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Der Kampf, Jahrgang 1 8. Heft, 1. Mai 1908, S. 256–261.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Moderne Spinnmaschinen kann man nicht in den Wohnstuben der Dorfweber und Dampfkessel nicht in deren Küchen unterbringen. Das Bauwerk muss angepasst sein dem Wohn- und Werksbetriebe, den es fassen soll. Diese Selbstverständlichkeit verleugnen wir sofort, wenn es sich um den Staat und die Rechtseinrichtungen des Staates handelt: Hier will man das Gesetz der Anpassung nicht gelten lassen. Die Tatsachen des modernen Lebens beginnen allenthalben über unsere überlieferten Rechtseinrichtungen hinauszuwachsen, sie sprengen ihr Gehäuse wie der Schmetterling die Puppe. Aber diejenigen, die sich mit Vorliebe die »politischen Praktiker« nennen, die sich so gerne auf die »tatsächlichen Verhältnisse« berufen, verkennen die Tatsachen beharrlich und wollen sie zurückzwängen in das alte Gehäuse armseliger Rechtseinrichtungen, die sie nicht mehr fassen. Und so geraten just diese Praktiker in die hilflosesten Wirrnisse, wo einfache Abhilfe gegeben ist.
Zu diesen Betrachtungen regt uns der Lauf der Brünner Universitätsfrage an. Hier sind wir Oesterreicher wieder frappiert von einem grotesken Widerspruch. Was in aller Welt sich selbst versteht, ist in Oesterreich unmöglich; was sonstwo sonnenklar ist, erscheint bei uns undurchdringlich dunkel; was sonst alle befriedigt, wird hier höchst bedenklich. Neue Universitäten verlegt man in Kultur- und Verkehrszentren, obschon man Hörsäle nicht just an Bahnhöfe und Hammerwerke anbaut. Und Städte wetteifern sonst um das Vorrecht, eine Hochschule zu besitzen. Länder, die arm sind an grossstädtischer Kultur, bemühen sich sonst die Kulturstätten zu konzentrieren und Oesterreich gehörte wohl zu diesen Ländern. Trotzdem aber redet man bei uns ernsthaft davon, Universitäten auf die Gänseheide von Kremsier oder den Krautacker von Mödritz zu verlegen, und die Unterrichtsverwaltung wandert von Ort zu Ort wie die selige Göttin Latona, die ihre Zwillinge gebären will, ohne eine Ruhestatt zu finden. Die Unterrichtsverwaltung weiss nicht, wo sie mit dem deutsch-tschechischen Universitätszwilling niederkommen darf. Woher dieser neuerliche Widerspruch echtösterreichischer Politik?
Eine Gemeinde protestiert – und eine ganze Nation gibt ihr recht. Wie die rechtliche Ordnung des nationalen Lebens einmal aussieht, hat sie sogar recht. Und damit der Widerspruch vollkommen wird – auch die andere Nation, das tschechische Volk, ist vollständig im Recht, wenn sie nicht auf die Gänseheide geschickt werden will. Unrecht hat nur unsere Verfassung, welche das alles überflutende nationale Leben heute noch in eine Gemeindeverfassung zwängen will, die auf die engen, starren Verhältnisse der bäuerlichen kleinbürgerlichen Welt um 1860 passen mochte; unrecht hat unsere Gemeindeordnung, die in wahrhaft paradiesischer Unschuld nicht das geringste davon weiss, dass es etwas Derartiges gebe, wie – verschiedene Nationen. Unrecht haben zugleich alle die politischen Praktiker und Tatsachenanbeter, welche meinen, das bestehende Gemeinderecht sei praktisch, bloss weil es noch fortbesteht, und welche behaupten, diese Gemeindeordnung sei Tatsache, während sie tatsächlich die Unordnung in allen Gemeinden, den ständigen Krakeel mit zerschlagenen Köpfen und Fensterscheiben bedeutet.
