Karl Renner

Was sind unsere Kronländer?

Ein kritischer Beitrag zur Autonomiefrage

(Juni 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 9. Heft, 1. Juni 1908, S. 400–409.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Volkssagen aller Völker erzählen uns von einem wunderbaren Gerät: von einem Spiegel, der jedem Beschauer etwas anderes zeigt, je nach dessen eigenen Wünschen und Sorgen, Leidenschaften und Ideen. An diesen Spiegel gemahnt es uns, wenn wir nacheinander die Aeusserungen der unterschiedlichen Bewohner unseres Staatswesens über die Kronlandsautonomie vernehmen. Der eine sieht in dem Spiegel einen Staat, der andere eine blosse Provinz; der eine das höchste nationale Gut, der andere sein nationales Unglück; der eine zukünftige Grösse, der andere kümmerliche Reste der Vergangenheit u. s. w. Schwankende, vieldeutige Schattenbilder huschen über die glatte Fläche – wie sollen wir sie festhalten und ihr wahres Leben erfassen?

Vag wie diese Bilder selbst ist auch das Gerede der Politiker über sie. Wir besitzen weder eine »zentralistische« noch eine »autonomistische« Programmschrift, die sich nicht in den oberflächlichsten Phrasen, in staatsrechtlich falschen Benennungen, in sentimentalen Gefühlsäusserungen erschöpfte. Unklar, unkonkret, unreal ist alles – auch heute noch, nach vierzig Jahren zentralistisch-autonomistischer Kämpfe. Das wäre zu verwundern, wenn es, wie wir sehen werden, überhaupt anders sein könnte! Und so weit geht zum Schlüsse die Begriffsverwirrung, dass die Kronlandsautomisten es als den höchsten Grad autonomistischer Gesinnung ansehen, vereint das zentrale Ministerium und den zentralistischen Reichsrat anzufiehen, anstatt der Kronländer in deren Kompetenz zu handeln. (Sanierung der Landesfinanzen.) Die Selbstaufhebung der Autonomie als ihre Erfüllung: gibt es einen grösseren Widerspruch:

Wollen wir nicht noch Wasser in dieses Phrasenmeer schöpfen, so müssen wir zunächst den festen Boden begreiflicher Klarheit suchen. Die Kronländer sind staatsrechtliche Gebilde mit bestimmter politischer Funktion. Unsere Kritik muss also eine zweifache sein: zuerst eine juristische und dann eine politische. Jede dieser zwei Untersuchungen wird uns sofort von einer ganzen Reihe von landläufigen Irrtümern und Täuschungen befreien.
 

I. Die Kronländer und ihr Recht

Die juristische Zusammenfassung aller staatlichen Tätigkeiten, der Staat in seiner Arbeit, ist die Regierung. [1] Nach unserem Rechte übt der Kaiser die Regierungsgewalt aus [2] und niemand anderer. Aber niemals übt er sie allein aus, ohne konstitutionelle Mitwirkung anderer Faktoren. In die Mitwirkung teilen sich dreierlei Organe und insofern besteht die Teilung der Gewalten auch bei uns. Die gesetzgebende Gewalt übt der Kaiser aus durch die kontrasignierte Sanktion der Beschlüsse der Vertretungskörper. (§ 13 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung.) Der Vollzug der Gesetze (die Vollzugsgewalt) steht zwei voneinander getrennten Organsystemen zu: der Rechtsprechung und der Verwaltung. Unabhängige, jedoch vom Kaiser oder in dessen Namen ernannte Richter (Art. 5) sprechen Recht im Namen des Kaisers (Art. 1 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt). So die Rechtsprechung. Der Kaiser führt die gesamte Verwaltung als Haupt der Vollzugsgewalt durch verantwortliche Minister (Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt). So die Verwaltung.

Das normiert unser Gesetz und so entspricht es auch den konstitutionellen Lehren: Man weiss, dass sie nicht Glaubensartikel der Sozialdemokratie sind. Unser Ideal einer Rechtsordnung ist das System der »konstitutionellen Lügen« nicht.

Wie immer man die Regierungsgewalt ordnet, das eine steht fest: Die staatliche Tätigkeit vollzieht sich in drei Funktionen: in der Beschlussfassung über Gesetze, in der Durchsetzung derselben unter den Staatsbürgern durch Gerichte, in ihrer Vollziehung durch Verwaltungsbehörden. Die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sind die drei Funktionen, die gesetzgebende, rechtsprechende und Vollzugsgewalt sind die drei Teile der Regierungsgewalt im obigen Sinne.

Welchen Anteil haben nunmehr die Kronländer an der staatlichen Gewalt? Auf den ersten Blick sieht man: Die Regierungsgewalt steht den Kronländern in keiner Weise zu. Irgend ein Ganzes der Staatsmacht kommt in ihnen gar nicht zur Erscheinung. Nach der Dezemberverfassung sind sie nicht Staaten und eine andere Verfassung ist nicht in Wirksamkeit.

Nur in den schon abgegrenzten Teilen der einen Regiernngsgewalt finden die Kronländer Berücksichtigung. Sie sind nicht Miterben, Teilhaber am Ganzen, sondern bloss Nutzungsberechtigte an einzelnen Grundstücken, keineswegs an allen.

