MIA > Deutsch > J. Reed > Zehn Tage
Als wir am 18. November morgens erwachten, waren unsere Fensterbänke weiß behäuft, und die Flocken wirbelten so dicht, daß man keine zehn Schritte weit sah. Der schlammige Schmutz der Straßen war wie weggezaubert, und die eben noch trostlos düstere Stadt war weiß und schimmernd. Die Droschken mit ihren schwerfälligen Kutschern hatten schnellen Schlitten Platz gemacht, mit Führern, deren Bärte steif und eiszapfenbehangen waren. Trotz der Revolution und dem schrecklichen Sprung in die unbekannte Zukunft, den ganz Rußland zu tun sich anschickte, war mit dem Schnee die allerfröhlichste Stimmung in die Stadt eingezogen.
Alles war vergnügt. Die Menschen eilten auf die Straßen, und mit übermütigem Lachen breiteten sie die Arme aus, um die sanft und unaufhörlich rieselnden Flocken aufzufangen. Das Grau der Häuser war verdeckt; nur die goldenen und bunten Türme und Kuppeln leuchteten mit noch gesteigerter barbarischer Pracht durch den weißen Schnee.
Gegen Mittag kam auch die Sonne heraus, fahl und wässerig. Die Krankheiten der Regenzeit: Schnupfen und Rheumatismus, waren überwunden. Das Leben in der Stadt wurde fröhlicher, und die Revolution beschleunigte ihren Schritt ...
Eines Abends saß ich in einem „Traktir“ – einem Wirtshaus – gegenüber dem Smolny, mit niedriger Decke, lärmerfüllt, unter dem Namen Onkel Toms Hütte bekannt. Ein beliebter Aufenthaltsort der Rotgardisten. Eng gedrängt saßen sie dort um kleine Tische mit schmutzigen Tischtüchern und riesigen porzellanenen Teekannen, den Raum mit stinkigem Zigarettenqualm füllend, während die Kellner gehetzt hin und her rannten, schreiend: „Sejtschas! Sejtschas!“ (Sofort! Sofort!)
In einer Ecke saß ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns, der zu der Menge zu sprechen versuchte, aber bei fast jedem Satz unterbrochen wurde.
„Ihr seid Mörder!“ rief er, „eure russischen Brüder in den Straßen niederzuschießen!“
„Wann haben wir das getan?“ fragte ein Arbeiter.
„Am letzten Sonntag tatet ihr’s‚ als die Offiziersschüler ...!“
„Aber schossen die nicht auf uns?“ Ein Mann zeigte auf seinen verbundenen Arm. „Haben sie mir hier nicht ein Andenken hinterlassen, diese Teufel?“
Der Hauptmann schrie mit aller Lungenkraft: „Ihr hättet neutral bleiben sollen! Ihr hättet neutral bleiben sollen! Wer gab euch das Recht, die Regierung zu stürzen? Wer ist Lenin? Ein Deutscher.“
„Wer bist du? – Ein Konterrevolutionär, ein Provokateur!“ brüllten sie auf ihn ein.
Als er sich wieder verständlich machen konnte, erhob sich der Hauptmann. „Ihr nennt euch das russische Volk“, sagte er, „aber ihr seid nicht das russische Volk. Die Bauern sind das russische Volk. Wartet nur, bis die Bauern ...“
„Jawohl, jawohl“, schallte es ihm entgegen, „warten wir, bis die Bauern gesprochen haben. Wir wissen, was die Bauern sagen werden. Das sind Werktätige wie wir!“
Und in der Tat hing alles von den Bauern ab. Wenn die Bauern auch politisch rückständig waren, so hatten sie doch ihre eigenen Ansichten, und sie bildeten achtzig Prozent des russischen Volkes. Die Bolschewiki hatten unter den Bauern nur eine verhältnismäßig kleine Gefolgschaft, und auf die Dauer war eine Diktatur der Industriearbeiter in Rußland nicht möglich ... Von allen Parteien, die die Sowjetregierung jetzt unterstützten, waren die folgerichtigen Erben der Bauernführer die linken Sozialrevolutionäre – und die linken Sozialrevolutionäre, die von der Gnade des organisierten Stadtproletariats abhängig waren, hatten den Rückhalt durch die Bauern verzweifelt nötig.
Der Smolny hatte indessen die Bauern keineswegs vernachlässigt. Eine der ersten Handlungen des neuen Zentralexekutivkomitees nach dem Landdekret war die über den Kopf des Exekutivkomitees des Bauernsowjets hinweg erfolgte Einberufung eines Kongresses gewesen. Wenige Tage danach erfolgte die Bekanntgabe der sorgfältig ausgearbeiteten Anweisungen für die Tätigkeit der „Wolost“-(Amtsbezirks-)Bodenkomitees, und bald darauf Lenins Antwort auf Anfragen von Bauern [1*], die in einfachen Worten das Wesen der bolschewistischen Revolution und der neuen Regierung erklärte. Am 16. November veröffentlichten Lenin und Miljutin die Instruktionen für Provinzialbevollmächtigte, die von der Sowjetregierung zu Tausenden in die Dörfer entsandt wurden:
“1. Nach seiner Ankunft in der ihm als Arbeitsfeld zugewiesenen Provinz hat der Bevollmächtigte mit möglichster Beschleunigung eine gemeinsame Sitzung der Zentralexekutivkomitees der Arbeiter-, Soldaten und Bauerndeputierten zu berufen, denselben das Landdekret zu erläutern und die Berufung einer vereinigten Plenarsitzung der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten zu fordern ...
2. Hat er die Lage des Agrarproblems in der ihm zugewiesenen Provinz sorgfältig zu untersuchen, und zwar:
a) ob die Übernahme der Gutsbesitzerländereien schon erfolgt ist. Wenn ja, in welchen Bezirken;
c) von wem die beschlagnahmten Ländereien verwaltet werden – ob von den ehemaligen Eigentümern oder den Bodenkomitees;
c) was mit dem toten und lebenden Inventar geschehen ist.