Sämtliche Absurdheiten der Gesetze, die in Oesterreich das örtliche Zusammenwohnen der Menschen regeln, vorzuführen, haben wir hier keinen Anlass. Brockhausen hat die hauptsächlichsten derselben in seinem letzten Buche über die österreichische Gemeindeverfassung [1] gar wunderbar dargestellt. Auch was uns am nächsten läge, das brutale Unrecht dieser Gemeindegesetzgebung an den breiten Massen der Besitzlosen sowohl als auch an der gesamten Industriebevölkerung mit Einschluss ihrer Oberschichten können wir diesmal nicht aufzeigen. Wir haben heute nur das nationale Moment der Frage zu behandeln.
Wo immer Menschen örtlich beisammen wohnen, ergeben sich aus dieser Grundtatsache des Zusammenwohnens allein freundliche und feindliche Beziehungen, gemeinsame Interessen und faktische Gegensätze. Diese Beziehungen sind das tatsächliche Substrat, die gegebenen Verhältnisse, an die sich das Gemeindegesetz anpassen muss. Die räumliche Nachbarschaft ist unvermeidbar, unabänderlich – das Gesetz, das sie regelt, ist wandelnd, ist frei geschaffen. Die Gemeindeorganisation ist das von Menschen geschaffene Gehäuse, welches das Zusammenleben der Beisammensitzenden fassen soll. Ein solches Zusammenleben liegt nicht nur dann vor, wenn die Nachbarn Wand an Wand einander bauen wie im geschlossenen Orte, beim Dorfsystem, sondern auch bei zerstreuter Siedlung, beim Hofsystem.
Wir hatten 1900 in Oesterreich Ortschaften mit
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unter 500 |
Einwohnern |
43.179 |
von |
500 bis 2.000 |
Einwohner |
10.077 |
von |
2.000 bis 5.000 |
Einwohner |
1.344 |
von |
5.000 bis10.000 |
Einwohner |
198 |
von |
10.000 bis 20.000 |
Einwohner |
74 |
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über 20.000 |
Einwohner |
44 |
Nach unseren Gesetzen haben diese Ortschaften als solche noch nicht Gemeinderecht und gemeindliche Organisation, aber sie bilden doch eine rechtliche Verwaltungsgemeinschaft mit eigenen Rechten, Pflichten und Organen, mit der Fähigkeit eigenes Vermögen zu besitzen und zu verwalten. In mehr als 40.000 Fällen also haben Nachbarschaften von nicht mehr als 500 Einwohnern, in mehr als 50.000 Fällen solche von unter 2.000 Seelen öffentliche Gemeinschaftsrechte kraft der Tatsache ihres geschlossenen oder – bei Hofsystem – nicht einmal geschlossenen Zusammenwohnens.
Diese Ortschaften nun sind die Grundlage von 23.227 politischen Gemeinden mit dem vollen Rechte einer organisierten öffentlichrechtlichen Person mit geordneter Vertretung und Verwaltung. Von diesen 23.000 haben ganze 409 Gemeinden mehr als 5.000 Seelen, eine grosse Zahl aber nicht mehr als 5oo Seelen oder 100 grossjährige Männer. [2]
Indessen, nicht nur Ortschaften von sehr geringer Bevölkerungszahl haben bei uns Gemeinderecht, auch privaten Grundbesitzungen steht es zu! In Galizien haben 5.523 behauste oder unbehauste Gutsgebiete, in der Bukowina 197 Gutsgebiete innerhalb ihres Umfanges alle Rechte und Pflichten einer Gemeinde mit Ausnahme des Polizeistrafrechts!
