Adelheid Popp

Mädchenerziehung und Rassenhygiene

(1. November 1910)


Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1. November 1910, S. 75–77.
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Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Frauen gebären zu selten und die Zahl der Geburten befindet sich im Abnehmen. Das hat Herrn Professor Max v. Gruber in München veranlasst, in der Generalversammlung des „Vereines zur hauswirtschaftlichen Frauenbildung“ einen Vortrag zu halten. Seit vielen Wochen ist dieser Vortrag, der im Verlage von Ernst Reinhardt in München unter obigem Titel erschienen ist, Gegenstand der Diskussion in den Kreisen der bürgerlichen Frauenbewegung. Fast alles, was in frauenrechtlerischen Kreisen Namen hat, ist in die Arena gestiegen, um sich mit Herrn Professor v. Gruber zu messen. Gar zu schwer wurden die bürgerlichen Frauen getroffen. Sie müssen gegen einen Mann kämpfen, den sie bisher als Freund und Anhänger der Frauenbewegung betrachtet haben. Nun wird ihnen von ihm, dem vermeintlichen Freund der Gleichberechtigung der Frauen, zugerufen, dass beim weiblichen Geschlecht die „Freude am Dienen“ geweckt werden muss. Nicht das Hochschulstudium, nicht das Wahlrecht, sondern einzig und allein die Fortpflanzung erscheine dem weiblichen Geschlecht als Ideal. Der Geburtenrückgang erschreckt Herrn Professor Gruber und er sieht eine der Hauptursachen davon in dem Zunehmen der geistigen Betätigung der Frauen. Vom Standpunkt der Rassenhygiene gibt es daher nach ihm für die Mädchenerziehung nur ein Ziel: Ehefrauen und Familienmütter zu werden. Professor Gruber stellt fest, dass er sich damit bewusst in schärfsten Gegensatz mit jener Richtung der Frauenbewegung setzt, „welche jedes Mädchen für das Erwerbsleben ausbilden will und die volle ökonomische, soziale und politische Unabhängigkeit der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Manne“ fordert. Er findet, dass diese Richtung der Frauenbewegung bewusst und unbewusst auf „die Zerstörung der Familie und auf die Unfruchtbarkeit lossteuert und die Volkskraft an der Wurzel bedroht“. Diese Richtung erscheint ihm um so gefährlicher, als sie alle „Mächte des Umsturzes“ zu Verbündeten hat. Im Kapitalismus sieht er den mächtigen Gönner dieser Bestrebungen, da dieser nicht genug billige Hände bekommen kann und in seiner Gier nach Erwerb die Kuh schlachtet, von deren Milch er lebt.

