Adelheid Popp

Lebensschicksal der Arbeiter

(1. Juli 1911)


Der Kampf,Jg. 4 10. Heft, 1. Juli 1911, S. 468–472.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der Reihe der Schriften des Vereines für Sozialpolitik ist vor einigen Monaten ein Buch erschienen: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Grossindustrie, dargestellt an den Verhältnissen der Gladbacher Spinnerei- und Weberei-Aktiengesellschaft zu München-Gladbach im Rheinland, das Dr. Marie Bernays zur Verfasserin hat. Dr. Bernays hat einige Wochen in der München-Gladbacher Spinnerei und Weberei als Spulerin gearbeitet, um das Fabriksleben aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Dr. Bernays hat schliesslich dem Direktor der Fabrik ihre Pläne mitgeteilt und dieser hat ihr noch den ferneren Zutritt in die Fabrik gestattet und auch, dass sie die Fragebogen den Arbeitern und Arbeiterinnen vorlegen konnte. Auch Auszüge aus den Lohnlisten durften gemacht werden. Das Material, das auf 417 Seiten aufgerollt wird, ist für alle, die sich mit Arbeiterverhältnissen beschäftigen, interessant und lehrreich. Die München-Gladbacher Spinnerei und Weberei beschäftigte im Jahre 1908 759 Personen. Die Frauenarbeit zeigt eine steigende Tendenz. Während 1891 in Prozenten 46,9 männliche und 53,7 weibliche beschäftigt waren, haben sich bis 1908 die Ziffern so verschoben, dass 41,5 männliche und 58,5 weibliche in Verwendung waren. Bemerkenswert ist, dass vor 20 Jahren – auf diesen Zeitraum erstreckt sich die Untersuchung – 70 Prozent der Arbeiterschaft unter dem 30. Lebensjahre standen, während in den letzten Jahren eine Zunahme der in höherem Alter stehenden Personen vor sich geht. 1891 waren 73 Prozent unter 30 Jahren, 1908 nur 30,6. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Verschiebung auf Rechnung der im allgemeinen kulturell höheren Lebenshaltung der Arbeiterschaft setzen, womit aber durchaus dieser kein Loblied gesungen werden soll. Aber kürzere Arbeitszeit ist ein Kulturfaktor, der schwer ins Gewicht fällt und in München-Gladbach wurde 1892 der elfstündige Arbeitstag eingeführt. Weiters haben sich die Eintrittschancen der „Jugendlichen“ dadurch verschlechtert, dass für sie eine kürzere Arbeitszeit vorgeschrieben ist. Späterer Eintritt in die Fabrik bedeutet aber längeres Anhalten der Lebenskraft. Das Alter zwischen 17 und 30 Jahren gilt als das günstigste für den Eintritt in die Fabrik. Nach dem 30. Jahre wird die Aussicht schon schwächer, nach dem 40. Jahre ist es für Männer besser wie für Frauen, nach dem 50. Jahre für beide verschwindend gering. Damit im Zusammenhang steht wohl die mit dem 30. Jahre beginnende grössere Stabilität der Arbeiterschaft. Wenn die Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen, ungünstig sind, muss getrachtet werden, auf dem alten auch dann auszuharren, wenn man gern wechseln möchte. Es gibt aber zu denken, dass das 30. Jahr für den Proletarier schon die Grenze bildet, wo man beginnt, seine Kraft geringer einzuschätzen. Nichtproletarier stehen in diesem Alter oft erst am Beginn ihrer Karriere. Am meisten wechseln 17- bis 21jährige, also die Altersstufen, in deren Bewusstsein noch nicht die ganze Schwere des Daseins ruht und die auch noch nicht die Hoffnung, ein günstigeres Los zu erlangen, aufgegeben haben.