3. Ob die von den Bauern angebaute Bodenfläche zugenommen hat.
4. Um wieviel und in welcher Hinsicht die zur Zeit angebaute Bodenfläche von der von der Regierung als Durchschnittsminimum festgesetzten abweicht.
5. Muß der Bevollmächtigte den Bauern, die nun das Land erhalten haben, die dringende Notwendigkeit der schnellstmöglichen Steigerung der Anbaufläche und beschleunigten Entsendung von Brotgetreide in die Städte klarmachen, da nur auf diese Weise die Hungersnot zu steuern ist.
6. Hat er sich über beabsichtigte oder durchgeführte Maßnahmen für die Überführung des Landes aus den Händen der Grundbesitzer in die Bodenkomitees und ähnlicher, von den Sowjets eingesetzter Körperschaften zu unterrichten.
7. Es ist ratsam, die gut eingerichteten und gut organisierten landwirtschaftlichen Besitzungen der Verwaltung von Sowjets zu unterstellen, die sich aus den regulären Beschäftigten dieser Besitzungen zusammensetzen und der Leitung erfahrener und wissenschaftlich geschulter Landwirte unterstehen.“
Eine ungestüme revolutionäre Gärung hatte die Dörfer gepackt, die nicht nur eine Folge des Landdekretes war, sondern die von den Tausenden von der Front zurückkehrenden revolutionär gesinnten Bauernsoldaten hineingetragen wurde ... Diese vor allem waren es, die die Einberufung eines Bauernkongresses begrüßten.
Wie das alte Zentralexekutivkomitee bei der Berufung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten, versuchte auch das Bauernexekutivkomitee den vom Smolny einberufenen Bauernkongreß zu hintertreiben. Als es die Zwecklosigkeit seines Widerstandes einsehen mußte, jagte es, wie dies auch das Zentralexekutivkomitee getan hatte, einen wahren Hagel von Telegrammen ins Land, allerorten zur Wahl konservativer Delegierter auffordernd. Teilweise wurde den Bauern sogar vorgelogen, daß der Kongreß in Moglijow tagen werde, und einige der Delegierten reisten dorthin. Trotzdem waren bis zum 23. November schon gegen vierhundert Delegierte in Petrograd angekommen, und die Vorbesprechungen der Parteien hatten begonnen ...
Die erste Sitzung fand im Alexandersaal des Dumagebäudes statt, und gleich die erste Abstimmung zeigte, daß über die Hälfte der Delegierten linke Sozialrevolutionäre waren, während die Bolschewiki ein knappes Fünftel vereinigten, die rechten Sozialrevolutionäre ein Viertel und der Rest nur durch seine Opposition gegen das von Awxentjew, Tschaikowski und Peschechonow beherrschte alte Exekutivkomitee verbunden war ...
Der große Saal war überfüllt und bebte von unaufhörlichem Tumult. Tiefe, hartnäckige Verbitterung schied die Delegierten in sich befehdende Gruppen. Rechts sah man einige Offiziere und die patriarchalischen, bärtigen Gestalten der älteren und wohlhabenderen Bauern, im Zentrum waren einige wenige Bauern, Unteroffiziere und ein paar Soldaten, während die Delegierten auf der Linken fast ohne Ausnahme die Uniformen einfacher Soldaten trugen. Sie repräsentierten die junge Generation, die in der Armee gedient hatte ... Auf den Galerien drängten sich Arbeiter, die in Rußland ihre bäuerliche Herkunft noch nicht vergessen haben ...
Im Gegensatz zum alten Zentralexekutivkomitee erkannte das Bauernexekutivkomitee den Kongreß bei seiner Eröffnung nicht als offizielle Tagung an. Der offizielle Bauernkongreß würde am 13. Dezember stattfinden.
Unter einem Sturm von Beifall und wütenden Zurufen bezeichnete der Sprecher der Bauernexekutive die Tagung nur als eine „Außerordentliche Konferenz“ ... Aber diese „Außerordentliche Konferenz“ zeigte bald, wie sie zum Exekutivkomitee stand, indem sie die Leitung des Kongresses Maria Spiridowna, der Führerin der linken Sozialrevolutionäre, übergab.
Der größte Teil des ersten Tages war von heftigen Debatten über die Frage ausgefüllt, ob neben den Delegierten der Provinzialkörperschaften auch die „Wolost“-(Amtsbezirks-)Sowjetvertreter als Delegierte zugelassen werden sollten. Wie seinerzeit der Arbeiter- und Soldatenkongreß, beschloß auch der Bauernkongreß mit überwältigender Mehrheit, den Vertreterkreis möglichst weit zu stecken. Das hatte zur Folge, daß das Exekutivkomitee den Kongreßsaal verließ ...
Fast unmittelbar danach zeigte es sich, daß die Mehrzahl der Delegierten von der Regierung der Volkskommissare nichts wissen wollte. Sinowjew wurde, als er den Versuch machte, für die Bolschewiki zu sprechen, niedergeschrien, und als er unter Gelächter die Tribüne verließ, hörte man Rufe wie: „Da seht, wie der Volkskommissar in der Patsche sitzt!“
“Wir linken Sozialrevolutionäre lehnen es ab“, erklärte Nasarjew, ein Delegierter aus der Provinz, „die sogenannte Arbeiter-und-Bauern-Regierung anzuerkennen, solange die Bauern in ihr nicht vertreten sind. Bis jetzt ist diese Regierung nichts als eine Diktatur der Arbeiter ... Wir fordern die Bildung einer neuen Regierung, die die gesamte Demokratie vertritt.“
Die reaktionären Delegierten nährten in raffinierter Weise die feindselige Stimmung, indem sie unter dem Protest der bolschewistischen Bänke behaupteten, daß der Rat der Volkskommissare beabsichtige, den Kongreß entweder unter seine Führung zu bringen oder ihn mit Waffengewalt auseinanderzujagen – eine Behauptung, die die wildesten Entrüstungsstürme bei den Bauern zur Folge hatte ...