1. Sie haben teil an der Gesetzgebung. Eine gewählte Landesvertretung fasst Beschlüsse, aber nicht der Landesherr sanktioniert sie (nicht der König von Böhmen, der gefürstete Graf von Tirol, der Herr von Ragusa, der Herr von Gattaro) und kein Landesminister kontrasigniert, sondern der Staatsminister, der dem Reichsrat verantwortlich ist.

Haben ein Staatsterritorium (Land) oder eine Personengemeinschaft (Katholiken) das Recht, sich selbst Gesetze zu geben, so liegt Selbstgesetzgebung, Selbstsatzung oder Autonomie vor.

In diesem Sinne allein kann das Wort Autonomie richtig verwendet werden. Autonomie also ist an sich nur ein Stück der Selbstherrlichkeit. Und auch dieses Stück besitzen die Kronländer nicht ungeteilt, die Landesvertretungen haben nur das Recht, mitzuwirken an Gesetzen, die das Staatsoberhaupt unter Kontrasignatur des Staatsministers sanktioniert.

Autonomie an sich ist ein Bruchstück, diese Autonomie nur ein Stück des Stückes.

2. Die Durchsetzung des Gesetzes unter den Staatsbürgern erzwingt der Richter. Territorien oder Personengemeinschaften können – auch ohne Autonomie – die Eigengerichtsbarkeit besitzen. So die Kantone in der Schweiz und bei uns die Börse, die Kirche und vor allem das Militär.

An der rechtsprechenden Gewalt haben die Kronländer gar keinen Anteil. Nicht nur die Reichsgesetze, sondern auch die Landesgesetze setzt der kaiserliche Richter durch, er urteilt im Namen des Kaisers, der Kaiser bestellt ihn direkt oder mittelbar.

Dem heiligen Dreifuss der Regierungsgewalt fehlt – im Kronlande – ein Bein ganz.

3. Den Vollzug der Gesetze besorgen in der Regel die Verwaltungsbehörden. Werden diese von einem Territorium oder einer Personengemeinschaft selbst beigestellt, so liegt Selbstverwaltung vor. So unsere Gemeinden, die Handelskammern, die Aerztekammern etc.

Selbstverwaltung ist also wieder nicht das Ganze der Selbstherrlichkeit, sondern nur ein Drittel.

Wer vollzieht die Staatsgesetze im Lande Böhmen? Der kaiserliche Statthalter im Auftrage des Staatsministers.

Wer vollzieht die böhmischen Landesgesetze? Man lese die Durchführungsklauseln der Landesgesetze: »Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes ist Mein Minister des Innern etc. betraut.« Nicht einmal im Kreise seiner Autonomie ist das Kronland durchaus zugleich Selbstverwalter.

Es ist vielmehr ein besonderer Wirkungskreis von teils staats-, teils landesgesetzlichen Angelegenheiten festgesetzt, in dem das Kronland durch seinen Landesausschuss ausnahmsweise selbst verwaltet. Diese juristisch als Ausnahme festgesetzte und seinerzeit so gedachte Selbstverwaltung gewinnt allerdings in den letzten Jahrzehnten höhere Bedeutung, den Vorrang hat indessen faktisch der Statthalter inne.

Zu bemerken ist nur noch, dass innerhalb der staatlichen Organisation der Rechtsprechung und Verwaltung durch alte absolutistische Verfügungen ein Kronlandsstatus der Beamtenschaft faktisch besteht, der einen schwachen Anklang an Eigengerichtsbarkeit und Selbstverwaltung darstellt. Dieser Status ist durch einen Federzug von oben zu durchbrechen oder aufzuheben – eines der vielen Schattenrechte unserer staatlichen Ordnung.

Was sind also unsere Kronländer juristisch? Tragen sie den prunkenden Ornat selbstherrlicher Regierungsgewalt? Nein – sie sind mit den bunten Stücken fremder Gewalten bekleidet!

Und dieses Svstem einer halben Autonomie, einer zusammengeklaubten Selbstverwaltung und der prekären Andeutung von Eigengerichtsbarkeit benennt man mit einem schiefen Ausdruck die »Autonomie der historisch-politischen Individualitäten«.

In diesem Sinne Autonomist sein wollen und sich dessen noch berühmen, macht einfach lächerlich! Das heisst: eine Narrenkappe mit dem Stolze tragen, als wäre sie eine Königskrone!

* * *

Eine lustige Geschichte bürgerlicher Feigheit vor dem König- und Junkertum wird derjenige schreiben, der dermaleinst erzählen wird, wie die natürliche Gliederung der staatlichen Funktionen im englischen Staatsbau von dem kontinentalen Europa als Grundsatz der Teilung und Verbindung der Gewalten missverstanden werden musste, damit dem absoluten Fürstentum das Feigenblatt des Konstitutiona-lismus theoretisch angeklebt werden konnte. Noch belustigender aber ist, wie das preussische Junkertum, allen voran Gneist, das englische Wort für Selbstregierung (Selfgovernment) übersetzen und ausdeuten konnte in das klägliche Missding Selbstverwaltung. Die ganze Fülle der konstitutionellen Lügen, der Verfassungs-Scheinrechte und Scheinkämpfe des europäischen Kontinents, der Halbheiten und Verkehrtheiten unserer öffentlichen Einrichtungen geht auf die beiden Grundirrtümer oder Hauptfälschungen zurück. Als dritter und origineller Fehler – wir Oesterreicher sind in unseren Torheiten ja immer originell – kommt die staatsrechtliche Autonomie noch hinzu.