Interessant ist die Feststellung über die Abstammung der Arbeiterschaft. 24 Prozent stammen aus Textilarbeiterfamilien, fast 16 Prozent aus sonstigen Fabriksarbeiterkreisen, 6,3 Prozent von Erd- und Bauarbeitern, 14,5 Prozent sind Bauernkinder, 13,5 Prozent Handwerkerkinder und 15 Prozent stammen aus „besseren“ sozialen Schichten. Für die letzteren bedeutet die Fabriksarbeit absolut einen Abstieg zur „niedrigeren“ Klasse, relativ auch für die Handwerker- und Bauernkinder. Für die grössere Bedürfnislosigkeit der weiblichen Arbeiterschaft ist es gewiss nicht belanglos, dass die aus höheren Schichten stammenden Kreise der Arbeiterschaft überwiegend männlich sind, während eine grosse Zahl der weiblichen Arbeiterschaft aus tiefsten sozialen Schichten stammt. Aus kulturell tiefstehendem Milieu stammen 35,2 Prozent Arbeiterinnen, Arbeiter nur 24,9 Prozent. Die Abstammung von Handwerkern ist bei den männlichen Arbeitern um fast 10 Prozent grösser als bei den Arbeiterinnen (26,1 Prozent zu 16‘7 Prozent). Die Handwerkerkinder haben die bei weitem beste Aussicht in der Fabrik, da die grosse Zahl der Werkmeister aus Handwerkerfamilien und „höheren“ Berufen stammt. Der Beruf der Weber, Spinner und Handwerker „erbt“ sich am häufigsten vom Vater auf den Sohn fort. So sind 37,6 Prozent aller Weber und 31 Prozent aller Spinner Söhne von Textilarbeitern, 38,4 Prozent aller Handwerker sind Söhne von Handwerkern. Dies lässt schliessen, dass die Berufe, wo einigermassen bessere Löhne zu erzielen sind, gern von den Kindern übernommen werden. Bei den Arbeiterinnen ist auch hier das Verhältnis ungünstiger. Nur 24 Prozent der gelernten Arbeiterinnen waren Textilarbeitertöchter und nur 7 Prozent die Töchter von Fabrikarbeitern. Die aus „besserem“ Elternhaus stammende Arbeiterschaft ist bei den Arbeiterinnen geringer als bei den Arbeitern, dagegen die aus „unterster“ sozialer Schicht stammende mehr als fünfmal so gross. Bei Webern und Weberinnen, wo es sich um die gleiche Arbeit handelt, tritt dieser Unterschied nicht zutage, um so krasser bei der unqualifizierten Arbeit. Da nimmt bei den Frauen die Abstammung aus der Landarbeiterbevölkerung zu. So waren unter den Strickerinnen 24 Prozent, unter den Spulerinnen 46,6 Prozent, unter den Zwirnerinnen 31 Prozent Landarbeiterstöchter. Bei der qualifizierten, weil eine grosse Fingerfertigkeit erfordernden Arbeit der Hasplerinnen tritt das Landarbeiterelement zurück. Da waren 44,3 Prozent Proletariertöchter, 12,6 Prozent Handwerker- und Bauerntöchter, vorwiegend aber Töchter von in der Fabrik angestellten Meistern. Dieser Umstand erfährt seine Begründung sofort dadurch, dass die Hasplerinnen guten Verdienst und saubere Arbeit haben! Wir haben also mit der Tatsache zu rechnen, dass die Arbeiterinnen aus kulturell niedrigerem Milieu stammen als die Arbeiter, weiters damit, dass ein Teil der guten Posten, wo ein sozialer Aufstieg leichter zu erzielen wäre, mit den Töchtern der Werkmeister besetzt ist, zwei Umstände, die wohl gewichtig genug sind, um uns die Ursachen zu weisen, warum die Arbeiterinnen der Organisation schwerer zugänglich sind als die Arbeiter. Landarbeitertöchter und Protektionskinder von Werkmeistern eignen sich sicherlich schwerer für den Klassenkampf als Proletariertöchter. Wenn auch München-Gladbach allein nicht für diese Schlussfolgerung massgebend sein kann, lehrt es uns doch die Gründe erkennen, die die Schwierigkeit ergeben, die Arbeiterinnen durch die gewerkschaftlichen Organisation zu erfassen. Noch ein weiterer Beweis.

