Anton Pannekoek

Die neue Welt

(28. Dezember 1918)


Aus: Arbeiterpolitik, 3. Jg, Nr. 52, 28. Dezember 1918, S. 313–4 & 3. Jg. Nr. 1, 4. Januar 1919, S. 318f.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


 

1.

Der vierjährige Weltkrieg hat das Wesen der Welt aufs Tiefste umgewälzt. Eine neue Welt liegt um uns. Aber die Wenigsten haben sich klargemacht, was sich alles geändert hat.

Die proletarische Weltrevolution hat begonnen. Das sieht und weiß jeder. Die Bourgeoisie sieht oder ahnt es mit Schrecken, sie versucht, noch zu retten, was zu retten ist und mit aller Macht die alte Herrschaft zu behalten oder wieder aufzurichten. Die Vorhut des Proletariats nimmt begeistert den Kampf auf, und die große Masse der Arbeitenden setzt sich in Bewegung, ohne noch klar zu sehen, aber doch herausfühlend, daß jetzt ihre Zeit kommt. Die Revolution der Arbeiter ist im Gange und wird weitergehen. Aber die Verhältnisse, unter denen sie stattfindet, sind neu und ganz anders als vor dem Krieg. Und hier liegt der Irrtum vieler der früheren Sozialdemokraten, die glauben, noch in der alten Welt zu leben, und deshalb nicht sehen, wie ganz anders, als sie es immer gedacht haben, die Bedingungen des Kampfes jetzt sind. Sie halten fest an die alten Losungen, das alte Programm, sie rühmen, daß sie die Alten geblieben sind und führen damit die Arbeiter, die ihnen noch folgen, auf falsche Spuren. Daher ist es nötig, die neue Welt, innerhalb deren die proletarische Revolution vor sich gehen wird, genau zu betrachten.

Der Weltkrieg hat die Welt international gemacht — das ist seine erste große Wirkung.

Der Kapitalismus schuf die Nationalstaaten, die großen politischen Einheiten der Bourgeoisie, die sich scharf gegeneinander absonderten, aber in ihrem Innern stets mehr die Gegensätze und Unterschiede in Volksart, Sitten, Anschauungen, Rechten aufhoben. Jeder Staat war selbstherrlich, souverän den andern gegenüber; keiner duldete eine Einmischung der andern in seine inneren Verhältnisse; jede schloß Verträge und Bündnisse mit den anderen nach freiem Belieben. Als bewaffnete Kampforganisationen der Bourgeoisie standen sie neben- und gegeneinander und verfochten in Kriegen ihre gegenseitigen Interessen. Die Folge davon war, daß alle weiteren Beziehungen der Menschen sich innerhalb der Staatsgrenzen abspielten. Die Gesetzgebung war eine innerstaatliche Angelegenheit. Der Klassenkampf wurde auf nationalem Boden geführt, als Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariats desselben Landes. Allerdings fanden Beeinflussungen von jenseits der Grenzen statt: auf internationalen Kongressen wurde beraten und wurden Resolutionen abgefaßt; aber das war nur nebenbei. Jede Partei war im eigenen Lande souverän; jede Arbeiterklasse sollte, wie es hieß, mit ihrer eigenen Bourgeoisie abrechnen.

Der Imperialismus brachte zunächst die Staatenbündnisse, die sich schließlich zu zwei großen feindlichen Koalitionen krystallisierten. Im Kriege wurde die eine dieser Koalitionen zerschmettert. Die siegreiche Koalition hat keine Gegner mehr. Die Besiegten sind teilweise in kleineren Nationen aufgelöst, die in ihrer Not sich bettelnd an die Sieger anschließen; die Neutralen müssen sich gleichfalls den Siegern fügen. Die Koalition erweitert sich zum Völkerbund. Der Wilsonsche Völkerbund ist schließlich nur die Erweiterung der Entente, durch Aufnahme der neutralen und besiegten Staatenreste. In diesem Völkerbund ist von der alten Souveränität und Unabhängigkeit der alten Staaten wenig übrig geblieben. Auch die führenden Staaten, England und Amerika stehen in ihrer inneren Politik; nicht mehr unabhängig; die Anleihen und Kriegslieferungen, die Entscheidungen des obersten Kriegsrates über ihre Politik haben tief eingewirkt; und in noch viel höherem Maße sind Frankreich und Italien von ihnen abhängig. Ihre innere Politik können diese Staaten nicht mehr machen, wie sie wollen. Und noch vielmehr gilt das von den schwächeren und besiegten Ländern. England, Amerika, Japan können noch einen starken autonomen Sinn bewahren, weil sie Sieger, Herrscher der Welt sind, sie können sogar einen neuen Streit miteinander anfangen. Aber alle jene andre sind nur der äußeren Form nach selbständige Staaten. Wenn der Völkerbund theoretisch festlegt, was schon Praxis ist, dürfen sie keine Verträge miteinander schließen und keine stehende Armee halten.