Am dritten Tage erschien plötzlich Lenin auf der Tribüne. Wohl zehn Minuten lang tobte der Saal wie besessen. „Herunter! Wir wollen eure Volkskommissare nicht! Wir erkennen eure Regierung nicht an!“
Lenin stand unerschütterlich, beide Hände fest ans Rednerpult gekrampft und mit aufmerksamen Augen das tosende Publikum zu seinen Füßen beobachtend. Endlich hatte sich der Sturm einigermaßen gelegt, nur die rechte Seite des Saals war nicht zu beruhigen. „Ich spreche hier nicht als Mitglied des Rates der Volkskommissare“, erklärte Lenin und wartete von neuem, bis der Lärm sich gelegt hatte. „Ich bin hier als Mitglied der bolschewistischen Partei und in aller Form zu diesem Kongreß delegiert.“ Er hielt sein Mandat in die Höhe, so daß alle es sehen konnten.
„Immerhin“, fuhr er mit derselben ruhigen Stimme fort, „niemand wird leugnen, daß die gegenwärtige Regierung Rußlands von der bolschewistischen Partei gebildet wurde“, er mußte einen Moment lang warten, „so daß dies am Ende auf eins herauskommt ...“
Von den rechten Bänken brach hier ein ohrenbetäubender Lärm aus, während das Zentrum und die Linke neugierig wurden und zur Ruhe mahnten.
Lenins Argumentation war einfach.
„Ihr Bauern, denen wir das Land der Pomeschtschiki (Gutsbesitzer) gegeben haben, sagt mir offen, wollt ihr jetzt etwa die Arbeiter daran hindern, die Kontrolle über die Produktion in die Hände zu nehmen? Dies ist ein Klassenkampf: die Pomeschtschiki sind die natürlichen Gegner der Bauern, wie die Fabrikanten die natürlichen Gegner der Arbeiter sind. Wollt ihr gestatten, daß die Reihen des Proletariats zersplittert werden? Auf wessen Seite wollt ihr sein?
Wir, die Bolschewiki, sind die Partei des Proletariats – des Bauernproletariats wie des Industrieproletariats. Wir, die Bolschewiki sind die Verteidiger der Sowjets – der Bauernsowjets wie der Sowjets der Arbeiter und Soldaten. Die gegenwärtige Regierung ist eine Sowjetregierung. Wir haben nicht nur die Bauernsowjets zur Teilnahme an dieser Regierung eingeladen, wir haben auch an die Vertreter der linken Sozialrevolutionäre die Aufforderung gerichtet, in den Rat der Volkskommissare einzutreten ...
Die Sowjets sind die vollkommenste Vertretung des Volkes – der Arbeiter in den Fabriken und Bergwerken und der Arbeiter auf den Feldern. Wer versucht, die Sowjets zu unterhöhlen, handelt antidemokratisch und konterrevolutionär. Ich richte hier an euch, Genossen rechte Sozialrevolutionäre, und an Sie, meine Herren Kadetten, die Warnung: Wenn die Konstituierende Versammlung den Versuch machen sollte, die Sowjets zu zerstören, dann werden wir sie daran zu hindern wissen!“
Am 25. November nachmittags kam Tschernow, vom Exekutivkomitee eilig herbeigerufen, aus Mogiljow an. Der noch vor zwei Monaten als ultrarevolutionär galt und sich bei den Bauern großer Beliebtheit erfreute, sollte jetzt die drohende Linksschwenkung des Kongresses verhindern. Er wurde bei seiner Ankunft verhaftet und zum Smolny gebracht, wo er nach kurzer Unterredung wieder freigelassen wurde.
Seine erste Handlung war, dem Bauernexekutivkomitee bittere Vorwürfe zu machen, weil es den Kongreß verlassen hatte. Das Exekutivkomitee erklärte sich zur Rückkehr bereit. Als Tschernow den Kongreßsaal betrat, wurde er von der Mehrheit der Delegierten mit jubelndem Beifall, von den Bolschewiki mit feindseligen und spöttischen Zurufen begrüßt.
„Genossen! Ich war nicht in Petrograd! Ich habe an einer Konferenz der Zwölften Armee teilgenommen, die die Frage der Einberufung eines Kongresses aller Bauerndelegierten der Armeen der Westfront erörtert hat, und ich bin über den Aufstand, der hier stattgefunden hat, nur schlecht unterrichtet ...“
Sinowjew richtete such auf und rief: „Gewiß, Sie waren weg – für ein paar Minuten!“ Ein fürchterlicher Tumult brach los. Rufe: „Nieder mit den Bolschewiki!“
Tschernow fuhr fort:
„Die Anklage, daß ich geholfen habe, eine Armee gegen Petrograd zu führen, ist unbegründet und absolut falsch. Von wem stammt diese Anklage? Zeigt mir die Quellen!“
Sinowjew: „Iswestija und Delo Naroda – Ihre eigenen Blätter, daher kommen sie!“
Tschernows breites Gesicht mit den kleinen Augen, welligem Haar und ergrautem Bart wurde hochrot vor Zorn, aber er hielt an sich und fuhr fort:
„Ich wiederhole, ich weiß absolut nichts von alledem, was hier vorgegangen ist. Ich habe auch keine Armee hierhergeführt, mit Ausnahme dieser“ (er zeigte auf die Bauerndelegierten), „die hierhergebracht zu haben ich in weitem Maße verantwortlich bin!“ (Gelächter und Bravorufe.) „Sofort nach meiner Rückkehr war ich im Smolny. Niemand hat dort eine Anklage gegen mich erhoben ... Ich hatte eine kurze Unterredung und bin dann gegangen. Das ist alles! Möge hierhertreten und die Anklage begründen, wer dazu in der Lage ist!“
Wilder Aufruhr folgte. Die Bolschewiki und ein Teil der linken Sozialrevolutionäre waren aufgesprungen, mit geballten Fäusten und brüllend, während der Rest der Versammlung sie niederzuschreien versuchte.