Frau Dr. Bernays hat auch die Gründe erforscht, die die München-Gladbacher Arbeiterschaft bewogen hat, ihren Beruf zu ergreifen. Das Motiv der Not war bei 5,3 Prozent Arbeitern und bei 18,7 Prozent Arbeiterinnen massgebend. Arbeiterinnen, die durch drückendste Not getrieben werden, einen Beruf zu ergreifen, sind ebenfalls auf lange hinaus schlechtes Material für die Organisation. Der eigene Wunsch hat bei Arbeitern doppelt so oft für die Berufswahl entschieden wie bei Arbeiterinnen. Bei den angelernten Arbeiterinnen hat der Wunsch, rasch einen Verdienst zu haben, für die Wahl des Berufes entschieden. So war dieser Grund bei 53,3 Prozent Spulerinnen und bei 43,7 Prozent Zwirnerinnen für den Eintritt massgebend. Nur 26,8 Prozent der Arbeiterschaft hat den Beruf gewählt, weil auch Vater und Geschwister ihn ausübten. Doktor Bernays sagt, wie mir scheint mit Recht, dass man nur bei den qualifizierten Arbeitskräften teilweise von einer Berufswahl nach individueller Neigung und Fähigkeit sprechen kann. Bei den anderen Arbeiterkategorien scheint der innerhalb der Bevölkerung wirksame Auslesefaktor, der den einzelnen zur Fabriksarbeit bestimmt, der „Geldmangel und die Not zu sein“. Und weiters in einer Fussnote (Seite 131): „Dies gilt natürlich für die Frauen noch weit mehr als für die Männer; ebenso wie es ja auch selbstverständlich ist, dass mit der Fabriksarbeit der Frau nicht diejenige innere Hebung verbunden sein kann, die wir sonst gerne als die Wirkung selbständiger Frauenarbeit auf anderem (geistigem) Gebiet ansehen. Von Entfaltung ihrer Persönlichkeit durch Fabriksarbeit kann wohl kaum ernsthaft die Rede sein; freilich aber hatte früher fast keine Frau und haben auch heute noch die wenigsten Frauen anderer Kreise das Recht und die Möglichkeit, durch selbstgewählte Arbeit ihre „Individualität zu entwickeln“. Nur die gelernte Frauenarbeit in der Textilindustrie hat die Tendenz, Lebensberuf zu werden. Denn 70 Prozent Weberinnen, 72 Prozent Ringspinnerinnen, 64 Prozent Vorspinnerinnen, 63 Prozent Hasplerinnen haben nur diesen einen Beruf in ihrem Leben gehabt. Dagegen waren 20 Prozent der angelernten Spulerinnen früher Dienst-mädchen und ungelernte Arbeiterinnen, weitere 26,6 Prozent nur Dienstmädchen gewesen; von den Zwirnerinnen waren 31 Prozent früher in häuslichen Diensten gewesen, 10,3 Prozent hatten Feld- und Hausarbeit getan. Diese Ziffern sind dadurch interessant, da sie uns den Zug der Dienstmädchen in die Fabrik zeigen. Die Fabrik übt trotz der vielen Nachteile, die sie heute hat, eine grosse Anziehungskraft auf alle aus, die die Gebundenheit des häuslichen Dienstes als Last empfinden. Alle jene, die über den Mangel an „Dienstboten“ klagen, könnten hier den Weg sehen, den sie einschlagen müssten, um den Dienstbotenberuf angenehmer zu machen. Einige freie Stunden am Abend sind wohl das Ziel der meisten Mädchen. Bezeichnend ist der Ausspruch eines der befragten Mädchen, warum sie den häuslichen Dienst verlassen, Die Antwort war: „dass die Werkmeister lange nicht so grob seien wie die gnädigen Frauen“. Und: „wenn man seine Arbeit tut, sagt einem niemand den ganzen Tag lang ein Wort“. Ausserdem können Fabriksarbeiterinnen, die bei ihren Eltern leben, diese besser unterstützen, als dies ein selbst gut bezahltes Dienstmädchen kann. – Interessant ist, dass sich die Abstammung der Arbeiterschaft verändert. Von den Grossvätern der München-Gladbacher Arbeiter waren noch 28,7 Prozent Bauern, von den Vätern nur mehr die Hälfte – 13,7 Prozent. In der jetzigen Generation ist unter derselben Anzahl kein Landmann mehr vorhanden. – Einen Beweis für die grosse Indolenz und Stumpfheit der Arbeiterinnen sieht Frau Dr. Bernays darin, dass 45 Prozent den Beruf des Grossvaters nicht anzugeben wussten.