Wir haben als Sozialdemokraten nicht die geringste Ursache, die Fiktionen und Widersprüche des bürgerlichen Konstitutionalismus zu übernehmen.

Teilung der Gewalten! Es ist ein alter Erfahrungsgrundsatz in jedem Verein: Beschlussfassen muss Sache aller sein, durchführen Sache der geeigneten Einzelnen. So beschliesst das Plenum des englischen Parlaments Gesetze, so betraut es ein kleines Exekutivkomitee der Mehrheit, das Kabinett, mit der Durchführung, das Exekutivkomitee steht unter ständiger Kontrolle des Plenums und ist ihm verantwortlich. So der lebendige Zusammenhang der Regierung, wo wir das lächerliche Ränkespiel zwischen Parlament und Ministerium, Legislative und Exekutive konstruiert haben, nur um dem Absolutismus das Recht auf die Vollzugsgewalt Vorbehalten zu können.

Beschliesst die Gesamtheit das allgemeine Gesetz, verwaltet nach ihren Wünschen der Einzelne, so ist zum Richten im Einzelfall der Unparteiische berufen. Die Gesamtheit liest Menschen zu Richtern aus nach anderen Gesichtspunkten als jenen, die sie bei der Wahl zu Vorkämpfern von Interessen oder zu Durchführungsorganen ihres Herrscherwillens leiten. Man konstituiert ein Schiedsgericht im Verein ja auch anders als das Exekutivkomitee oder den Vorstand. Nichtsdestoweniger sind Generalversammlung, Vorstand und Schiedsgericht selbstbestellte Organe des Vereines, der sich selbst regiert.

Aber die Bourgeoisie des Kontinents und der preussische Junker haben nicht die Macht oder nicht den Willen, den Richter als Organ der Volksgesamtheit zu proklamieren: also übt der Monarch die Gerichtsbarkeit aus. Aber es soll nicht Kabinettsjustiz sein: also soll der vom Monarchen bestellte Richter zugleich vom Monarchen unabhängig sein! Welch aufdringlich sinnlose Fiktionen! Keine Fiktion ist nur, dass die so in die dritte Dimension versetzte richterliche Gewalt der Volksgesamtheit unverantwortlich wird – der allergefährlichste Widersinn!

So ist die konstitutionelle Teilung der Gewalten ein System feiger Fiktionen geworden um die absolute Gewalt zu erhalten und doch zugleich zu beschränken!

Der Proletarier, der sich in vielen Tausenden Vereinen selbst regiert, durchschaut dieses Spiel der Feigheit, diesen Krakeel der Mutlosigkeit, er weiss, wie eine Gesamtheit sich selbstregiert, indem sie im Rate aller beschliesst, durch bestellte Einzelne verwaltet und durch Unparteiische richtet. Autonomie, Eigengerichtsbarkeit und Selbstverwaltung sind ihr nicht drei trennbare, einander feindliche »Gewalten«, sondern die drei notwendig verbundenen Funktionen einer und derselben Selbstregierung.

Autonomie! Selbstverwaltung! Bruchstücke des Stückwerks sind sie in der heutigen Ordnung. Wenn die Gewalten einmal dreigeteilt sind, so kann man natürlich die Methode fortsetzen und an den Teilen noch Anteile gewähren. Man räumt einem Territorium oder einer Körperschaft zusammenhanglos dieses Stück von der Gesetzgebung, jenes Stück von der Verwaltung oder ein drittes Stück von der Gerichtsbarkeit ein. Und man nennt das eine Autonomie, das andere Selbstverwaltung, das dritte Standesrecht und erweckt dadurch noch den günstigen Anschein, viele, viele Gerechtsamen den dankschuldigen Untertanen eingeräumt zu haben, während man sie in Wahrheit um das Eine, Ganze, Vollkommene betrogen hat, um das Recht auf Selbstregierung!

Diese dankbare Selbsttäuschung haben Sozialdemokraten nicht mitzumachen und also stehen sie dem Autonomistengerede kühl, ruhig und ablehnend gegenüber.

Und lebenso überlegen sehen sie herab auf die Torenkämpfe um Zentralismus und Föderalismus. Denn in ihnen wird der Widersinn zum blanken Unsinn. Diese Wörter selbst passen auf die Wirklichkeit, um die der Streit geht, genau so wie die Faust aufs Auge, sie schlagen der Wirklichkeit ins Gesicht.

Was ist Zentralisation? Dieses Wort trifft von den drei Funktionen der Staatsgewalt zwei überhaupt nicht. Es ist keine Bezeichnung der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, sie berührt nur die Verwaltung. Innerhalb der bureaukratischen Verwaltung trifft es wieder bloss den Instanzenzug.