„Das ist eine Schmach und nicht die Tagung eines Kongresses“, schrie Tschernow, den Saal verlassend. Der herrschende Tumult machte eine Vertagung der Sitzung notwendig ...
Mittlerweile hatte die Frage der Stellung der Bauernexekutive alle Gemüter erregt. Indem die Exekutive den Kongreß als „Außerordentliche Konferenz“ bezeichnet hatte, gedachte sie, eine Neuwahl zu verhindern. Der Trick hatte aber eine andere, von ihr nicht vorausgesehene Wirkung gehabt. Die linken Sozialrevolutionäre beschlossen, daß, wenn der Kongreß keinen Einfluß auf die Exekutive haben solle, umgekehrt auch die Exekutive dem Kongreß keine Vorschriften machen könne. Am 25. November erklärte die Versammlung in einer Resolution, daß die Funktionen des Exekutivkomitees von der Außerordentlichen Konferenz übernommen würden, in der im übrigen nur solche Mitglieder der Exekutive das Stimmrecht hätten, die Konferenzdelegierte seien.
Am nächsten Tage wurde gegen heftigen Widerspruch der Bolschewiki diese Resolution wieder abgeändert und allen Mitgliedern der Exekutive, Delegierten und Nichtdelegierten, Sitz und Stimme im Kongreß gegeben. Am 27. erfolgte die Debatte über die Landfrage, die die Unterschiede zwischen dem Agrarprogramm der Bolschewiki und dem der Linken Sozialrevolutionäre aufzeigte.
Im Namen der linken Sozialrevolutionäre schilderte Kaltschinski die Entwicklung der Landfrage während der Revolution.
„Der erste Kongreß der Bauernsowjets“, sagte er, „hatte eine präzise und formelle Resolution beschlossen, die die unverzügliche Überweisung der Güter an die Bodenkomitees forderte. Aber die Führer der Revolution und die Vertreter der Bourgeois in der Provisorischen Regierung bestanden auf der Vertagung der Lösung dieser Frage bis zum Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung. Die zweite Periode der Revolution, die ‚Kompromißperiode‘, datiert seit dem Eintritt Tschernows ins Kabinett. Die Bauern waren überzeugt, daß jetzt die praktische Lösung der Landfrage beginnen würde; aber trotz des unzweideutigen und dringenden Beschlusses des ersten Bauernkongresses verstanden es die Reaktionäre und Kompromißler in dem Exekutivkomitee, entschiedene Aktionen zu hintertreiben. Diese Politik hatte eine Reihe von Revolten zur Folge, die das natürliche Resultat der Ungeduld und nicht zu dämmenden Energie der Bauern waren. Die Bauern verstanden den wahren Sinn der Revolution. Sie versuchten, die Worte in Taten umzusetzen.
Die kürzlichen Ereignisse sind kein einfacher Aufruhr oder ‚bolschewistisches Abenteuer‘, sie sind im Gegenteil eine wirkliche Volkserhebung, von dem ganzen Lande mit Sympathie begrüßt.
Die Haltung der Bolschewiki in der Landfrage war im allgemeinen korrekt. Indem sie aber den Bauern rieten, sich des Landes mit Gewalt zu bemächtigen, haben sie einen schweren Fehler begangen. Die Bolschewiki sagten den Bauern, daß sie zur ‚revolutionären Massenaktion‘ übergehen müßten, um sich in den Besitz des Landes zu setzen. Das aber ist Anarchie. Die Übernahme des Landes kann nur auf organisiertem Wege geschehen. Die Bolschewiki hatten ein Interesse, die Probleme der Revolution in der schnellstmöglichen Weise gelöst zu sehen – aber es war ihnen weniger wichtig, wie die Lösung dieser Probleme aussah.
Das Landdekret des Sowjetkongresses deckt sich in seinen Grundzügen mit den Beschlüssen des ersten Bauernkongresses. Warum handelte da die neue Regierung nicht der von dem Bauernkongreß vorgezeichneten Taktik entsprechend? – weil es dem Rat der Volkskommissare darauf ankam, die Regelung der Landfrage zu überstürzen, damit für die Konstituierende Versammlung nichts mehr übrigblieb.
Allerdings sah auch die Regierung, daß zu praktischen Maßnahmen geschritten werden müsse. Sie akzeptierte, ohne lange zu überlegen, die Richtlinien für die Bodenkomitees und schuf damit einen eigenartigen Zustand; denn während der Rat der Volkskommissare den privaten Landbesitz beseitigte, basieren die von den Bodenkomitees ausgearbeiteten Richtlinien auf dem privaten Landbesitz. Schaden ist hierdurch indessen nicht entstanden; die Bodenkomitees kümmern sich nicht um die Dekrete der Sowjets, sie führen ihre eigenen praktischen Beschlüsse durch – Beschlüsse, die den Willen der breiten Masse der Bauern als Grundlage haben.
Die Tätigkeit dieser Bodenkomitees bezweckt nicht die legislative Lösung der Landfrage. Die ist Sache der Konstituierenden Versammlung. Wird aber die Konstituierende Versammlung geneigt sein, den Willen der russischen Bauern zu erfüllen? – Wir haben dafür keine Garantie. Nur eins wissen wir: die revolutionäre Energie der Bauern ist geweckt, und die Konstituierende Versammlung wird gezwungen sein, die Landfrage zu regeln, wie die Bauern sie geregelt haben wollen. Die Konstituierende Versammlung wird es nicht wagen, sich in Gegensatz zu dem Willen des Volkes zu setzen.“
Nach Kaltschinski sprach Lenin, jetzt mit gespanntester Aufmerksamkeit angehört:
„Wir versuchen in diesem Moment nicht nur die Landfrage zu lösen, sondern die Frage der sozialen Revolution nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt.