Die führende Gewalt wird auch genau darauf achten, daß sie in ihrem Inneren sich so benehmen, wie es ihr nötig erscheint.

Die scharfe Absonderung der Staaten ist verschwunden, aber umso schärfer geht durch sie alle der Riß zwischen Proletariat und Ausbeutertum. Als eine internationale Einheit steht die Bourgeoisie aller Länder vereint gegen das Proletariat aller Länder. Nicht bloß theoretisch, durch Sympathie, sondern praktisch, durch Taten. Im Jahre 1871 hielt Bismarck sich noch außer den Kämpfen zwischen Kommune und Versailles und unterstützte letztere bloß indirekt und moralisch. In Jahre 1918 ziehen die Armeen der Entente in Rußland ein, um dort die Bourgeoisie, die Generäle, die Adligen, die Knutenleute zur Herrschaft zu bringen. Es ist kein Krieg von England und Frankreich gegen Rußland, sondern ein Krieg der Bourgeoisie gegen das revolutionäre Proletariat, ein Krieg des Kapitals gegen den Sozialismus. Wer jetzt nur die Verhältnisse im eigenen Lande sieht, übersieht das allerwichtigste. Die deutschen Proletarier haben zu bedenken, daß dort in den Steppen der Ukraine das Schicksal des deutschen Sozialismus mit entschieden wird, ähnlich wie von ihrem Kampf in den Straßen Berlins und Hamburgs die Zukunft der Sowjetrepublik abhängt. Das revolutionäre Proletariat aller Länder bildet eine einzige Masse, eine einzige Armee, und wenn es das nicht weiß und nicht aktiv betätigt, wird es als eine zusammengehörige, aber zersplitterte Armee, abteilungsweise zerschmettert werden. Nichts hat das deutsche Proletariat zu gewinnen, wenn es sich absondert, aus Furcht durch Hilfe der russischen Revolutionären die Feindschaft der Ententebourgeoisie zu wecken.

Es wird dann, sobald es sich selbst befreien will, isoliert angegriffen werden. Es hat einzusehen, daß es jetzt nur mehr eine Schlachtfront in der Welt gibt: Kapital gegen Proletariat; es steht, ob es will oder nicht will, in einer Front mit dem russischen Volke und durch seinen Kampf unterstützt es seine Kameraden überall: in Rußland, wo sie sich schon befreiten, in Schottland, in Amerika, in Frankreich, wo sie erst emporkommen. Gegen die Internationale des Kapitals, dem Wilsonschen Völkerbund, steht die Internationale der Arbeit, der Kommunismus, und sammelt sich und wächst empor.
 

2.

Der Weltkrieg hat die Welt verwüstet und sie in die tiefste Armut, zu einem Chaos heruntergedrückt: das ist seine zweite große Wirkung. Vier Jahre lang sind alle Produktionskräfte in den Dienst des Krieges gestellt. Das bedeutet, daß alle Rohmaterialien, alle Maschinen, alle Verkehrsmittel und alle menschliche Arbeitskraft unproduktiv vergeudet wurden. Sie wurden benutzt für den Zwecke der Zerstörung, sie wurden verbraucht, um nichts zu erzeugen, sondern um den Feind niederzuwerfen. Die Folge mußte ein absoluter Mangel sein an alles, was die Gesellschaft zu ihrem Weiterbestehen braucht. Daß dies vier Jahre lang so weitergehen konnte, war nur möglich, weil in diesen vier Jahren die Lebenshaltung der Massen auf das Mindestmögliche heruntergedrückt wurde: was für den Krieg produziert wurde, wurde für ihren Lebensbedarf weniger produziert. Das konnte aber nur einen Teil der Kriegsverschwendung begleichen; daneben kommt die Verwahrlosung aller Produktions- und Verkehrsmittel; statt sie zu erneuern, wurden sie aufgebraucht. So steht man am Ende des Krieges vor einer völligen Zerüttung des ökonomischen Lebens: es fehlt an Produktionsmittel, an Rohstoffe, an Arbeitskräfte; denn die Menschen sind körperlich geschwächt durch die lange Entbehrung. Allerdings könnte man dem entgegenhalten, daß doch das Kapital sich gewaltig vermehrt und konzentriert hat. Aber dieses Kapital besteht vor allem im Rechtstitel, nicht in produktivem Kapital. Es ist Eigentum an Fabriken, die nicht die Möglichkeit haben, sofort weiter zu produzieren; es ist vor allem Staatsschuld, also Anspruch auf riesigen Zinsenmassen, die von dem Proletariat und den Kleinbürgern und Bauern in der Gestalt von Steuern den Kapitalisten gezahlt werden müssen. Die Kapitalsvermehrung bedingt die Verteilung der Produkte — sie besagt, daß die erzeugten Produkte möglichst ungerecht verteilt werden — aber vermehrt nicht die Produktion. Die Bereicherung der Großen bedeutet, daß die Vampyre die allgemeine Armut noch vermehren werden, indem sie für sich den größten Teil der dürftigen Vorräte beschlagnahmen wollen. Nein, wirtschaftlich betrachtet steht die Welt schon vor einem ungeheuren Bankrott, vor einer leeren Wüste, vor einem ökonomischen Chaos.

