt, vertritt zugleich alle denkbaren Programme, wie sehr sie einander widersprechen mögen, alle in volkstümlicher, banaler Ausgabe. Alle guten Prinzipien sind wohlfeil, man führt alle zugleich im Munde, ohne Respekt vor irgendwelcher ernsten Ueberzeugung. Man bekämpft den Liberalismus prinzipiell, gibt sich aber selbst als wahrhaft liberal; man verdonnert den Sozialismus, aber nennt sich mit Stolz „auch“ sozial. Man zerrt Behörden und Richter in den Kot, aber tritt ein für die Autorität; man zetert gegen die Gesetzlosigkeit der Herrschenden, aber ist nicht so „dumm“, sich selbst durch das Gesetz binden zu lassen; man treibt Radau, aber vertritt die „Ordnung“; überall riecht man Korruption, Bestechlichkeit, Eigennutz, ganz unsagbare heimliche Verbrechen, natürlich nur infolge der eigenen Herzensunschuld, die eigentlich an Böses gar nicht glauben kann. Die Machthaber kleben eigennützig an der Macht, während man selbst an sie gar nicht denke, und so fort. Vor so offenbarer Redlichkeit und Reinheit inmitten der allgemeinen Fäulnis kniet jeder natürlich bewundernd nieder. Denn „der muss es doch so meinen; denn, wenn der sich bestechen liesse, wie weit könnte der es bringen!“
Nach dieser Auffassung macht die Politik sich einfach. Da die faktischen Gegensätze der Interessen verwischt werden, bleibt doch nur ein Wunsch: Wenn da nur ein redlicher, anständiger Mensch oben wäre, wär’ uns geholfen; wählen wir den Richtigen und „wir sind geborgen“!
Und dieser Richtige ist in der Tat wider alles, was das Volk bedrückt: Gegen den Adel – denn vorläufig ist er ihm im Wege; gegen den Grossgrundbesitz – denn noch ist er an der Macht; gegen das Kapital überhaupt – hat er doch keines; gegen das Finanzkapital insbesondere – es verfolgt ihn ja mit giftigem Hasse; gegen die Klerisei – denn noch hält sie sich ihm ganz fern; gegen die Gewalthaber, die Diurnisten entlassen – er hat niemanden anzustellen und niemanden zu entlassen; gegen jegliche Protektion – wer protegiert denn ihn? Aus ehrlichem Herzen also, wenn auch nicht aus Grundsatz, ist er gegen alles, was Macht hat, Macht übt und die Macht missbraucht.
Solche richtige Männer haben die Wiener Kleinbürger viele sich auserkoren, damit das Handwerk gerettet werde. Und als der dritte Wahlkörper erobert war, schloss die erste, die kleinbürgerliche Epoche der Christlichsozialen.
Aber der dritte Wahlkörper kann unbequem werden, die Macht für sich allein hat er nicht. Zur Partei stiess nun der Antisemitismus der Reichen. Für sie brauchte man besondere Agitatoren, die Salonantisemiten à la Pattai, die Kavalierantisemiten ä la Liechtenstein. Nun war es auch nicht mehr der Jude an sich, nicht die Rasse, sondern das mobile Grosskapital und der unproduktive Handel, die Börse. Die Partei hängt nicht mehr an der „richtigen“ Person allein, man hat auch etwas wie ein Programm, wenn man sich auch hütet, es zu fixieren; man denkt an Gesetze, die diesen „Giftbaum" der Börse „beschneiden“, die Auswüchse des Kapitalismus „beschneiden" sollen. Dieses „Beschneiden“ von Auswüchsen ist überhaupt die Lieblingsvorstellung der Antisemiten. Man tut staatsmännisch und gebildet, man gewinnt den Hausherrn, den Bourgeois. Der Bürgermeisterstuhl von Wien kann uns nicht mehr entgehen. Im Jahre 1896 haben die Christlichsozialen ihre zweite Epoche durchschritten, sie sind die Herren von Wien. War Lueger mit Schneider und Gregorig der Held der ersten, so sind Liechtenstein, Pattai und Strobach die Schrittmacher der zweiten. Beide Epochen haben die Arbeiterschaft, die ausserhalb der Kurien stand, kaum berührt. Innerhalb der Kurien genügt es, sich Antisemiten, christliche Antisemiten zu heissen; das Wort „sozial“ war noch keine besondere Empfehlung.