Die Landfrage kann man nicht lösen, unabhängig von den anderen Problemen der sozialen Revolution. So wird zum Beispiel die Beschlagnahme des großen Landbesitzes nicht nur auf den Widerstand der russischen Gutsbesitzer stoßen, sondern auch auf den des Auslandskapitals, mit dem der Großgrundbesitz durch die Vermittlung der Banken verbunden ist.
Der Großgrundbesitz ist in Rußland die Grundlage der ungeheuersten Unterdrückung, und die Beschlagnahme des Landes durch die Bauern ist der bedeutungsvollste Schritt unserer Revolution. Aber er kann nicht von den anderen Schritten getrennt werden. Das zeigen mit Deutlichkeit die Etappen, die die Revolution zu durchlaufen hatte. Die erste Etappe sah die Zerschmetterung der Autokratie und die Zerschmetterung der Macht der Industriekapitalisten und Gutsbesitzer, deren Interessen aufs engste verbunden sind. Die zweite Etappe brachte die Kräftigung der Sowjets und das politische Kompromiß mit der Bourgeoisie. Der Irrtum der linken Sozialrevolutionäre ist, daß sie sich damals der Kompromißpolitik nicht widersetzten, weil sie in der Theorie befangen waren, die das Bewußtsein der Massen als noch nicht völlig entwickelt ansah.
Wenn in der Tat die Verwirklichung des Sozialismus erst möglich wäre, wenn die intellektuelle Entwicklung des ganzen Volkes es gestattet, dann würden wir ihn auch in fünfhundert Jahren nicht erleben. Die politische Partei der Arbeiterklasse soll ihre Avantgarde sein. Sie darf ihren Vormarsch nicht hemmen lassen durch den Mangel an Erziehung bei dem Durchschnitt der Masse. Sie muß die Massen führen, indem sie sich der Sowjets als Organe der revolutionären Initiative bedient. Aber um die Schwankenden führen zu können, müssen die Genossen der linken sozialrevolutionären Gruppe ihr eigenes Zögern überwinden.
Im vergangenen Juli ist es wiederholt zum offenen Bruch zwischen den Volksmassen und den ‚Kompromißlern‘ gekommen; jetzt aber, im November, fahren die linken Sozialrevolutionäre fort, Awxentjew die Hand hinzuhalten, der das Volk doch nur hinzieht. Das Fortbestehen des Kompromisses wäre das Ende der Revolution. Mit der Bourgeoisie kann es kein Kompromiß geben. Ihre Macht muß zerschmettert werden.
Wir Bolschewiki haben unser Landprogramm nicht geändert. Wir haben die Beseitigung des privaten Landbesitzes nicht aufgegeben, und wir haben nicht die Absicht, dies zu tun. Wir akzeptieren die Richtlinien der Bodenkomitees – die durchaus nicht auf Privateigentum basieren –, weil wir den Willen des Volkes vollziehen wollen, gemäß den Beschlüssen des Volkes selbst, um so den Bund aller für die sozialistische Revolution kämpfenden Elemente nur um so inniger zu gestalten.
Wir fordern die linken Sozialrevolutionäre auf, diesem Bund beizutreten. Allerdings müssen sie dann aufhören, fortgesetzt nach rückwärts zu blicken, und endgültig mit den ‚Kompromißlern‘ in ihrer Partei brechen.
Was die Konstituierende Versammlung anbelangt, so hat mein Vorredner recht, wenn er sagt, daß ihre Arbeit von der revolutionären Entschlossenheit der Massen abhängen wird. Ich sage: ‚Rechnet auf diese revolutionäre Entschlossenheit, doch vergeßt eure Gewehre nicht!‘“
Lenin verlas dann die bolschewistische Resolution:
„Der Bauernkongreß erklärt, die von dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten errichtete Arbeiter-und-Bauern-Regierung zu billigen, und stellt sich ohne Einschränkung auf den Boden des Landdekrets vom 8. November.
Der Bauernkongreß fordert alle Bauern auf, dieses Gesetz einmütig zu unterstützen und seine sofortige Durchführung selbst in die Hände zu nehmen. Gleichzeitig weist der Kongreß die Bauern darauf hin, daß sie verantwortliche Posten und Positionen nur mit Personen besetzen sollten, die nicht nur mit Worten, sondern mit Taten ihre aufrichtige Ergebenheit für die Interessen der ausgebeuteten werktätigen Bauern gezeigt haben sowie ihren Willen und ihre Fähigkeit, diese Interessen gegen alle Widerstände der Gutsherren, Kapitalisten, deren Anhänger und Komplizen zu verteidigen.
Der Bauernkongreß ist überzeugt, daß die erfolgreiche Durchführung aller Maßnahmen, die zusammen das Landdekret ausmachen, den Sieg der sozialistischen Arbeiterrevolution zur Voraussetzung hat, die am 7. November 1917 ihren Anfang nahm; denn nur die sozialistische Revolution kann sicherstellen: 1. die endgültige Übergabe (unter Ausschaltung jeder Möglichkeit der Rückkehr des alten Zustandes) des Landes an die werktätigen Bauern, 2. die Beschlagnahme von Musterfarmen und ihre Übergabe an die bäuerlichen Kommunen, 3. die Beschlagnahme der den Großgrundbesitzern gehörenden landwirtschaftlichen Maschinen, 4. die Wahrung der Interessen der Landarbeiter durch die völlige Aufhebung der Lohnsklaverei, 5. die regelmäßige und systematische Verteilung der Produkte der Landwirtschaft und der Industrie in allen Gegenden Rußlands, 6. die Beschlagnahme der Banken (ohne die nach der Aufhebung des Privateigentums der Übergang des Landes in das Eigentum des ganzen Volkes nicht möglich wäre), 7. jede sonstige Hilfe für die Arbeiter durch den Staat ...