Das aber, was 100 Haushaltungen eines aufgelösten Bergdorfes, was einem einzelnen Gutsgebiet im Osten garantiert ist, sich in einer organisierten Gemeinde auszuleben, die gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam zu verwalten, das Schulwesen nach eigenem Willen auszugestalten, dieses Recht besitzen Zehntausende enge beieinander wohnende hochkultivierte Stadtbewohner nicht, wenn zwischen ihnen eine nur knappe Mehrheit anderer Nationalität wohnt, die die Gemeinde beherrscht. Das natürliche Recht eines Gebirgsdorfes, das Recht eines schlachzizischen Privatmannes, besitzen die 20.000 Deutschen der Stadt Prag, die 9.000 Deutschen von Pilsen, die 23.000 Tschechen von Budweis und die 38.000 Tschechen von Brünn nicht, weil auf demselben Stadtboden auch andere wohnen. Worin behindert sie das Dasein dieser anderen? Können sie darum, weil die anderen auch da sind, schwerer an einem zentralen Punkte zusammenkommen als die Einwohner eines Alpendorfes von ihren Höhen herab? Kann man sie schwerer kon-skribieren, in eine Wählerliste verzeichnen, in einen Steuerkataster eintragen? Was hindert denn, sie in eine Körperschaft zu vereinigen? Und wie kann ihnen länger versagt bleiben, was in einem grossen Teile des Staates einem begüterten Privatmann eingeräumt wird?!
Andererseits – geben sie sich nicht alle Mühe, neben dem Rechte und ausserhalb des Gesetzes als Gemeinden sich zu betätigen? Sie bauen sich privatim eine Art Rathäuser, das »Deutsche Haus« und das »Besedni dům«, sie besteuern sich selbst, stellen ihre Vertrauensleute, ihre nationalen Räte auf, stellen Beamte an, bauen Schulhäuser, Kindergärten und Turnsäle, ja sie ziehen sich in Strassen zusammen, so dass sie endlich ganze Ortsteile faktisch allein bewohnen und besitzen, Tür an Tür und Wand an Wand. Sie bilden unter unendlicher Mühe, unter unaufhörlichem Geschrei faktisch Gemeinden – das Recht aber versagt ihnen die Anerkennung und die Hilfe. Und so müssen sie, wenn ihre freie Organisation nicht zerfallen soll, immer wieder schreien und kämpfen und den Eifer wach erhalten, damit die freiwillige Steuer nicht versiege und die Quasi-Gemeindeanstalten nicht gefährdet werden. Schade, dass sie nicht wenige arme, dumme Bewohner eines Bergdorfes sind – dann besässen sie Gemeinderecht. Weil sie aber zu mehreren Tausenden und Zehntausenden Mitbewohner einer Stadt sind, bleiben sie auf eine solche unorganisierte Organisation angewiesen und sind nichts, absolutes Nichts in der Gemeinde.
Aber die anderen, die die Mehrheit sind – nein, die vielmehr kraft eines lächerlichen Wahlkörpersystems, vielleicht kraft der Wahlrechte von Auswärtigen, Abwesenden (absentees) und fingierten Gemeindeangehörigen als Minderheit das Recht haben, die Mehrheit zu spielen – wie gut haben es diese anderen! Gesetz und Behörde organisieren sie, leihen ihnen alle Gemeinderechte und gestatten ihnen, für die gemeinsamen Interessen gemeinsame Steuern auszuschreiben! Sie geniessen die Wohltat des Gesetzes, die den anderen versagt bleibt!
Wenn dies allein ihr Vorrecht wäre! Das Gesetz gestattet ihnen nicht nur eine Gemeinde zu bilden, was ihnen gebührt, es unterwirft auch die anderen ihrer Gemeinde, ihrer Herrschaft, ihrer Besteuerung: Es versagt ihnen nicht nur die Selbstregierung, es wirft sie geradezu unter Fremdherrschaft.
Und nun soll sich jemand darüber wundern, dass dieser krasse Widerspruch des geltenden Rechtes und der tatsächlichen Verhältnisse unaufhörliche Kämpfe, wachsende Erbitterung erzeugt! Und nun urteile man über die politische Weisheit, die die Parteien beschwört, von Hetzereien abzustehen, die friedliebende Gesinnung predigt, die in den nationalen Kämpfen, in den verprügelten Studenten und eingeschlagenen Fenstern fatalistisch nichts als den Ausfluss historischer Rassenkämpfe sieht, statt zu erkennen, dass das Gehäuse unseres Rechtes an das ausfüllende Leben nicht angepasst ist.