Zentralismus oder Zentralisation liegt vor, wenn in einer Verwaltungsangelegenheit der Instanzenzug bis in die oberste Instanz freisteht, wenn also von der Lokalstelle (Gemeinde, Bezirk) durch die Mittelstelle (Statthalterei) bis in die Zentralstelle (Ministerium) der Rekursweg offen bleibt. Dezentralisation besteht, wenn die Lokal- oder Mittelstelle endgültig entscheidet. Dieselbe Unterscheidung gilt für die autonome Verwaltung : Zentralismus liegt dann vor, wenn die Entscheidung der Gemeinden oder Bezirke der Ueberprüfung durch den Landesausschuss unterliegen, Dezentralisation, wenn die Lokalstelle inappellabel verfügt. Es verwirrt und ist darum unerlaubt, diese verwaltungstechnischen Ausdrücke staatsrechtlich zu gebrauchen. Wer sich Zentralist nennt, sagt damit: Ich will den Instanzenzug bis zur Zentralstelle (Minister, Landesausschuss) in möglichst vielen Fällen offen halten, so dass zwar die Lokalstelle entscheidet, aber nicht ohne Möglichkeit der Abhilfe. Wer sich zur Dezentralisation bekennt, will durchsetzen, dass in möglichst vielen Angelegenheiten der Verwaltung die Lokalstelle die Sache endgültig abtut.

Das letztere will zum Beispiel der Polenklub. Er hat nichts gegen die absolutistisch-bureaukratische Ordnung, er hat niemals nur den Schatten einer Bundesstaatsorganisation gefordert. Trotzdem heisst er sich unter dem Missbrauch dieses Wortes »föderalistisch« (bundesstaatsfreundlich), obwohl er bloss den Instanzenzug nach Wien einschränken, den ebenso zentralistischen Instanzenzug aus den ruthenischen Lokalstellen nach Lemberg aber tunlichst ausdehnen will.

Kein Sozialdemokrat hat es nötig, in dieses falsche Spiel mit missbrauchten Worten, in dieses bureaukratische Kauderwelsch sich einzulassen. Zentralismus und sogenannter Föderalismus (Dezentralisation) bewegen sich innerhalb des prinzipiell verfehlten bureaukratischen Gewaltenteilungssystems. Sie haben nur innerhalb dieses Rahmens Sinn und sind für uns bedeutungslos.

England regiert sich selbst in Kirchspiel, Gemeinde, Distrikt, Grafschaft und Land, indem überall die gesamte Vertretung die allgemeine Norm setzt, den Verwalter und den Richter bestimmt. Jeder Bürger wählt zugleich in Kirchspiel, Gemeinde, Distrikt, Grafschaft und Land und also entscheidet die Gesamtheit selbst – meist von Fall zu Fall, ohne feste Grenzen – was sie lokal, was sie in der Grafschaft, was sie zentral regeln will. Bürger, die sich selbst regieren, wissen selbst am besten zu entscheiden, was sich am besten zentral oder lokal oder auf beiden Wegen zugleich erledigen lässt, sie schlagen sich selbst nicht unnützerweise an - das Marterholz unabänderlicher Kompentenzvorschriften. Da aber jedem die Lokalstelle am nächsten liegt, so bevorzugt natürlich jeder die Lokalverwaltung und die Zentralregierung ist nur mit den wirklich gemeinsamen Aufgaben belastet.

Wir leben nicht im nationalen Einheitsstaat und also ersteht für uns eine besondere Frage; und sie allein hat uns zu beschäftigen: Welche Angelegenheiten sind überwiegend national, welche sind international? Nur diese Fragestellung ist richtig. Welche Aufgaben sind der Selbstregierung der Nationen, welche hingegen der Selbstregierung der gesamten Staatsbevölkerung ohne Unterschied der Nation vorzubehalten? [3] Seit dem Brünner Programm steht es für jeden Sozialdemokraten fest, dass die Nationen in nationalen Angelegenheiten jede sich selbst, in internationalen sich alle gemeinsam – es sei die Zusammenziehung gestattet – selbst regieren sollen. Unter Sozialdemokraten kann also nur mehr Streit entstehen, ob einer mehr national oder mehr international denkt, ob er der Nation oder der Internationale grössere Kompetenzen zuweisen will. Ein Sozialdemokrat kann, wenn man die juristischen Worte richtig gebraucht, zu international oder zu national, nicht aber Zentralist oder Föderalist genannt werden. Wie oft würden wir uns in Diskussionen offene Türen einzurennen ersparen, wenn vrir uns alle Bezeichnungen korrekt zu gebrauchen angewöhnten! Es ist auch an der Zeit, dass wir den historisch aus dem Gegensatz zu unseren Kronländerautonomisten gebildeten Programmausdruck »nationale Autonomie«, der selbst Verwechslungen hervorgerufen hat, durch den streng bezeichnenden »nationale Selbstregierung« ersetzen.