Wie schon erwähnt, ist der Kleinbürger für alle schönen Prinzipien, er ist „auch“ liberal und „auch“ sozial. Das Schlagwortsystem des christlichen Sozialismus, das inzwischen von den Konservativen, von Voglsang übernommen und von Scheicher zum Handgebrauch appretiert worden war, hatte bis dorthin politisch keine Rolle gespielt. War doch der Arbeiter nicht Wähler gewesen. Mit der Badenischen fünften Kurie aber und den Wahlen des Jahres 1897 ändert sich dies. Zum erstenmal stösst die antisemitische Partei mit der Sozialdemokratie in der Wahlschlacht zusammen, auch die Antisemiten nennen sich Oppositionspartei, antikapitalistisch, demokratisch und sozial. Die sogenannte christliche Arbeiterbewegung bekommt politische Bedeutung, die christlichen „Arbeiterführer“ Mittermeier, Bielohlawek, Axmann, Prochazka, Kunschak sollen dem Kleinbürgertum die Arbeiterschaft unten angliedern, wie die Bourgeoisie oben schon angegliedert ist. Unternehmer und Arbeiter, Kapitalist und Lohnsklave sollten zu beiden Seiten Luegers einhermarschieren – gegen das mobile Grosskapital, gegen die Regierung, einträchtig verbunden durch die Heilslehre des christlichen Sozialismus.
Inzwischen hatte Gessmann mehr Gewicht auf das Christlich als auf den Sozialismus gelegt, mit Scheicher die Kapläne und Pfarrer des flachen Landes mobilisiert und durch eine agrarische Spielart des Antisemitismus die Bauern eingefangen. Die in ihren Anfängen durchaus städtische Partei ward nun zugleich Agrarpartei. Und neben den sogenannten Arbeiterführern nahmen die wütenden Hasser der Landarbeiter, die hartnäckigen Knechter der Dienstboten, Platz. Alle Keime der Konfusion, die in der Bewegung der Wiener Kleinbürger vom Anfang an enthalten waren, waren nun ausgereift und der ganze Wirrwarr tobte sich in ergötzlicher Weise im niederösterreichischen Landtag von 1897 bis 1902 aus. Dieser wüsteste aller Landtage war so recht ein Konvent des christlichen Sozialismus. Am besinnungslosesten war in dieser Zeit Lueger, der prädestinierte „richtige Mann“, der nicht fassen konnte, warum die Arbeiterschaft sich nicht erobern lassen wollte – in sinnlosen Beschimpfungen der Sozialdemokratie machte er seinem Aerger Luft. Und er selbst war es, der, politisch ein Kind des Kuriensystems, das allgemeine Stimmrecht im Gemeinderat und Landtag preisgab und Badeni übertrumpfte. In jener Zeit passte auf ihn selbst mehr wie auf irgendwen unseres verstorbenen Kralik treffendes Wort vom „konfus gewordenen Antisemiten“.
In jener dritten Epoche des Wiener Antisemitismus haben die sozialdemokratischen Arbeiter in schweren Kämpfen den Christlichsozialen Respekt und etwas Vernunft eingepaukt. Luegers moralische Züchtigung an seiner Geburtstagsfeier, die Absägung Ax-manns durch die Handlungsgehilfen, die Verdrängung der christlichen Arbeiterorganisationen, die Festigung unserer Gewerkschaften, die vielen parlamentarischen Zurechtweisungen, endlich die Nachwahl Adlers in den Landtag haben den Christlichsozialen die für sie bittere Wahrheit eingepaukt, dass sie die allgemeine Volkspartei nicht sein können, schon weil diese klassenteilige Gesellschaft dies nicht zulässt.