Warum halten wir an der ausschliesslichen Mehrheits- und Gebietsgemeinde fest? Weil wir kein anderes Muster von den Weststaaten – den geschlossenen Nationalstaaten! – überkommen haben! Wann und wie wurden unsere Gemeinden abgegrenzt? Wie die Patrimonialherren vor 1848 die Gebiete ererbt und ersessen hatten, wie sie von alten Stadtprivilegien verliehen wurden! Und warum hat unsere Gemeindegesetzgebung das nationale Moment gar nicht berücksichtigt.- Weil bis 1848 nicht nur das Landvolk, sondern auch der Städter an den Boden gebunden war, weil innere Wanderungen in kaum beträchtlichem Ausmass stattfanden und die Einsprachigkeit der Ortschaft mit geringfügigen Ausnahmen die Regel bildete. Dort, wo zwei Stämme nebeneinander wohnten, wie in Mähren Christen und Juden, dort hatte auch das alte Recht zwei Gemeinden nebeneinander errichtet – jenen Zeiten gemäss räumlich nebeneinander. Und diese Doppelgemeinden haben wir übernommen und führen sie fort, obschon sie heute – als Gebietsgemeinden zum mindesten – sinnlos sind.
Seit 1848 und 1862 haben die Nationen eine gewaltige Wandlung mitgemacht, das nationale Moment ist zum bestimmenden Moment des ganzen bürgerlichen Staates geworden – trotzdem führen wir das überlieferte Gemeindewesen fort mit seinen aus der patrimonialen Epoche herübergenommenen örtlichen Grundlagen und seiner aus den Weststaaten importierten rechtlichen Ordnung.
Was uns aber nach dem oben Ausgeführten offensichtlich nottut, ist neben der politischen Ortsgemeinde die rechtliche Möglichkeit der Begründung von nationalen Minoritätsgemeinden neben der Nationalgemeinde der Mehrheit, also von nationalen Doppelgemeinden als organischen Gliedern der politischen Ortsgemeinde. [3]
Hätten wir eine solche Organisation von allem Anfang an besessen, so wäre das nationale Leben sofort in diese getrennten Flussbette geflossen, die nationale Bewegung wäre sofort vor innere Verwaltungsaufgaben gestellt und nicht ausschliesslich zum nationalen Grenzkampf getrieben worden. So konnte die Nation sich nur in der politischen Ortsgemeinde ausleben, die Ortsgemeinde wurde zum heissumstrittenen nationalen Bollwerk, zum eigentlichen Kampfherd des Nationalismus und im Laufe der Jahrzehnte wurde der anfängliche Mangel des Gesetzes zum schreiendsten Widersinn und Unrecht und nahezu unheilbar.