Aus diesen Gründen stellt sich der Bauernkongreß ohne Einschränkung auf den Boden der Revolution vom 7. November als einer sozialistischen Revolution und gibt seinem unerschütterlichen Willen Ausdruck, an der Durchführung der sozialen Umbildung der Russischen Republik, unbeschadet aller sich als notwendig erweisenden Modifikationen, aber ohne zu zögern, mitzuwirken.
Die unerläßliche Vorbedingung für den Sieg der sozialistischen Revolution, die allein den dauernden Erfolg und die völlige Verwirklichung des Landdekrets zu sichern vermag, ist das enge Bündnis der werktätigen Bauern mit der Arbeiterklasse, mit dem Proletariat aller fortgeschrittenen Länder. Die gesamte Organisation und Administration muß in der Russischen Republik, von oben bis unten, auf diesem Bündnis beruhen. Nur diese Bündnis vermag, indem es jede versuchte direkte oder indirekte, offene oder verschleierte Rückkehr zur Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisiepolitik – die durch die mit den Vollstreckern der Bourgeoisiepolitik gemachten Erfahrungen gerichtet ist – unmöglich macht, den Sieg des Sozialismus in der Welt zu sichern.“
Die Reaktionäre des Exekutivkomitees wagten schon nicht mehr, öffentlich aufzutreten. Tschernow sprach indessen mehrere Male mit bescheidener und gewinnender Unparteilichkeit. Er wurde sogar eingeladen, im Präsidium Platz zu nehmen. Am zweiten Abend des Kongresses wurde dem Vorsitzenden ein anonymer Zettel heraufgereicht, der den Vorschlag enthielt, Tschernow zum Ehrenpräsidenten des Kongresses zu ernennen. Während noch Ustinow den Vorschlag laut verlas, war Sinowjew aufgesprungen und schrie, daß dies ein Trick des alten Exekutivkomitees sei, sich der Kongreßleitung zu bemächtigen. Der eben noch friedliche Saal glich im Nu einem tobenden Meer drohend erhobener Fäuste und zornentbrannter Gesichter.
Trotzdem blieb Tschernow noch immer sehr populär.
Im Verlauf der stürmischen Debatten über die Landfrage und die Resolution Lenins waren die Bolschewiki zweimal im Begriff, den Kongreß zu verlassen, beide Male nur durch die energischen Vorhaltungen ihrer Führer zurückgehalten. Ich glaubte schon den ganzen Kongreß hoffnungslos festgefahren.
Wir wußten allerdings auch nicht, daß im Smolny eine Reihe geheimer Konferenzen zwischen den linken Sozialrevolutionären und den Bolschewiki stattfanden. Anfänglich forderten hier die linken Sozialrevolutionäre die Bildung einer Regierung, die sich aus allen sozialistischen Parteien innerhalb und außerhalb der Sowjets zusammensetzen und einem Volksrat verantwortlich sein sollte, der aus einer gleichen Anzahl Vertreter der Arbeiter- und Soldatenorganisationen und der Bauernorganisationen zu bilden und durch Vertreter der Stadtdumas und der Semstwos zu ergänzen war. Lenin und Trotzki sollten von der Regierung ausgeschlossen und das Revolutionäre Militärkomitee aufgelöst werden.
Am Mittwoch, dem 28., morgens, wurde, nachdem man sich die ganze Nacht hindurch wütend gestritten hatte, eine Verständigung erreicht. Das aus108 Mitgliedern bestehende Zentralexekutivkomitee war zu erweitern: um 108 von dem Bauernkongreß proportional gewählte Mitglieder, um 100 von der Armee und Flotte direkt zu wählende Delegierte und um 50 Delegierte der Gewerkschaften (35 von den zentralen Verbänden, 10 von den Eisenbahnern und 5 von den Post- und Telegrafenarbeitern). Die Dumas und Semstwos wurden fallengelassen . Lenin und Trotzki blieben in der Regierung, das Revolutionäre Militärkomitee blieb bestehen.
Die Sitzungen des Kongresses waren mittlerweile in die kaiserliche Justizschule in der Fontanka Nr.6, dem Hauptsitz der Bauernsowjets verlegt worden. Dort sammelten sich am Mittwochnachmittag die Delegierten in dem großen Saal. Das alte Exekutivkomitee nahm am Kongreß nicht mehr teil, sondern hielt in einem anderen Raum des gleichen Gebäudes eine eigene Rumpfkonferenz ab, die sich aus den absolut reaktionären Delegierten und den Vertretern der Armeekomitees zusammensetzte.
Tschernow lief von einer Sitzung zur anderen, mit wachsamen Augen den Gang der Ereignisse verfolgend. Von den Versuchen, mit den Bolschewiki zu einer Verständigung zu gelangen, wußte er, nicht aber von ihrem erfolgreichen Abschluß.
Er sprach zur Rumpfkonferenz.
„Im gegenwärtigen Augenblick, wo alle Welt für die Bildung einer allsozialistischen Regierung ist, vergessen viele Leute das erste Kabinett, das keine Koalitionsregierung und in dem der einzige Sozialist – Kerenski war, eine Regierung, die sich zu ihrer Zeit großer Beliebtheit erfreute. Jetzt klagt man Kerenski an; man vergißt, daß er nicht nur durch die Sowjets, sondern auch durch die Volksmassen zur Macht erhoben wurde ...
Warum änderte sich die Volksmeinung über Kerenski? Die Wilden machen sich Götter, zu denen sie beten und die sie strafen, wenn eins ihrer Gebete keine Erhörung findet ... Genau dasselbe geschieht in diesem Moment ... Gestern Kerenski, heute Lenin und Trotzki, morgen ein anderer.