Herrn Professor Grubers ganze Darlegungen sind durchzogen von einem feindseligen, fast möchten wir sagen gehässigen Ton gegen die Frauenbewegung. Die besonnenen und gewissenhaften Frauen fordert er auf, von ihren „kurzsichtigen“ Schwestern abzurücken, sonst werden alle, die nicht wollen, dass „unser Volk am Feminismus erlahmt und verdirbt“, in heftigste Abwehrbewegung gegen die öffentliche Betätigung der Frauen überhaupt gedrängt. Professor Gruber spricht vom leidenschaftlichen Drängen der Frauen nach wirtschaftlicher Selbständigkeit, Erwerb und Beruf, was „rassenhygienisch deshalb so verderblich ist“, weil „die physische und psychische Kraft der Frau nicht ausreicht, neben der Erwerbs- und Berufsarbeit auch noch die ungeheure Last der Mutterschaft als Gebärerin, Ernährerin und Erzieherin ihrer Kinder zu tragen“. Wohl wahr, die Last ist schwer, sie ist aber nicht erst heute schwer geworden. Die grosse Mehrheit der Frauen hat diese dreifache Last fast immer zu tragen gehabt. In aller Bescheidenheit erlauben wir uns, Herrn Professor Gruberauf die Arbeit eines seiner Leipziger Kollegen, des Herrn Professors Karl Bücher, über die Frauenfrage im Mittelalter hinzuweisen. Uns dünkt, dass das Los der Frauen in jenen früheren Jahrhunderten um nichts leichter gewesen ist, als es den Millionen Frauen des Proletariats heute beschieden ist. Aber freilich, Herr Professor Gruber wendet sich ja nicht so sehr gegen die industrielle Arbeit der Frauen, sondern gegen die geistige. Zitiert er doch Adele Gerhard und Helene Simons Buch: Mutterschaft und geistige Arbeit, um den physischen und psychischen Konflikt zwischen geistiger Arbeit und Mutterpfiichten nachzuweisen. Herr Professor Gruber führt gegen die geistige Arbeit der Frauen an, dass ihre Tätigkeit auf geistigem Gebiete-bisher unfruchtbar geblieben ist. Keine selbständigen Schöpferinnen, keine Erfinderinnen habe sie hervorgebracht. „Wenn man alles streicht, was Frauen geistig geleistet, wird kaum eine Lücke bleiben“. Wir wollen dem nicht widersprechen, nur sehen wir darin keinen Grund, gegen die geistige Betätigung der Frauen aufzutreten. Wir stellen aber die Gegenfrage: Wie viel Männer unter den Millionen, die immer das Recht hatten, ihren Geist zu entfalten, haben Schöpferisches geleistet? Sind nicht auch sie geistige Durchschnittsarbeiter, die die Wege wandeln, die einzelne überragende Geister gebahnt haben? Erst wenn die Frauen in so grosser Zahl, mit der gleichen Selbstverständlichkeit durch einen eben so langen Zeitraum an dem geistigen Leben Anteil haben werden, wie die Männer, kann man ein Urteil über ihre geistige Leistungsfähigkeit abgeben. Wenn der Herr Professor über die geistigen Leistungen der Frauen so geringschätzig urteilt, wie steht es mit ihren Leistungen auf dem Gebiet der manuellen Arbeit? Denn was Herr Professor Gruber will, lässt sich ja nicht dadurch erreichen, dass die Frauen aus den geistigen Berufen gedrängt werden. Wenn der ganze Mittelstand, dessen Töchter da hauptsächlich in Betracht kommen, alle seine Mädchen „wie die jungen Kühe und Stuten auf die Weiden führen würde“, wir fürchten, auf die Zahl der Geburten würde die Wirkung kaum bemerkbar sein. Erstens hängt die Unlust häufig zu gebären nicht mit der Berufstätigkeit so zusammen wie Professor Gruber das annimmt, zweitens existiert in den gutsituierten Kreisen auch dann eine Abneigung gegen eine grosse Kinderzahl, wenn der Geist der Frauen ganz „rein und unberührt“ von jeder frauenrechtlerischen Infizierung geblieben ist. Warum haben denn – von Frankreich gar nicht zu reden – auch so viele Bauern nur zwei, oder gar nur ein Kind? Wir bestreiten nicht, dass die Zahl der Frauen, die sich dagegen auflehnt, Jahr um Jahr ihre Zeit zwischen Schwangerschaft und Wochenbett dahin zu leben, nebenbei zu arbeiten wie ein Vieh, im Hause, auf dem Felde oder in der Werkstätte, grösser wird. Aber kann das ein Einsichtiger als Entartung bezeichnen? Gerade die Liebe zu den Kindern ist es, die viele Frauen unlustig macht, noch weitere Kinder zu gebären, selbst physisch total zu entkräften und die materielle Existenzmöglichkeit immer tiefer herabzudrücken.

Man rede uns doch nicht von den Schäden, die die Frauenbewegung an der Fortpflanzung verursacht. Die Frauen, die wirklich tätigen Anteil an der Bewegung für die ökonomische, soziale und politische Gleichstellung der Frauen nehmen, sind gegenüber der Masse gleichgültiger, in den alten Traditionen lebender, eine so geringe Anzahl, dass sie einem Tropfen auf einem heissen Stein gleichen. Leider! Sagen wir. Ausschlaggebend für das Problem, das Herr Professor Gruber besprochen, sind die Arbeiterinnen. Ihre Fruchtbarkeit geht zurück, aber nicht weil sie die Zahl der Geburten aus irgendwelchen frauenrechtlerischen Gründen nicht mehr auf sich nehmen wollen, sie geht zurück, weil der Körper der arbeitenden Frau durch den langen Aufenthalt in ungesunder Atmosphäre, durch zu langes und intensives Arbeiten und durch Unterernährung die Gebärfähigkeit verliert. Der Abortus vor allem, auch der in den allerersten Wochen spielt eine grosse Rolle in Arbeiterinnenkreisen. Der Abortus, von dem kaum eine Statistik erzählt, weil er, um nicht im Erwerb zu schädigen und auch aus anderen Gründen, verheimlicht wird. Die Arbeiterin, die einen verheimichten Abortus durchgemacht, geht nach wenigen Tagen wieder arbeiten. Leuchtet es da nicht ein, dass der so misshandelte Körper zu weiteren Geburten – oder doch zu normalen – unfähig wird ? Die Motive dazu sind aber nicht in dem Streben nach den „Problemen des Mannes“ zu suchen, sondern in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Herr Professor Gruber spricht von dem „leidenschaftlichen Drängen“ der Frauen nach wirtschaftlicher Selbständigkeit. Was bleibt den Ledigen, den Witwen und jenen Frauen, die kranke oder liederliche Männer haben, anders übrig als Erwerb und Beruf? Dass aber die Berufsarbeit nicht immer dem leidenschaftlichen Drängen der Frau zuzuschreiben ist, mag Herr Professor Gruber dort studieren, wo die Textilbarone ihren Sitz haben. Wo der Unternehmer dem männlichen Arbeiter sagt: „Bringen Sie auch Ihre Frau, sonst kann ich Sie nicht brauchen!“