Die ältesten Einrichtungen einer Gemeinde, ihre Bauten, ihr Vermögen waren zu einem grossen Teil durch Generationen angesammelte und vererbte Besitztümer. Die Altansässigen mochten sie mit einigem Rechte als ihr Gut betrachten, als Eigentum ihrer Nationalität, an dem sie nicht jedermann teilnehmen lassen wollten. Begreiflich ist also wohl, wenn die Reichsgemeindeordnung vom Jahre 1862 auswärtige und Gemeindemitglieder, unter diesen Gemeindegenossen und Gemeindeangehörige unterscheidet und ausserdem das Recht in der Gemeinde nach dem Zensus scheidet. Das war begreiflich in Ansehung des von der Vergangenheit übernommenen Gutes, aber schreiendes Unrecht war diese Ordnung pro futuro, für die heraufsteigende bürgerliche Wirtschaftsepoche und das neue Steuersystem der Gemeinde. Brockhausen hat aufgezeigt, wie bei dieser Rechtsordnung [4] bald der Auswärtige zum eigentlichen Gemeindebewohner wird, während der Gemeindeangehörige regelmässig in der Fremde herumirrt. Die seither neugeschaffenen Gemeindeeinrichtungen – sie überwiegen das Erbgut weitaus – sind mitbezahlt von den Zugewanderten, aber die herrschende Mehrheit oder Nation verfügt über sie wie über ein Nationalgut. Mehr als anderswo dreht sich der nationale Kampf hier um das Mein und Dein. Unterrichts-, Kranken- und Versorgungsanstalten, Vermögenswerte von oft vielen Hunderttausenden überantwortet der Stimmzettel der nationalen Verwaltung. Was unter der Voraussetzung bestehender Nationalgemeinden von vornherein seinen sicheren unbestrittenen Besitzer gehabt hätte, schwankt jetzt als Siegespreis zwischen den Nationen wie ein herrenloses Gut, das dem gehört, der es erbeutet. Und unser Gemeinderecht kennt nicht einmal eine Beuteteilung: Entweder du siegst – dann bist du alles und hast du alles in der Gemeinde; oder du unterliegst – und du bist der Niemand und hast nichts. Siegst du, so hast du nicht nur das deine, sondern auch den Zugriff auf den Steuersäckel der anderen; unterliegst du, so verlierst du nicht nur, was du schon besessen, sondern bist in alle Zukunft tributpflichtig.
So hat unsere Gemeindeverfassung im Jahre 1862 unbeabsichtigt eine Spielbank errichtet, wo mit Stimmzetteln ein Va banque-Spiel um öffentliches Gut von Gesetzes wegen getrieben wird, und es ist kein Wunder, wenn jeder Spieler mit der ganzen Leidenschaft jede Spielchance verteidigt. Und nachdem sich das Svstem durch ein halbes Jahrhundert eingefressen hat, wird es fast unmöglich, die Bank aufzulösen und das vorhandene Inventar zu teilen. Ohne das und ohne nationale Doppelgemeinden ist der Friede nie und nimmer zu haben. [5] Wir brauchen aus Gründen des nationalen Friedens eine neue Reichsgemeindeordnung, wir brauchen sie noch mehr aus sozialen Gründen, wie wir noch beweisen werden. Ein grosses Reformw’erk ist zu schaffen, ohne das Oesterreich ebensowenig den Frieden haben kann, wie ohne die vollzogene Wahlreform. Wir müssen alles dazutun, dass diese Einsicht Gemeingut aller wird.
Nationalgemeinden neben und unter den politischen Ortsgemeinden sind nicht nur notwendig, sie sind auch durchführbar.
Der sogenannte »Wirkungskreis« oder die Kompetenz der Gemeinden umfasst eine lange Reihe von Agenden, die national indifferent sind: die Sorge um die Sicherheit der Person und des Eigentums, die Erhaltung der Strassen, Wege, Plätze und Brücken, die Flurpolizei, die Lebensmittelpolizei und der Marktverkehr, die öffentliche Hygiene, die Sittenpolizei, Armenwesen und Wohltätigkeitsanstalten, Bau-und Feuerpolizei, die Vornahme öffentlicher Feilbietungen können ohne weiteres der politischen Ortsgemeinde Vorbehalten werden, wenn innerhalb derselben die verhältnismässige Vertretung und Beamtung gesichert ist. [6] Den Nationalgemeinden wären in erster Linie alle Kompetenzen zuzuweisen, welche nach dem Reichsvolksschulgesetz und den sonstigen Schulgesetzen den Gemeinden zustehen, ausserdem aber eine konkurrierende Kompetenz in allen Angelegenheiten der öffentlichen Fürsorge, ferner das Recht, eigenes Vermögen zu erwerben und zu verwalten und endlich das Recht auf gesonderte Besteuerung. Da die Schulverwaltung einen beträchtlichen Teil der Gemeindelasten verursacht, würden die Nationalgemeinden die politischen Ortsgemeinden sehr entlasten. Sie würden das vorhandene Schulinventar pro parte divisa nach seinem Werte übernehmen und in diesem Betrage Schuldner der Ortsgemeinde werden, beziehungsweise deren Schulden übernehmen. Die Konkurrenz beider Gemeinden in Schulsachen müsste der ganzen Bevölkerung zum Heile ausschlagen.