Doch konnte festgestellt werden, dass 21,7 Prozent die Enkelinnen von Landleuten und 15 Prozent Enkelinnen von Handwerkern waren.

Unter den Vätern ist die Zahl der Handwerker schon geringer (9,7 Prozent), was die fortschreitende Proletarisierung des Handwerks beweist.

Beachtenswert ist auch für die Verschiebung der Berufe von Generation zu Generation, dass bei 6,6 Prozent aller befragten Arbeiter der Vater Handwerker, der Grossvater aber Landmann gewesen ist. Das Generationsschicksal, wie Dr. Bernays das nennt, scheint den Sohn vom Land in die Werkstätte, den Enkal aber von der Werkstätte in die Fabrik zu führen.

Wenn Sozialdemokraten auf diese Entwicklung hinweisen, ist man flugs mit der Behauptung zur Hand, dass die Sozialdemokratie auf die Vernichtung von Bauern-und Handwerkerstand hinarbeite. Hand in Hand mit dem Zug vom Land über das Handwerk zur Fabrik wird die militärische Tauglichkeit herabgemindert.

Von den zur Zeit der Enquete in der Fabrik beschäftigten Arbeitern, die im militärpflichtigen Alter standen, hatten 29 Prozent gedient, 71 Prozent nicht. Unter den Vätern dieser Arbeiter hatten noch 38,1 Prozent der Dienstpflicht genügt. Bei 26,9 Prozent hatte der Vater gedient, der Sohn nicht mehr. Besonders beachtenswert ist aber diese Erhebung nach qualifizierten und nicht qualifizierten Arbeitern. Die Weber und Spinner bleiben noch hinter der Durchschnittszahl zurück. Nur 16 Prozent der Weber und Spinner waren fähig, eventuell „auf Vater und Mutter zu schiessen“, 84 Prozent nicht. Die Zahl der Familien, die in zwei Generationen militäruntauglich sind, ist in den Gruppen der Weber und Spinner fast zehnmal so gross als die Zahl der Familien mit durch zwei Generationen unveränderter Militärtauglichkeit. Ganz anders steht es bei den Handwerkern und Werkmeistern. Von ihnen waren 44*7 Prozent militärtauglich gewesen. Ob die grosse Militäruntauglichkeit, die uns ja deshalb nicht gleichgültig sein kann, weil wir daraus auf eine allgemeine physische Degeneration der Textilarbeiterschaft schliessen müssen, seine Ursache wirklich darin hat, dass die Textilindustrie im allgemeinen diejenigen Arbeiter anzieht, die für schwere Industrien nicht gut zu gebrauchen sind, „eine Auslese der Mindestkräftigen“, vermögen wir nicht zu entscheiden. Auf alle Fälle gibt diese Erscheinung zu denken.