Diese Pauke scheint am frühesten bei unserem verbissensten Gegner, bei unserem persönlichen Hasser gefruchtet zu haben, bei Gessmann. Und so hat er sich den Ausweg zurechtgelegt: Wenn nicht Volkspartei, so bürgerliche Partei und womöglich die bürgerliche Partei schlechtweg. Es kann sein, das er die Unmöglichkeit begriff, als Oppositionspartei neben der Sozialdemokratie zu bestehen, also, schloss er wohl: lieber erste Regierungspartei als zweite Oppositionspartei!
Bekanntlich gedeiht die Opposition durch die Kritik, die Regierungspartei durch ihr Tun, durch die Ausübung der Macht. Also konnte Gessmann wohl begreifen, dass das Gefüge der Partei nur erhalten werden konnte, wenn sie die Staatsmacht ergreift. Solange aber diverse Grossgrundbesitzer die Parlamentsplätze versassen, war die Macht nicht zu haben. Also müsse die Partei selbst wider den Willen ihrer Führer die Wahlreform akzeptieren und nach der Wahlreform als Kern der bürgerlichen Parteien das Ministerium bilden.
Es ist einerlei, ob der Ehrgeiz Gessmann klug oder die Klugheit ihn ehrgeizig gemacht hat, es scheint, dass diese letzte, fünfte Epoche des christlichen Sozialismus Gessmann eingeleitet hat. Wie dem sein mag, die christlichsoziale Partei ist seitdem eine andere als vordem. Wir haben das zu registrieren und die Konsequenzen zu ziehen.
Solange sie sich als demokratische, soziale, antikapitalistische Oppositionspartei gab, solange sie als demagogische und verlogene Nachäffung unser selbst auftrat – und soweit sie es heute noch tut – konnte und kann ihr nicht begegnet werden wie anderen Parteien auch, so lange musste und muss sie die natürliche Gegnerschaft zu feindseliger Verbitterung steigern und so stürmische Kämpfe wie 1897 und in der Folge provozieren. Dass die Gegnerschaft inzwischen weniger leidenschaftlich sich äussert, erklärt sich also heute von selbst. Uebrigens, wo immer einzelne Christlichsoziale sich an Arbeiter als die „wahrhaft“ soziale, als wahrhaft demokratische, als die eigentliche Arbeiterpartei heranmachen, kann die sozialdemokratische Arbeiterpartei auch heute und in Zukunft nicht anders reagieren wie bisher.
Aber diese heuchlerische Agitation hat den Christlichsozialen zu oft Misserfolge gebracht und ihre bürgerlichen Wähler sind selbst zu sehr vom Klassenbewusstsein gegen die Arbeiter durchdrungen, um diese Heuchelei mitzumachen. Wir begegnen den Christlichsozialen in Arbeiterversammlungen fast nicht mehr. Um so häufiger hört man sie in Bauern- und Bürgerversammlungen zum gemeinsamen Feldzug aller bürgerlichen Elemente gegen die Begehrlichkeit der Arbeiter aufrufen. Die Ax-mann, Bielohlawek und Kunschak haben sich zu Vertretern der ausgesprochensten Bourgeoisviertel hinüberentwickelt und vom christlichen Sozialismus ist nur mehr, wie wir sehen werden, das Christliche übriggeblieben, der Antisemitismus war ja schon längst überwundene Sache.
Was ist nun ökonomisch und politisch der Inhalt dieser Partei in ihrem letzten Stadium?
Wir haben eingangs gesehen, dass der Gegensatz zwischen Gross- und Kleinbürger, zwischen Industrie-, Handels- und Finanzkapital der Keim- und Nährboden des Antisemitismus gewesen. Und jetzt?
Das Finanzkapital ist in gewissem Sinne die demokratischeste Kapitalsform – jeder Habenichts kann seiner unter Umständen habhaft werden auf dem sehr gewöhnlichen Wege des – Pumps. Verstehst du zu pumpen, so stehst du vor der ganzen Welt in der Rolle des Kapitalisten da. Lumpen und Könige haben dies in gleicher Weise zu tun gewusst.