Haben wir aber den Rechtsbegriff der Selbstregierung überhaupt und der nationalen Selbstregierung im besondern gewonnen, so kann sich erst die politische Kritik der Kronländer und unseres Staates wahrhaft fruchtbar erweisen. Selbstregierung – das heisst: Ueberall dort, wo Menschengesamtheiten durch gemeinsame Interessen verbunden sind, sollen sie als organisierte Gesamtheit vom Rechte anerkannt und befähigt werden, über ihre Interessen zu beschliessen und sie durch selbstgesetzte Organe verwalten zu lassen. Solche Gesamtheiten sind unter anderem die gemeinschaftlichen Siedlungen in einer Gemeinde, in einer natürlichen Gebietseinheit (Bezirk, Kreis) oder in einer wirtschaftlich einheitlichen Landschaft (Böhmen, Vorarlberg). Die Notwendigkeit ihrer Selbstregierung ist durch die Tatsache des Gebietes gegeben und kein Sozialdemokrat wird sie leugnen. Was aber auf das allerentschiedenste in Abrede gestellt werden muss, ist, dass diese Gebietsverbände die einzig relevanten auf der Welt und im Staate sind. Der Staat selbst hebt aus der Gesamtheit der Bewohner das Militär aus und organisiert es besonders – wider die Notwendigkeit und wider unseren Willen; er gibt diesem Personalverband Sonderverwaltung und Sondergerichtsbarkeit – wider die Vernunft und gegen unseren Protest. Die künstliche Unterscheidung zwischen Zivilist und Soldat beliebt er, aber den natürlichen Interessenunterschied verschiedener Nationen und die Interessengemeinschaft der Nation übersieht er geflissentlich. Die Interessengemeinschaft der Kapitalisten sieht er, er organisiert diese in der Handelskammer und räumt ihnen Selbstverwaltung ein. Die Interessengemeinschaft der Lohnarbeiter übersieht er, verdunkelt er und wenn sich diese in Gewerkschaften selbstorganisieren un,d Selbstregieren wollen, stellt er ihnen Hindernisse in den Weg auf Schritt und Tritt. Ungleich verteilt er Licht und Schatten, hier schafft er, dort verbietet er ohne Grund Organisationen.

Wir aber fordern Verbandsrecht für alle durch reale Interessen Verbundenen, Selbstregierung aller Verbände, wobei natürlich der höhere, umfassendere Verband die engeren sich einordnet. Und auf diesem Wege machen wir in doppeltem Sinne nicht Halt vor der Nation: Wir versagen ihr nicht wie der bürgerliche Staat seinen unterworfenen Nationalitäten das Verbandsrecht – und also sind wir nationaler als irgend eine bürgerliche Partei. Wir fordern dagegen auch, dass sich jede Nation eingliedere in das Ganze der Kulturmenschheit, diesen höchsten Menschenverband, wir fordern das auch von einer herrschenden Nation – und also sind wir international und tragen schmerzlos den fälschen Vorwurf der Nationslosigkeit aus dem Munde der Herrennationen. Die nationale Selbstregierung ist den Sozialdemokraten nicht eine willkürliche besondere Erfindung für den besonderen Fall, sie ist nichts als die konkrete Anwendung ihres allgemeinen Grundsatzes der Selbstregierung auf einen konkreten Menschenverband, also der Ausfluss eines allgemeinen politischen Prinzips.

Und dieses Prinzip ist berufen, Schritt für Schritt alle die geltenden Staatsprinzipien: Monarchismus und Republikanismus, Teilung der Gewalten, Autonomie und Selbstverwaltung, Zentralisation und Dezentralisation etc. abzulösen und den Herrschaftsstaat zu ersetzen durch das Gemeinwesen freier Menschen.
 

II.

Trotz ihres kümmerlichen Rechtsdaseins stehen die Kronländer dennoch in hoher Wertschätzung. Das hat sich erst jüngst in der Landesfinanzen-Enquete gezeigt, wo der Vertreter der sogenannten »Reichs«partei Pattai so ziemlich alle Oberflächlichkeiten, die seit Jahrzehnten zugunsten der historisch politischen Individualitäten angeführt werden, vorgetragen hat, und dies in der ahnungslosesten Unbekümmertheit um all den Jammer, den die Kronländer, Ungarn voran, seinem geliebten Reich bereitet haben. Mit diesem gedankenlosen Lesebuchpatriotismus sich zu befassen hiesse ihm zu viel Ehre erweisen. Heilig sind die Kronländer einigen Nationen aus guten Gründen – aus denselben, aus denen uns die Grabstätten unserer Vorfahren heilig sind. Nicht Gegenwartsglück und Zukunftshoflnung drücken sie aus, sondern den brennenden Schmerz um eine verlorene unwiederbringliche Vergangenheit. Ueber Prag liegt die Trauer um einen untergegangenen Staat, über Wien die Resignation nach der Habsburgischen Weltmonarchie und dem katholisch-deutschen Kaiserreich, nach jener Zeit, in der es nur eine Kaiserstadt gab. Heute gibt es unter den deutschen Städten eine zweite und diese ist grösser, reicher und mächtiger. Zu dieser Trauer gesellt sich der Vorwurf gegen jene Herrenklassen, die das Vaterhaus der Nation leichtsinnig verspielt haben, die bittere Erinnerung, dass die Herrenklasse vorerst das eigene Volk bis zur Kraft- und Wehrlosigkeit ausgeplündert, so dass es hinterher dem fremden nicht widerstehen konnte. Leibeigenschaft, Fronknechtschaft und Hörigkeit sind die brennenden Erinnerungen an die Länder, und nicht die hohen Ständesäle, sondern die kalten moderigen Felsenlöcher des Spielbergs – jedes Kronland hat seinen Spielberg – stehen am lebendigsten im Gedächtnis der Massen.