Noch ein Beispiel für die schlechtere soziale Lage der Arbeiterinnen. Von den über 40 Jahre alten Arbeitern wohnten 47,1 Prozent zur Miete, 46,9 Prozent im eigenen Hause oder in der Wohnung des Arbeitgebers; von den Frauen gleichen Alters wohnten 73,1 Prozent zur Miete und nur 17 Prozent im eigenen oder im Hause des Arbeitgebers, von den jugendlichen männlichen Arbeitern lebte fast ein Fünftel, 19,7 Prozent, im eigenen Hause der Eltern, von den weiblichen Arbeitern desselben Alters nur 10,4 Prozent. Weiters wohnten von den jugendlichen männlichen Arbeitern nur 0,8 Prozent nicht bei den Eltern, von den weiblichen 9,3 Prozent.

Die ganze Skala des Arbeiterinnenelends lebt auf in diesen Zahlen. Grössere soziale Not, grössere Abhängigkeit von den verschiedensten, auch den schlechtesten Einflüssen, ausgeschlossen von jeder Anlehnung an den Schutz der Familie, so stehen schon jugendliche Arbeiterinnen im Leben. Was Wunder, wenn nur wenige von ihnen den Weg finden, der ihnen wenigstens die Hoffnung auf eine Erleichterung bieten würde. Auch die Heiratsmöglichkeit in München-Gladbach ist für die Arbeiterinnen geringer als für die Arbeiter.

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So waren von den über 21 Jahre alten männlichen Arbeitern 80,3 Prozent verheiratet, von den über 16 Jahre alten (dies das zulässige Heiratsalter) Arbeiterinnen 36,8 Prozent. Die Zahlen über die Heiratsfrequenz in der Rheinprovinz zeigen im Vergleich mit jenen in der München-Gladbacher Spinnerei, dass die frühe Heiratsmöglichkeit der Textilarbeiterinnen in der Gladbacher Fabrik sehr gering ist. So ist in der ganzen Rheinprovinz die Heiratsfrequenz der 21- bis 30jährigen Männer geringer, die der Frauen des gleichen Alters grösser als in der München-Gladbacher Spinnerei. Es waren von den Männern des genannten Alters verheiratet: In der Rheinprovinz 30,8 Prozent, im Stadtkreis München-Gladbach 38,3 Prozent, von den Arbeitern der Spinnerei 57,4 Prozent. Von Frauen desselben Alters: In der Rheinprovinz 53,2 Prozent, im Stadtkreis München-Gladbach 43,1 Prozent, von den Arbeiterinnen der Spinnerei München-Gladbach nur 23,2 Prozent. Dieses Ergebnis berechtigt zu dem Schlüsse, dass der Arbeiter früher zur Heirat entschlossen ist, um ein eigenes Heim, zum Unterschied vom Bettgeherwesen, zu haben, während bei Erhebungen, die die Männer aller Klassen umfassen, die Heiratsabneigung der Beamten, Lehrer und aller in besseren Stellungen befindlichen Männer die Ziffer der Heiratsfrequenz herabdrückt. Bei den Frauen ist es umgekehrt. Die Fabriksarbeiterin hat weniger Aussicht, in ganz jungen Jahren zu heiraten, weil sie kein Heim bieten kann, da steigen die Chancen der Töchter mit Mitgift und solcher, die einen Beruf haben, der einen Verdienst neben der Wirtschaft ermöglicht. Dennoch wird auch nach den vorliegenden Ergebnissen die verheiratete Arbeiterin eine immer häufigere Erscheinung in der Fabrik. Denn 1908 gab es in München-Gladbach doppelt so viele verheiratete Arbeiterinnen als 1891. – Bei der Untersuchung der Fruchtbarkeit ergibt sich die Tatsache, dass, an den Ergebnissen dieser einen Fabrik betrachtet, die Weberinnen und Ringspinnerinnen die unfruchtbarsten Frauen sind. Die Verfasserin will das teilweise damit erklären, dass diese beiden Arbeiterinnengruppen „echtere“ Proletarierinnen sind als die fruchtbareren Vorspinnerinnen. Das heisst, dass zu den Wirkungen des Proletariermilieus oder, besser gesagt, der Frauenarbeit die steigende Unfruchtbarkeit gehört. Die ungelernten, also sozial „tiefst stehenden“ Arbeiterinnen hatten bei geringster Kinderzahl die grösste Sterblichkeitsziffer aufzuweisen. „Von je drei Kindern, die sie geboren hatten, sahen sie zwei sterben.“