Die Wiener Gemeindepartei hat sehr gut zu pumpen verstanden, sie verfügt als Verweserin der Kommune heute über Millionen, ihre Vertrauensmänner sitzen ungeniert in Geldinstituten unter den „Giftbäumen“ des mobilen Kapitals. Zu Hilfe gekommen ist ihnen dabei die Entwicklung, welche die Person des Finanzkapitalisten, den jüdischen Börsejobber versteckt hat hinter unpersönlichen, anonymen Banken. Und zudem erstirbt heute der gemütliche Antisemitismus des kleinen Mannes zur Abwechslung wieder vor schadenfroher Bewunderung Luegers, der es zustande bringt, den grossen Juden so schweres Geld abzu – leihen. Zugleich sind dieselben Banken, die vordem zum Teil blosse Parasiten der Industrie gewesen, inzwischen als Organisatoren der Industrie ihr mit verzehrender Liebe näher gerückt: Die Grossbourgeoisie hat ihren Frieden mit den Börsenwölfen gemacht. Die Bauern ihrerseits haben in ihren Raiffeisenkassen sich zu Miniaturbankiers herausgebildet, kaufen und verkaufen Börsenpapiere und haben den ländlichen Wucher zum guten Teile los. Auf der Frucht- und Mehlbörse sitzen ihre eigenen Vertrauensmänner – auch für sie hat das mobile Grosskapital seine Schrecken verloren.
Wir sind ökonomisch eben zwei Jahrzehnte vorwärts, die Geldwirtschaft ist durchgedrungen: Der altmodische Handwerker ist kapitalistischer Kleinindustrieller, der Landwirt ist kapitalistischer Warenproduzent, der nichts denkt als Markt und Preis, Preistreiberei und Profit. Die Armesünderlitanei des christlichen „Sozialismus“ stillt den Besitz- und Profithunger dieser Kreise nicht mehr (solange wenigstens die Konjunktur anhält), der kleine Mann fühlt sich als Auch-Besitzer, als Herr unter Herren und will dabei sein, wenn regiert wird, damit man es dem Arbeiterpack von Regierungs wegen tüchtig zeige!
Die kapitalistische Welt ist wieder, wie immer bei guter Konjunktur, näher zusammengerückt, ihre Führung ist auf die grosse Bourgeoisie (mit Abzug der Juden) übergegangen, der kleine Mann trottet mit Freudengeheul hinterdrein, weil „seine“ Männer vorangehen – er weiss noch nicht, dass sie ihn an die Grossen verraten haben. Und so ist die christlichsoziale Partei schon geraume Zeit die kapitalistische Partei schlechtweg, geradezu die Organisation der herrschenden Klassen, die herrschende Klasse selbst, die konsequenteste Vertreterin des Besitzes gegen die Arbeit, des Geldsacks gegen die Habenichtse, der Autorität gegen den Umsturz.
Sie sind dort, wo sie hinkommen mussten, wie vzir es ihnen auf den Kopf zugesagt. Und sie können es nicht mehr leugnen – ihre Gescheitesten versuchen es nicht einmal mehr – denn sie sind ausgesprochene Regierungspartei, sie heissen sich selbst die „grosse“ konservative Partei. Und so zeigen sie denn plötzlich ihr anderes Gesicht: sie sind für die Autorität, für das Gesetz, für die Ordnung, für den Besitz, für die Macht ohne Umschweife!