Wir haben sowohl Kerenski als auch den Bolschewiki den Vorschlag gemacht, von der Macht zurückzutreten. Kerenski hat sich bereiterklärt – er hat heute von seinem Versteck aus mitgeteilt, daß er als Ministerpräsident zurücktritt; aber die Bolschewiki wollen nicht verzichten, dabei wissen sie nicht, wie sie die Macht gebrauchen sollen ...
Ob nun die Bolschewiki siegen oder ob sie unterliegen werden, an dem Schicksal Rußlands wird das nichts ändern. Das russische Dorf weiß ganz genau, was es will, und es führt jetzt seine eigenen Maßnahmen durch ... Das Dorf wird letzten Endes uns retten ...“
n der Zwischenzeit hatte in dem großen Saal der Justizschule Ustinow die erreichte Verständigung zwischen dem Bauernkongreß und dem Smolny unter dem unbeschreiblichen Jubel der Delegierten bekanntgegeben. Tschernow erschien plötzlich und verlangte das Wort.
„Ich höre“, begann er, „daß zwischen dem Bauernkongreß und dem Smolny eine Vereinbarung geschlossen wurde. Der Kongreß ist hierzu nicht berechtigt, da der rechtmäßige Bauernkongreß nicht vor der nächsten Woche zusammentreten wird.
Im übrigen werden die Bolschewiki eure Forderungen niemals akzeptieren.“
Er wurde ausgelacht und am Weiterreden gehindert, und einsehend, daß nichts mehr zu retten war, verließ er die Tribüne und den Saal. Seine Popularität war dahin.
Am Donnerstag, dem 16. November, spät nachmittags, trat der Kongreß zu einer außerordentlichen Tagung zusammen. Feststimmung beherrschte die Versammlung, auf jedem Antlitz lag ein Lächeln. Nachdem man den Rest der Tagesordnung in Eile erledigt hatte, erhob sich der weißbärtige alte Natanson vom linken Flügel der Sozialrevolutionäre, um mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen den Bericht von der Vereinigung der Bauernsowjets mit den Arbeiter- und Soldatensowjets zu verlesen. Jede Wiederholung des Wortes „Einigung“ riß die Versammelten zu begeistertem Jubel hin. Als er geschlossen hatte, teilte Ustinow unter dem brausenden Beifall des ganzen Saales die Ankunft einer von Vertretern der Roten Armee begleiteten Delegation aus dem Smolny mit. Nacheinander nahmen ein Arbeiter, ein Soldat und ein Matrose das Wort, den Kongreß zu begrüßen.
Dann sprach Boris Reinstein, der Vertreter der Sozialistischen Arbeiterpartei Amerikas:
„Der Tag der Vereinigung des Kongresses der Bauern mit den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist einer der größten Tage der Revolution. Er wird durch die ganze Welt klingen, und wir werden seinen Widerhall aus Paris, aus London und von jenseits des Ozeans, aus dem fernen New York vernehmen. Dieses Bündnis wird die Herzen aller Arbeiter mit Freude erfüllen.
Eine große Idee hat gesiegt. Der Westen und Amerika erwarten von Rußland, vom russischen Proletariat Gewaltiges. Das Proletariat der Welt blickt auf die russische Revolution in Erwartung des Großen, das sie vollbringen wird!“
Noch einmal ein Gruß von Swerdlow, dem Präsidenten des Zentralexekutivkomitees, und dann strömten die Bauern unter dem Ruf: „Hurra, der Bürgerkrieg ist zu Ende!“ und „Es lebe die geeinigte Demokratie!“ langsam aus dem Saal.
Es war schon finster, und der gefrorene Boden glitzerte vom Widerschein des Mondes und der Sterne. Längs des Kanalufers standen in voller Marschordnung die Soldaten des Pawlowski-Regiments mit ihrer Kapelle, die die Marseillaise zu spielen begann. Unter dem jubelnden Beifall der Soldaten formierten sich die Bauern zu einem Zug, das große rote Banner des Exekutivkomitees der Gesamtrussischen Bauernsowjets entfaltend, das in neuen, goldgestickten Lettern die Inschrift trug: „Es lebe das Bündnis der revolutionären werktätigen Massen!“ Andere Banner kamen. Von den Bezirkssowjets, den Putilow-Werken: „Wir folgen dieser Fahne; unser Ziel ist die Verbrüderung aller Völker“, und viele andere.
Irgenwoher kamen plötzlich Fackeln, gelbrot durch die Nacht schimmernd, sich tausendfach in den Kristallen des Eises spiegelnd und einen qualmenden Schweif über den Zug legend, der sich langsam das Fontanka-Ufer entlangwälzte, singend, vorbei an der in erstauntem Schweigen stehenden Menschenmenge.
„Es lebe die revolutionäre Armee!“ „Es lebe die Rote Garde!“ „Es leben die Bauern!“
So zog die mächtige Prozession durch die Stadt, wachsend, immer neue rote goldgestickte Banner entfaltend. Zwei alte Bauern mit vom lebelangen Mühen gekrümmten Rücken gingen Hand in Hand, die Gesichter verklärt in kindlicher Freude.
„Nun“, sagte der eine, „jetzt sollte sie nur versuchen, uns das Land wieder zu nehmen!“
In der Nähe des Smolny waren auf beiden Straßenseiten Rotgardisten aufmarschiert, außer sich vor Freude. Der zweite alte Bauer wandte sich seinem Gefährten zu: „Ich bin gar nicht müde, mir ist so, als hätte ich Flügel!“
Auf den Stufen des Smolny hatten gegen hundert Arbeiter- und Soldatendeputierte Aufstellung genommen, mit ihren Bannern, die sich dunkel gegen den Aus dem Innern des Gebäudes strömenden Lichtschein abhoben. Sie stürmten die Stufen hinunter, den Bauern entgegen, umarmten und küßten sie, und dann strömte der Zug durch das große Tor und mit Donnergetöse die Treppe hinauf.