Und wenn sie Rückschau halten über das letzte Jahrhundert und vorschauen in die Zukunft ihres Sehnens, so begreifen sie den geschichtlichen Prozess, der ihnen des alte Vaterhaus genommen hat und ihren Kindern eine neue Heimstatt schaffen soll. Vordem war das Land alles – es war für sie Leibeigenschaft. Aus dieser hat sie die fürstliche Reichsgewalt errettet, die sie zugleich zu freizügigen heimatlosen Proletariern gemacht. So glichen sich in beiden Zeiten Heimat und Knechtschaft, Befreiung und Heimatlosigkeit aus. Nun aber soll in Zukunft das Volk selbst an die Reihe kommen, das Volk vorangehen dem Landesherrn und dem Reichsfürsten. Die Vielherrschaft der Stände ward gebrochen durch die Alleinherrschaft, durch den Absolutismus, auf dass die Demokratie über beide triumphiere. Die Ritterburgen des Vorrechts der Feudalen zu schleifen, war der historische Beruf der bürgerlichen Bureaukratie, damit sie selbst als Uebergang zur Freiheit der Volksstämme diene: Vom Land über den Staat zur Nation – das sind die drei Marksteine, die der politischen Entwicklung gesetzt sind. Sie führen hinaus über den Einheitsstaat und über das Kronland zu höheren Formen.

Sozial haben die Kronländer nicht anderes bedeutet als die Grundherrschaft – sie war ihr Glanz und ihr Untergang. Der Staat hat an die Stelle der einen bevorrechteten Besitzform das Vorrecht des Besitzes überhaupt, des Kapitals in allen seinen Formen, gesetzt. Der Gesamtstaat ist die breite Rollbahn der Tauschwerte geworden. Ueber sie hinaus weist das Regime der Arbeit, das wir anstreben, ein Gemeinwesen mit neuer Form und neuem Inhalt: Die Grundherrschaft wich dem Imperium des Staates, dieses Imperium muss weichen der sozialen Verwaltung. Die Grundherrschaft lebte sich aus in den Landständen, das staatliche Imperium im Staatsminister und Reichsrat, die soziale Verwaltung aber braucht ein neues leistungsfähiges Organ, sie braucht den Kreis.

Endet die politische Entwicklung notwendig in der nationalen Selbstregierung, so schliesst die soziale vorläufig ab in der demokratischen Selbstregierung im Kreise. Weil die Kreise in ihrer grossen Ueberzahl national einheitlich sein müssen, so schliessen sich die nationalen Kreise von selbst als homogene Glieder zusammen zum Ganzen der Nation. Beide Entwicklungen münden so in dasselbe Ergebnis: Es wird möglich werden, an Stelle des verlorenen Vaterhauses der Vorfahren die sichere Heimstatt der Kinder zu bauen, in der sie sich selbst-regieren. Und also schliessen wir die Bücher der Vergangenheit, überwinden die Trauer an den Ruinen, vergessen Vorwurf und Verbitterung gegen die untergegangenen Herrenklassen und unser Denken wendet sich schaftensfreudig der Zukunft zu.

Der Sozialdemokrat verliert sich nicht an Ahnenkult und Ruinenverehrung. Vorwärts von den Ständen durch den Absolutismus zum Volke, von den Ländern durch das Reich zur Nation, von der Grundherrschaft durch die Staatseinheit zur Selbstregierung im Kreise: Das muss unsere politische Devise sein!

Für das, was wir wollen und brauchen, was das Proletariat haben muss, sind Kronland und Einheitsstaat ungeeignete Gefässe, unzulängliche Formen.

Der Staat mit seinem Imperium mag die Spitzbuben fangen, Verbrecher henken, allgemeine Rechtsregeln setzen, aber die soziale Verwaltung führen kann er nicht. Das können nur kleinere, übersehbare, in sich einheitliche Gemeinwesen. Solche sind die Kronländer nicht.

Von Beginn unseres Konstitutionalismus bis heute sind die Autonomisten fast immer am Ruder. Haben sie uns eine wirkliche Selbstregierung gebracht?

Sie haben es immer versucht und niemals vermocht!

Sie werden es in alle Ewigkeit nie vermögen!

Sie wissen das und werden doch nie einsehen und zugestehen, warum!

Das Kronland ist das Hindernis.

Jeder sieht natürlich sein Kronland, jeder denkt sich recht verständig aus, welche Kompetenzen sein Kronland haben müsste und könnte. Gegen seine Rechnung ist an sich nichts einzuwenden: »Mein Land ist so gross, hat eine solche Menschenzahl, so viele finanzielle Mittel – es braucht somit diese Kompetenzen!«

Ein ganz untrüglicher Schluss.

Aber leider. Hätten wir lauter Konländer wie Böhmen – es ginge. Hätten wir lauter Ländchen wie Vorarlberg – es ginge auch. Aber wir haben 17 Kronländer, die an Grösse und Struktur total verschieden sind. Für sie ist ein gleiches Mass von Kompetenzen nicht auszudenken! Passt eure »Autonomie« Böhmen an, so brechen unter ihr Schlesien, die Bukowina, die Alpenländer und Küstengebiete zusammen. Nehmt Vorarlberg, Schlesien, Salzburg als Mass, so gebt ihr den grösseren Ländern eine monströse Verwaltung, die nicht mehr sozial, sondern bloss bureaukratisch sein kann.