Denken wir uns Brünn oder Budweis am Tage nach der Reform: die quälende Angst, in dem Va banque-Spiel die Mehrheitsherrschaft auf einmal einzubüssen, ist geschw unden. Ob viele oder wenige Tschechen zuwandern, ist von Stund an für die nationale Gemeinde ganz gleichgültig. Ihre materiellen und Kulturgüter bleiben von jeder Zu- oder Abwanderung unberührt. Wirtschaftlich aber bedeutet die Zuwanderung Fremder nur ein regeres Geschäftsleben, steigende Grundpreise, erhöhte Verdienstgelegenheit. Der natürliche Sachverhalt wäre wieder hergestellt: Eine neue tschechische Anstalt in Budweis, eine tschechische Universität würde von allen begrüsst werden.
Wohl hätte die deutsche Nation auf den bevorrechteten Alleinbesitz zweier Städte verzichtet; aber um diesen Verzicht hätte sie die politische Auferstehung der Deutschen in Prag und Pilsen eingetauscht. Deutsche und Tschechen hätten gleichviel gewonnen und den Frieden sowohl als die führende Stellung in ganz Oesterreich als Daraufgabe erhalten.
Auch von zahlreichen kleineren Gemeinden Deutschböhmens würde der lähmende Bann der nationalen Sorge weichen. Sie können es heute nicht hindern, wenn tschechische Schulvereine Schulen begründen und soweit emporbringen, bis sie plötzlich von der Gemeinde übernommen werden müssen und deren Steuerlast plötzlich emporschnellen. Der Schulverein aber sieht seine Mittel mit einemmal freiund wirft sie in einen anderen Ort. Ist es nicht klüger, sich vorzusehen, die Minoritäten anzuerkennen und zugleich auf ihre eigenen Mittel zu verweisen? – Machen die Tschechen nicht die gleichen Erfahrungen mit deutschen Schulgründungen? Und ist es für sie nicht besser, ein gesichertes Minoritätsrecht zu besitzen als überall gleich einem Eindringling und Störefried aufgenommen und behandelt zu werden?
Eine einfache und leichte Aufgabe wird die Schaffung der Nationalgemeinden nicht sein : die genaue Umschreibung der Voraussetzung ihrer Begründung, ihre Organisation, die Kompetenzabgren-zung, ihre Einfügung in den Rahmen der politischen Ortsgemeinde, ihre finanzielle Fundierung auf der Basis eines wohldurchdachten compounding rates [7] – das sind die Hauptprobleme, die dabei gelöst werden müssen. Eines steht dabei vor allem fest: die Nationalgemeinde kann nur auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und direktenWahlrechts aufgebaut werden und also muss sie das bestehende Gemeindeunrecht im ganzen sprengen. Ein doppelter Grund für uns Sozialdemokraten, sie anzustreben: ist sie um der Selbstregierung der Nationen willen notwendig, und also national unvermeidlich, so wird sie um der politischen und sozialen Wirkungen wegen uns doppelt wertvoll. Wir müssen sie fordern, auch wenn die nationalen Bourgeoisien aus Angst vor dem gleichen Wahlrecht in der Gemeinde die nationale Selbstregierung zu verleugnen sich anschicken. Es ist den bürgerlichen Cliquen, die den Namen der Nation so oft eitel genannt haben, wohl zuzutrauen, dass sie heute das Eigenrecht der Nation zu verraten willens sind, damit nicht auch mit ihr das Volk zu seinem Recht in der Gemeinde gelange, dass ihnen die nationale Phrase auf den Lippen erstirbt, wenn sie zugunsten der Massen lebendige Wahrheit werden könnte. Aber wir sollen darum nicht locker lassen: die nationale Frage muss zum Hebel der Demokratie auch in der Gemeinde werden!