Hochinteressant sind die Darlegungen betreffs der Anschauungen, die in München-Gladbach in Bezug auf die Moral der Textilarbeiterinnen gelten. Der Ruf der Mädchen ist so schlecht, dass es den anständigsten – nach bürgerlichen Begriffen – nicht möglich ist, in einem besseren Hause eine Wohnung zu bekommen, obwohl der Gewerbestand der Stadt von der Industriearbeiterschaft lebt. Eine Bäckersfrau empfindet es als Schande, wenn ein Fabriksmädchen im fünften Stock ihres Hauses ein Zimmer hat.

Und die Vergnügungen der Arbeiterschaft? Auf die Frage: „Was tun Sie am Sonntag?“ kehrt immer wieder die Antwort: „Da schlafe ich lange.“ Der eine geht mit der Frau spazieren, der andere spielt mit den Kindern.

„Der Sonntag der verheirateten Arbeiterinnen dagegen ist nicht mit diesen Worten zu charakterisieren, ja es ist zweifelhaft, ob er überhaupt den Namen Ruhetag verdient.“ (Seite 236.)

Eine der Arbeiterinnen antwortete auf die Frage, was sie am liebsten zu ihrer Erholung täte: „Ach, du lieber Gott, hinsetzen und ausruhen.“ Die jugendlichen Arbeiterinnen sind eifrigere Leserinnen als die Arbeiter desselben Alters.

Aber aus was besteht die Lektüre der Mädchen? Hintertreppenromane, Kolportageliteratur der schlimmsten Sorte, daneben Lebensbeschreibungen von Heiligen und Märtyrern, die ihnen von den Priestern gegeben werden. (München-Gladbach ist bekanntlich eine Hochburg des Zentrums.) Die jungen Arbeiter aber lesen Räuber- und Indianergeschichten, sehr selten Dichterwerke.

Frau Dr. Bernays widmet auch der Bedeutung der katholischen Religion im Leben der Arbeiterschaft eine kurze Betrachtung. Sie sucht zu verstehen, dass der Arbeiter, der die Woche über in „hässlicher Umgebung, bei stumpfsinniger Beschäftigung lebt, beim sonntägigen Gottesdienst im grossen Dom, umgeben von schönen Bildern und schöner Musik, sich selbst vielleicht unbewusst gehoben fühlt durch den Zusammenhang mit einer Jahrtausende alten Kultur“. Und dass „die durch Elend stumpf gewordenen Frauen sich am liebsten an die schmerzensreiche Frau und Mutter wenden“.

Aber sonderbar: „Uebermächtig ist der Einfluss der katholischen Kirche in der dortigen Gegend“, ihre Herrschaft ist unumschränkt – und dennoch so trostlose Zustände, dennoch eine sittlich tiefstehende Arbeiterschaft, dennoch geschlechtliche Perversitäten in einem Umfang, dass davon geredet wurde. Wo bleibt da der sittliche, der veredelnde Einfluss der Religion?

Das Buch bietet noch viel beachtenswertes Material. Es ist gewiss auch darum beachtenswert, weil es ohne politische Note und Absicht Licht verbreitet über das Lebensschicksal einer bestimmten Schichte der Arbeiterklasse, woraus man auf die Lebenslage von Millionen anderer Männer und Frauen schliessen kann, die, von den Sonnenseiten des Lebens ausgeschlossen, in einer Weise leben, wie sie den Oberschichten der Gesellschaft nicht als lebenswert erscheinen mag.

Zu dieser Erkenntnis trägt für alle, die des menschlichen Empfindens nicht entbehren, das Werk Dr. Marie Bernays wesentlich bei.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024