Sachlich gesehen, musste das so kommen. Aber persönlich gesehen, liegt die Sache anders: Dieselben Menschen vertreten heute genau das Gegenteil dessen, was sie vor zehn Jahren versprochen. All ihren führenden Persönlichkeiten prägt dieser Wandel das Merkmal der politischen. Charakterlosigkeit auf, soweit sie die angestammte Konfusion nicht entschuldigt. Und da sie halb bewusst, halb unbewusst sich von einer ökonomischen Welle aus niederen Sphären emportragen liessen, machen viele von ihnen den Eindruck skrupelloser Streber, hochstaplerischer Glücksritter oder unglaublicher Glückspilze. Diejenigen von ihnen allerdings, die es in ihrer Art ehrlich meinten, liegen draussen, wie Gregorig und Schneider.
Eine grosse konservative Partei ist in jedem Lande vorhanden und die Christlichsozialen wollen auch die Rolle des deutschen Zentrums spielen. Aber dazu fehlt ihnen vorläufig alles – am meisten die Geschichte.
Der normale Lebenslauf einer Partei ist der: Oekonomische Bedürfnisse und ein sie erfüllendes Gesetzesprogramm einigt Massen Und macht sie zur starken Partei. Diese kommt zur Macht, um ihr Programm in Gesetzesform zu erfüllen. Der Machtgenuss ist blosses Mittel zur Schöpfung des neuen Rechtes. . So. war der Liberalismus mit der reichen Fülle gesetzgeberischer Arbeiten das ureigenste Programm der Bourgeoisie, gleichsam ihre politisch-parlamentarische Erscheinungsform.
Man nenne uns nur ein Gesetz, das den Inhalt des Antisemitismus, des Christentums, des christlichen Sozialismus dieser Partei sichtbarlich ausdrückte! Sie flicken da und dort herum, aber im ganzen genommen stehen sie. als Gesetzgeber leer da.
Was also wollen sie? Nichts als die Macht, als den Machtgenuss, die Benützung der Macht in einer bestimmten Gesinnungsrichtung, das, was sie anfangs so sehr gegeisselt!
Das deutsche Zentrum besitzt als Vertretung des Katholizismus im protestantisch beherrschten Reiche zum Teil als partikularistische Macht einen dauernden Inhalt, es besitzt eine grosse Tradition, es besitzt einen grossen Stab gewiss hochbegabter, politisch geschulter, keineswegs zufällig emporgekommener Männer.
Von all dem weist unsere christlichsoziale Partei nichts oder nur Vereinzeltes auf. So hat vom Anbeginn an nur ein Streben sie geleitet: die Macht ergreifen und sichern. Nicht ein Gedanke, nicht eine Idee hat sie darin gehemmt oder behindert.
In der Gemeinde Wien haben sie den längst fälligen, von den Liberalen eingeleiteten sogenannten Munizipalsozialismus, der nichts ist als Kommunalkapitalismus, so gut und so schlecht durchgeführt wie viele „judenliberale“ Stadtvertretungen Deutschlands. Und Aehnliches haben sie im Landtag vollbracht. Höchst zeitgemäss, aber nach bewährten Mustern.
Originell waren ihnen und von allen unerreicht blieben ihnen die Methoden, die politische Macht sich durch formelle Mittel zu sichern. Sie haben derart die Wiener Wahlkörper zurechtgeschnitten, das Landtagswahlrecht durch Wahlpflicht und Listen-skrutinium derart hergericlitct, durch die Schulgesetze ihre Herrschaft über die Schule so festgelegt, dass ihnen auf lange Zeit niemand beikann. Genau so denken sie im Reichsrat nur an formelle Machtmittel zur Sicherung ihrer Herrschaft: Besetzung des Präsidiums und Geschäftsordnungsreform.
Man achte wohl: Nicht eine einzige materielle Reform, nicht eine neue Idee in Bezug auf Schule oder Staat oder das Verhältnis der Nationen bringen sie mit! Und so sind sie daran, das Reich mitzuregieren, und haben weder in den Fragen des Ausgleichs, noch in der Handelspolitik, noch in der allgemeinen Wirtschaftspolitik, noch in Bezug auf den Militarismus, noch auch in der nationalen Frage irgend einen programmatischen Gedanken!
Die Macht um der Macht willen – das ist alles.