Die Disparität der Kronländer schliesst jede vernünftige Ordnung der Selbstregierung aus, man sage und tue dagegen, was man wolle. Das vor allem müssen wir festhalten und wir werden nicht länger einem Wahne nachjagen. Das ist der Grund, warum die Autonomisten nichts anderes als vage Phrasen produzieren können.

Das ist auch der innerste Grund, warum man den Ländern nur Stücke der geteilten Regierungsfunktionen angedeihen lassen konnte. Bei besserem Willen wäre es auch nicht besser zu machen gewesen.

Will man den strikten Beweis für die Richtigkeit der Diagnose : Wohlan denn: Die wirkliche, volle Staatsregierung konnte sich an die Kronlandsgrenzen nicht binden. Sie hat Vorarlberg mit Tirol, sie hat die Küstenländer vereinigt zu Statthalterschaften. Der Regierungsbezirk, der wirklich historisch ist, das ist das Guber-nium gewesen und nicht das Kronland! Die 17 Kronländer waren in neun Guber-nien untergeteilt.

Damit der Beweis vollständig sei: Wo mehrere Ländchen unter einer Statthalterschaft als der Nachfolgerin des alten Guberniums gemeinsam verwaltet werden, gibt es viel weniger Klagen als in Galizien, wo die zwei Gubernien Krakau und Lemberg in eines verschmolzen wurden.

Für die Lokalverwaltung aber ist der Kreis der historische Sprengel. Kronländer, die nur einen oder zwei alte Kreise umfassen, verwalten sich auch heute klaglos und unbureaukratisch; unbefriedigend.und sanierungsbedürftig sind die grösseren Kronländer.

Die volle Selbstregierung der Kronländer ist technisch und legislatorisch unmöglich, ihre Disparität widerstreitet jeder verfassungsmässigen Ordnung.

Mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist jeder der sogenannten »autonomistischen« Versuche.

Dazu kommt, dass selbst das geringste Ausmass an Autonomie, die man den meisten Ländern als Trägern zuweist, sofort verderblich wird.

Selbstregieren kann sich nur, wer ein »Selbst«, eine homogene Ganzheit darstellt. Fehlt diese, so verwandelt sich die Selbstregierung in ihr Gegenteil, in die Herrschaft des einen über den andern, die Autonomie in Heteronomie, die Eigenherrlichkeit in Fremdherrschaft, die soziale Fürsorge in politischen Krieg.

Die Katholiken bilden in religiösen Dingen eine einzige Homogenität, ihre Kultusautonomie mag sich also über alle Zonen erstrecken, es wird niemand durch sie belastet. Anders bei Territorien mit ihrer Gesamtbevölkerung, die sich selbst sozial verwalten sollen. Sie dürfen an sich nicht zu gross sein, sie dürfen sich vorweg nur soweit ausdehnen, als die verwaltende Person mit ihrer Tatkraft reicht, als sie Subjekte und Objekte überschauen kann. Ein Selbstregierungssprengel, der soziale Verwaltung leisten soll, darf vor allem nicht beträchtliche Minderheitsgebiete mit absolut gegensätzlichen Interessen mitumfassen. Der Industrieboden um Prag kann mit dem industrielosen Südostböhmen nicht zu einer Verwaltungsgemeinschaft verbunden sein, ohne dass entweder die Industriebevölkerung da oder die Agrarbevölkerung dort ausgebeutet, vernachlässigt und aufgereizt wird, ohne dass sich in der Verwaltung statt der sozialpolitischen Arbeit der unablässige und unfruchtbarste Widerstreit einstellt. In Niederösterreich ist der Gegensatz zwischen Wien und Umgebung einerseits und dem Flachland augenblicklich durch die ökonomische Abdankung Wiens verkleidet, aber er besteht fort. Eine ähnliche Sachlage macht sich in der Verwaltung aller grösseren Kronländer fühlbar und verschuldet zum ersten Teile die Unfruchtbarkeit der Landesautonomie. Den Rest besorgt dann die nationale Verschiedenheit. Wo sie vorliegt, steht die nationale Minderheit immer unter dem Eindruck der Fremdherrschaft und verharrt in einer ständigen, latenten oder offenen Revolte, die alle Arbeit lahmlegt. Der böhmische Landtag beweist hier vollständig.

Solchen Körperschaften, mögen sie noch so demokratisch zusammengesetzt sein, die Wahrung seiner heiligsten Interessen anzuvertrauen, wird sich kein vernünftiges Proletariat entschliessen. Denn ihm ist die Verwaltung nicht wie den bürgerlichen Landespolitikern Gegenstand des Ehrgeizes für altgediente Lokalgrössen oder junge Schreier, Verwaltung heisst ihm Fürsorge für die Stunde der Krankheit, des Alters, des Todes, Fürsorge für seine vermögenslos heranwachsenden Kinder in und ausserhalb der Schule, Fürsorge für die Gesundheit in der Werkstatt, in der Wohnung, in den Strassen. Dieser neue Begriff der Verwaltung, den das Proletariat an den Staat heranbringt, weicht weit ab von der Sicherheitspflege der Bureaukratie und der Eigenregie des Ständevermögens, der sogenannten »Selbstverwaltung« unserer Autonomisten, also von dem, was bis vor kurzem »Verwaltung« hiess.