In dem großen weißen Sitzungssaal war das Zentralexekutivkomitee versammelt, mit dem gesamten Petrograder Sowjet und an tausend Zuschauern, in jener feierlichen Erwartung, die bewußte, große geschichtliche Augenblicke immer zu wecken pflegen.
Sinowjew gab die mit dem Bauernkongreß geschlossene Vereinbarung unter jubelnder Zustimmung bekannt, die zum Sturm wurde, als den Korridor herauf Musikklänge zu hören waren und die Spitze des Zuges in den Saal einmarschierte. Auf der Tribüne erhob sich das Präsidium, dem Bauernpräsidium Platz zu machen. Sie umarmten einander. Hinter ihnen übereinandergekreuzt die beiden Banner an der weißen Wand, die den leeren Rahmen verdeckten, aus dem das Zarenblidnis herausgerissen war.
Und dann begann die Siegesfeier. Nach einer kurzen Begrüßung durch Swerdlow betrat Maria Spiridowna die Tribüne, schmächtig, blaß, mit ihrer Brille und dem platt angestrichenen Haar einer puritanischen Schullehrerin nicht unähnlich – die populärste und einflußreichste Frau in ganz Rußland.
„Vor den Arbeitern Rußlands eröffnen sich jetzt Horizonte, wie sie die Geschichte nie gekannt. Alle Arbeiterrevolutionen sind niedergeschlagen worden, aber die gegenwärtige Bewegung ist international und darum unbesiegbar. Es gibt in der ganzen Welt keine Macht, die das Feuer der Revolution wieder löschen könnte. Die alte Welt bricht nieder, eine neue beginnt!“
Und nun Trotzki, voll hinreißenden Feuers:
„Seid willkommen, Genossen Bauern! Ihr weilt hier nicht als Gäste, sondern als die Herren dieses Hauses, in dem das Herz der russischen Revolution schlägt. Der Wille von Millionen Werktätigen ist jetzt in diesem Saal vereinigt. Es gibt nur noch einen Herren des russischen Landes: das ist das Bündnis der Arbeiter, Soldaten und Bauern!“
Mit schneidendem Sarkasmus sprach er von der Diplomatie der Alliierten, die noch immer nur Verachtung für den Waffenstillstandsvorschlag Rußlands hatte, der von den Mittelmächten akzeptiert worden war.
„Eine neue Menschheit wird aus diesem Krieg geboren werden. Wir schwören es hier vor den Arbeitern aller Länder, daß wir ausharren werden auf unserem revolutionären Posten. Noch im Fallen werden wir unsere Fahne verteidigen!“
Ihm folgte Krylenko, die Frage an der Front schildernd, wo Duchonin sich zum Widerstand gegen den Rat der Volkskommissare vorbereitete:
„Laßt es Duchonin hören und alle, die mit ihm sind, daß wir nicht fein umspringen werden mit denen, die den Weg zum Frieden versperren!“
Dybenko überbrachte die Grüße der Flotte, und Kruschinski, ein Mitglied des Hauptvorstandes des Gesamtrussischen Eisenbahnerverbandes, erklärte:
„Von jetzt ab, da die Vereinigung aller wahren Sozialisten Wirklichkeit geworden ist, steht das ganze Heer der Eisenbahner zur vollen Verfügung der revolutionären Demokratie!“
Lunatscharski sprach, fast weinend; dann Proschjan für die linken Sozialrevolutionäre und endlich Sacharaschwili für die Vereinten Sozialdemokraten – Internationalisten, die sich aus Mitgliedern der Martow- und Gorkigruppe zusammengetan hatten.
„Der Grund unseres Austritts aus dem Zentralexekutivkomitee war die unnachgiebige Politik der Bolschewiki. Wir hofften, sie auf diese Weise zum Entgegenkommen zu zwingen und damit die Einigung der gesamten revolutionären Demokratie zu ermöglichen. Nachdem diese Einigung jetzt erfolgt ist, halten wir es für unsere heilige Pflicht, unsere Plätze im Zentralexekutivkomitee wieder einzunehmen. Wir fordern alle, die aus dem Zentralexekutivkomitee ausgeschieden sind, zum Wiedereintritt auf.“
Staschkow, ein ehrwürdiger alter Bauer vom Präsidium des Bauernkongresses, verbeugte sich tief nach allen Seiten des Saales:
„Ich begrüße euch mit dem Wunsche der Freiheit und eines neuen russischen Lebens.“
Bronski im Namen der polnischen Sozialdemokratie, Skrypnik für die Fabrikkomitees, Trifonow für die russischen Soldaten in Saloniki und andere in endloser Reihe sprachen aus übersprudelndem Herzen, mit der glücklichen Beredtsamkeit erfüllter Hoffnungen.
Spät in der Nacht wurde folgende Resolution einstimmig angenommen:
„Das Zentralexekutivkomitee, in außerordentlicher Sitzung vereinigt mit dem Petrograder Sowjet und dem Bauernkongreß, bestätigt die von dem Zweiten Kongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten angenommenen Land- und Friedensdekrete und das von dem Zentralexekutivkomitee angenommene Dekret über die Arbeiterkontrolle.
Die vereinigte Sitzung des Zentralexekutivkomitees und des Bauernkongresses gibt ihrer festen Überzeugung Ausdruck, daß das Bündnis der Arbeiter, Soldaten und Bauern, dieser Bruderbund aller Werktätigen und Ausgebeuteten, die errungene Macht festigen und dazu beitragen wird, den Übergang der Macht in die Hände der Arbeiterklasse auch in den anderen Ländern zu beschleunigen, um so einen dauernden und gerechten Frieden und den Sieg des Sozialismus zu sichern.“ [2*]
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Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008