Herr Professor Gruber! Nicht von den paar Tausend Frauen, für die Mittelschulen errichtet werden, nicht von den Aerztinnen und Juristinnen hängt es ab, wie die Bevölkerung sich vermehrt, sondern von den vielen Millionen, die nur allzuoft lieber Gattin und Mutter sein würden, von der heutigen Gesellschaft aber um dieses Glück in jedem Falle betrogen werden. Betrogen, wennsiegebären, weil sie die Kinder weder pflegen noch erziehen können, da sie sonst hungern müssten; und betrogen, wenn durch den ungenügenden gesetzlichen Schutz in den Fabriken der Organismus zerstört und gebärunfähig gemacht wird. Was die Fabrikatmosphäre nicht ganz zuwege bringt, wird durch die mangelhafte Ernährung, durch das ungesunde Wohnen, durch die ungenügende Ruhe vervollständigt. So begrüssen wir im Gegensatz zu Herrn Professor Gruber die „Mächte des Umsturzes“. Denn nur durch einen Umsturz hoffen wir auf eine so gründliche Wandlung, dass das Weib Mutter wird sein können, ohne dass es gleich den Stuten „auf der Weide“ wird. Arbeiterschutz, Wöchnerinnen- und Säuglingsschutz, ausreichende Löhne, billige Lebensmittel, gesunde Wohnungen werden auch die erwerbstätige Frau physisch so kräftigen, dass sie wieder gebärfähig wird. Auch ihre heute nur zu begreifliche Angst vor dem „Kindersegen“ wird dadurch vermindert werden. Aber niemals kann den Frauen als einzige Pflicht und Aufgabe das Kindergebären zugewiesen werden. Es kann auch nicht der einzige Zweck der Vereinigung von Mann und Frau sein, wenigstens nicht der gewollte. Es hat zu allen Zeiten und in allen Ständen Frauen gegeben, die ohne in dem Besitz von Bildung und geistigen Aspirationen zu sein, nicht Mutter sein wollten. Das Streben der Frauen nach Gleichstellung mit dem Manne hat damit gar nichts zu tun. Gibt es doch in allen Ländern Frauen, die mit glühendster Begeisterung für die geistige Entwicklung, für die wirtschaftliche Unabhängigkeit und für die politische Gleichberechtigung der Frauen kämpfen und dabei eine Schar blühender Kinder zur Welt bringen, mit Sorgfalt pflegen und erziehen. Das sind die geborenen Mütter; dass sie nebenbei auch hochstrebenden Geistes sind, macht sie nicht minderwertig. Herr Professor Gruber will den Mädchen die Beruf Stätigkeit freigeben, aber nur als Helferinnen des Mannes, bis zum Beginn der Ehe. Das aber ist ein Teil des Fluches, der heute auf der Frauenarbeit lastet, dass die meisten Mädchen die Berufsarbeit noch immer als Uebergangsstadium ansehen und sich daher mit geringem Lohn zufrieden geben. Die meisten von ihnen würden gern die Berufsarbeit mit den Gattinnen- und Mutterpflichten vertauschen, sie werden aber nur Gattinnen, wenn sie geneigt sind, auch Arbeiterinnen zu bleiben. Das hat nichts mit Emanzipationsbestrebungen zu tun, sondern mit der harten Wirklichkeit, dass vom Verdienst des Mannes eine Familie nicht leben kann. Wenn aber das in die Ehe tretende Mädchen aus der Fabrik scheidet, verbessert sich damit vom rassenhygienischen Standpunkt aus ihre Lage? Wenn das junge Weib daheim bei der Nähmaschine sitzt oder bei sonst einer Heimarbeit, wenn sie dann schwangeren Leibes die Maschine tritt, ohne Arbeiterschütz, ohne Maximalarbeitszeit, wirkt das auf die Gebärfähigkeit weniger degenerierend als, sagen wir, die Beschäftigung mit der medizinischen oder juristischen Wissenschaft, mit den schönen Künsten? Wenn Herr Professor Gruber aber auf die nach der Statistik der Leipziger Ortskrankenkasse geringe Anzahl der Wochenbetten bei Verkäuferinnen und Comptoiristinnen verweist, so hat das nicht, wie er meint, seine Ursache in der Gebärunlust der berufstätigen Frau, sondern einzig in dem Umstand, dass Mädchen oder Frauen dieser Berufe ihre Stelle verlieren, wenn sie so „unanständig und schamlos“ sind, ihren „natürlichen“ Beruf erfüllen zu wollen. Hier, Herr Professor Gruber, muss das Reformwerk beginnen; hier soll die Kritik aller einsetzen, in deren Köpfen nicht nur die oberen Zehntausend, sondern auch die unteren Millionen existieren.


Zuletzt aktualisiert am 8. Oktober 2023