1. Brockhausen, Die österreichische Gemeindeordnung, Wien 1905. Dieses Werk hätte in jedem anderen Lande in der Wissenschaft und Politik das grösste Aufsehen hervorrufen müssen, bei uns bleibt es ungelesen und wirkungslos.
2. Es bestanden Ortsgemeinden und Gutsgebiete im Jahre 1900
mit |
weniger als 2.000 |
Einwohnern |
26.321 |
mit |
2.000 bis 5.000 |
Einwohner |
1.742 |
mit |
5.000 bis 10.000 |
Einwohner |
260 |
mit |
10.000 bis 20.000 |
Einwohner |
96 |
mit |
20.000 bis 50.000 |
Einwohner |
41 |
mit |
50.000 bis 100.000 |
Einwohner |
6 |
mit |
mehr als 100.000 |
Einwohner |
6 |
3. Eine Halbheit wäre es auch hier, blosse nationale Wählerkurien und Verwaltungssektionen zu begründen. Was faktisch eine Gemeinschaft ist, soll rechtlich als Gemeinde konstituiert werden.
4. Unser Gemeinderecht ist so kompliziert, dass gegenüber der mehrfachen Gemeindezugehörigkeit aus dem Wahlkörpersystem das Prinzip der nationalen Doppelgemeinden nicht als verwickelt bezeichnet werden kann.
5. Die Verteilung der Finanzlast zwischen den Nationen, das Problem einer nationalen Besteuerung, die finanzielle Auseinandersetzung über das vorhandene Gemeindevermögen muss einem besonderen Aufsatz vorbehalten bleiben.
6. Auch für das national höchst bedeutsame Submissionswesen für Lieferungen, die im Rahmen dieser Kompetenz ausgeschrieben werden, sind feste Normen notwendig und auch möglich.
7. Die Bedeutung dieses Instituts wird im Zusammenhang mit der Finanzfrage erörtert Werden-Hier nur so viel: Der Kremsierer Verfassungsentwurf enthält im § 95 die Bestimmung, dass der Miet- oder Pachtzins, von welchem eine direkte Steuer gezahlt wird, in dem Betrage dieser Steuerleistung nicht dem Eigentümer, sondern dem Mieter oder Pächter zugerechnet wird, soweit es sich um das Wahlrecht handelt. Diese Steuerzurechnung entspricht dem englischen compounding rates; sie beruht auf der Anerkennung der Tatsache, dass der Mieter und Pächter in Wahrheit der Steuerträger ist. Können wir diesen Rechtsgrundsatz in unseren Gemeinden zum Durchbruch bringen, so bricht das Wahlkörpersystem zusammen, das offensichtlich auf falscher Steuerbuchung beruht und einen ständigen politischen Steuerbetrug an dem Proletariat und der Industriebevölkerung überhaupt darstellt. In gemischtsprachigen Gemeinden muss die richtige Steuerzurechnung auch national bedeutsam werden. Die Steuerleistung wird hier nicht nur dem Individuum zugerechnet, sondern auch der nationalen Körperschaft zuzuweisen sein. Diese Steuerzuweisung muss alle national differenzierbaren Steuerquellen ergreifen, um eine gerechte Aufwandteilung zu bewerkstelligen. Die deutschen Arbeiter können auf die politische Zurechnung ihrer Steuerleistung im ganzen deutschen Gebiete nicht deshalb verzichten, weil ihre Anerkennung zugleich den tschechischen Arbeitern in Budweis zugute käme; die Arbeiterschaft kann sich aus einem eingebildeten Interesse der Nation – ihr wahres Interesse wird durch die Nationalgemeinde gesichert – nicht länger entrechten lassen.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024