Bleibt nur der Gessmannsche Königsgedanke: die Ralliierung aller Bürgerlichen gegen die Sozialdemokratie, oder was dasselbe ist, Erklärung zur kapitalistischen Partei rundweg. Es wäre ein gar gescheiter Einfall, wenn nur die wirtschaftliche Entwicklung nicht einen Riss durch die Rechnung machte.
Der Gegensatz von Kleinbürgern und Bourgeois hat vor 20 Jahren die Christlichsozialen erzeugt, der Gegensatz von Bürgertum und Proletariat sie vor zehn Jahren zur einheitlich bürgerlichen Partei zu erheben begonnen und heute spaltet ein neuer Gegensatz die bürgerliche Welt selbst.
Die Geldwirtschaft hat sich heute des Landbaues bemächtigt, die kapitalistische Produktionsweise hat jetzt erst voll die Landwirtschaft bis herab zum mittleren Bauern ergriffen, erst jetzt erfahren wir, was Agrarkapitalismus ist. Der Grundbesitz als das kapitalistische Monopol auf die Erde macht das ganze Volk zu ausgebeuteten Hörigen der Grundeigentümer. Karl Marx hat diese Entwicklung gekennzeichnet: Auf einer gewissen Stufe wird das Grundeigentum ein Hindernis selbst der bürgerlichen Entwicklung. Nun sucht das Land die Städte, die ganze Industriebevölkerung auszuhungern, es beschränkt zugleich die Ausfuhr und schlägt so Unternehmer und Arbeiter zugleich. Vorübergehend ist so der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit eine Idylle angesichts des Gegensatzes zwischen Agrarkapitalismus und dem ganzen nicht gutsbesitzenden Volke.
In einer solchen Zeit lässt sich Stadt und Land in einer Partei nur vereinigen durch die bewusste Irreführung beider. Was die christlichsoziale Partei an innerer Kraft, an Aufrichtigkeit ihres Wesens durch ihr Bekenntnis zur „bürgerlichen“ Partei gewonnen hat, verliert sie wieder.
Zugleich verliert sie den letzten Rest ihrer wirtschaftspolitischen Aktionsfähigkeit. Denn jede wirtschaftspolitische Massregel erweckt die Gegensätze in ihrem eigenen Lager. Um der Einheit der Partei willen ist es am Lesten, an nichts zu rühren. Aber eine Partei braucht Aktion.
Was also tun? Es bleibt nichts als die künstliche Aufbauschung von Nebeninteressen, als die Erweckung gemeinsamer Instinkte, als die Flucht aus der wirtschaftlichen Politik in die konfessionelle. (Fall Wahrmund.) So dringt, vielleicht wider Willen mancher Führer, der Klerikalismus immer deutlicher durch, er wird das einzig Gemeinsame. Er gewinnt Wichtigkeit als die einzige Ausflucht, ja als die Rettung. Der Inhalt der Partei ist der blosse ideenlose Genuss der Macht, das Herrschen um der Herrschaft willen. Das erträgt am leichtesten und längsten ein gedankenlos gläubiges Volk!
Und so wird eine Partei, die so viele wechselnde Phasen durchlaufen hat, zuletzt In eine einzige eindeutige Richtung getrieben, zum Klerikalismus in seiner vollen Reinheit und Ausschliesslichkeit. Sie haben sich oft gehäutet, unsere guten alten Feinde, aber diese ihre innerste und letzte Haut sitzt fest, sie werden sie nur mit ihrem Leben zugleich aufgeben.
Die Wahlen zum niederösterreichischen Landtag stehen bevor, wir ziehen aus, ihnen wieder eine Schlacht zu liefern. Wir kennen unsere Gegner, wir wissen, was sie gewesen, was sie heute sind und sein werden. Mögen sie im Augenblick noch ein Stück Demokratie verkörpern, wir wissen genau, dass sie ihrer Bestimmung nach die schlimmsten Feinde der Entwicklung, der Emanzipation des Proletariats sind und dass zwischen ihnen und uns nichts sein kann als intimste Feindschaft.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024