Einige wenige Stücke dieser sozialen Verwaltung haben die Christlichsozialen – allerdings in ihrer Weise – in der Gemeinde Wien und im niederösterreichischen Landtag aufgegriffen. Frage sich doch jeder Kronlandsschwärmer, ob nur dieses Wenige in diesen Körperschaften hätte durchgeführt werden können, wenn sie eine nationale Minorität von ⅓ oder ⅖ in sich geschlossen hätten? Dabei ist ganz nebensächlich, ob der Minorität faktisch unrecht geschähe im landläufigen Wortsinne. Dass die Nation überhaupt Minorität, dass sie einer anderen Nation unterstellt ist, das empfindet sie schon von vornherein als das Unrecht schlechtweg, als Entehrung. Und darum muss man jede Hoffnung darauf fahren lassen, diese Wunde durch das vollendetste Pflaster der Gleichberechtigung heilen zu wollen. Die Wunde entspringt keiner besonderen Verletzung, sondern der kranken Konstitution selbst, sie bricht immer wieder auf, weil ein Fremdstoff im Blute ist, und sie bricht bei jeder Mehrheit und bei der Minderheit aus; die Mehrheit fühlt sich beständig gereizt und erbittert, weil sie nicht nach Willkür herrschen kann, obwohl sie doch offensichtlich Mehrheit ist; die Minderheit ist, auch wenn ihr nichts geschieht, immer nervös und empört, weil sie ewig zur Minderheit verdammt ist.

Solchen kranken Körpern kann das Proletariat die soziale Verwaltung nicht zumuten. Herkulische Kraft und Gesundheit gehört dazu, die bürgerliche Klassenherrschaft, den antisozialen Geist des Bürgertums, den Arbeiterhass und Almosenstandpunkt der Herrenklasse zu überwinden. Solche Kraft können nur national abgegrenzte oder national geteilte Kreise und ebensolche Gemeinden entwickeln. Die Selbsterhaltung und der Aufstieg des Proletariats fordern die Kreisverfassung auf der Basis des gleichen Stimmrechtes.

Viele mag es schmerzen, tief schmerzen, von der Grabstätte der Ahnen sich loszureissen, die Geschichte endlich zur Geschichte zu machen und sich einer neuen Zukunft zuzuwenden. Aber die Lebensinteressen der Arbeitermassen fordern es gebieterisch. Entschlossen lasst uns Abschied nehmen von dem, was gewesen: zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Unser Reich liegt jenseits von Kronland und Staat. Unsere neue Heimat ist die Nation, unsere Heimstatt die Demokratie der Lokalverwaltung!

Das heisst aber keineswegs, das Kronland abschaffen. Darin haben wir in dem Wunsche, das Neue unserer Auffassung besonders zu markieren, geirrt und brauchen uns des Irrtums nicht zu schämen. Staaten von der Ausdehnung Oesterreichs brauchen Mittelstellen der Verwaltung. Wir haben auch von jeher Gubernien besessen und können sie nicht missen. Die Statthaltereien, die Oberlandesgerichte, die Finanzlandesdirektionen etc. sind nicht zu beseitigen, sie sind in Organe der Selbstregierung zu verwandeln. Und so gewinnt das Kronland mehr an Selbstregierung zurück, als es an die Lokalverwaltung abgibt. Die Sprengel der Mittelstellen aber müssen die grossen geschlossenen Territorien umfassen – ein solches ist Böhmen und so ist seine administrative Einheit als Mittelstelle der politischen und verkehrstechnischen Selbstregierung schon durch seine geographische Konfiguration diktiert. Gerade Böhmen ist darin gesichert. Dagegen werden die mittleren Kronländer, alle diejenigen, die nicht zugleich ein Oberlandesgerichtssprengel sind, sich eher einen Zusammenschluss gefallen lassen müssen.

So macht unsere Kritik nicht einen Sprung in der historischen Entwicklung, sie legt die geschichtliche Ueberlieferung nicht in Trümmer, um auf dem Trümmerfeld Phantasiegebilde zu verwirklichen. Sie demoliert das Kronland nicht. Im Gegenteil. Wir beweisen, dass die Kronländer nur ein elendes Stückwerk von Selbstregierung darstellen. Wir konstatieren, dass Mittelstellen der Selbstregierung notwendig sind, dass ihnen das volle Mass der Kompetenzen in territorialen und ökonomischpolitischen Agenden gebührt, dass sie in diesen Angelegenheiten zu wahrhaften Selbstregierungskörpern auszubauen sind. Wir setzen so das alte bureaukratische Gubernium demokratisch fort. Daneben aber setzen wir das allerhistorischeste Forum der Lokalverwaltung, den Kreis, wieder in seine Rechte ein und erfüllen ihn mit dem echtproletarischen Inhalt der sozialen Verwaltung. Wir bauen überall auf dem historischen Boden fort, aber wir erfüllen den Neubau auch mit neuem Geiste. Und diese volle geistige Erneuerung stellt die Revolution der Gehirne dar, welche die Evolution der Dinge begleitet.

* * *

Fussnoten

1. Regierung in diesem Sinne ist eine Tätigkeit und bedeutet nicht dasselbe wie Ministerium.

2. Art. 2 des Staatsgrundgesetzes über die Regierungs- und Vollzugsgewalt.

3. Innerhalb dieser Scheidung mag dann der eine mehr auf die zentrale, der andere mehr auf die lokale Selbstregierung Gewicht legen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024