Das gilt mehr oder weniger für alle Länder; für solche Länder, wie Japan und Amerika am wenigsten, aber für Zentraleuropa — wie zuvor für Rußland — am allermeisten. Deutschland hat mehr als England seine wirtschaftlichen Hilfsmittel bis zum letzten Tropfen für den Krieg aufgebraucht — wie ganz anders hätte es dagestanden, wenn die Arbeiter schon im vergangenen Februar Revolution gemacht hätten! — Und weil es besiegt ist, werden ihm jetzt die letzten Reste seines Besitzes genommen. Die Gegner wollen um jeden Preis verhindern, daß es sich noch einmal als Kapitalmacht aufrichten könnte. Nach den Reden der englischen Minister ist nicht daran zu zweifeln, daß Deutschland an Kriegsentschädigung alles zu bezahlen haben wird, was es besitzt, so daß es völlig ausgeplündert und besitzlos dastehen wird. Das Gold, das nötig wäre, um im Auslande zu kaufen und damit die Produktion in Gang zu bringen, hat der Sieger genommen; von ausländischen Rohstoffen ist Deutschland abgeschnitten; fremde Märkte sind ihm verschlossen; die wichtigsten Eisen- und Kohlenreviere, Lothringen, das Saargebiet, das schlesische Becken sind oder werden werden von ihm abgetrennt; von den vorhandenen Transportmitteln oder Maschinen wird ein bedeutender Teil abgeliefert werden — zur Neubelebung einer kapitalistischen Produktion fehlt alles. Das Kapital kann seinen bisherigen Arbeitssklaven keinen Lebensunterhalt mehr geben — furchtbare Arbeitslosigkeit grinst dem Proletariat entgegen. Denn das Kapital ist selbst nichts mehr. Die gewaltige industrielle Entwicklung Deutschlands im vergangenen halben Jahrhundert ist mit einem Male abgeschnitten. Deutschland ist durch diesen Krieg — ähnlich wie durch den dreißigjährigen Krieg — auf eine viel niedrige Stufe wirtschaftlicher Entwicklung zurückgeworfen. Wie im ganzen Zentraleuropa wird es mit einer primitiven Stufe der Agrarwirtschaft wieder anfangen müssen und es wird Jahrzehnte dauern, bis es wieder einigermaßen zu einer höheren Entwicklung emporsteigen kann. Das sind die Aussichten, wenn die bürgerliche Produktion bestehen bleibt, also die Bourgeoisie die Staatsgewalt in den Händen behält.

Und für die nächste Zeit sind die Aussichten noch schlimmer. Die Lebensmittel und die Transportmittel zu ihrer Verteilung sind in so geringem Maße vorhanden, daß nur die strengste Handhabung peinlichster Vorschriften durch eine starke Regierung es ermöglichen wird, daß man mit dem nackten Leben davonkommt. Solange die vorläufige Ebertregierung fortwurstelt, die beiden Klassen Rechnung tragen will, geschieht nichts und wird also nur ein schlimmster Zusammenbruch vorbereitet. Eine starke Regierung kann nur eine Klassenregierung sein; entweder eine offene Bourgeoisregierung, die über so große Gewaltmittel verfügt, daß sie die Proletarier durch eine Minimalrationierung gerade am Rande des Hungertodes vorbeiführt und sie schonungslos niederhält — so wie es die vorige Regierung während des Krieges machte —; oder eine wirklich proletarische Regierung, die schonungslos alle Vorräte und Vorrechte der Bourgeoisie antastet und alles, was vorhanden oder zu beschaffen ist, für die Massen bestimmt und ehrlich verteilt.

Der Kapitalismus hat dem Proletariat nichts mehr zu bieten. Die Not zwingt dem Proletariat den Sozialismus auf.

In der Zeit vor dem Kriege konnte der Kapitalismus den Arbeitern etwas bieten: eine, wenn auch nicht sichere, so doch ziemlich ruhige, dürftige Existenz; und dem gegenüber standen die unsicheren Wirrnisse einer Revolution, die den hochentwickelten Produktionsprozeß stören und lähmen würden. Daher wagte die Masse des Proletariats die Revolution nicht; sie war zufrieden und wiegte sich in dem Wahn, es würde weiterhin so bleiben. Der Sozialismus erschien wie ein Sprung in das Nichts, in die Leere, in den Chaos. Jetzt steht die Welt in dem Chaos, in dem Nichts. Der Kapitalismus kann keine ruhige Existenz, keine friedliche Arbeit mehr geben. Das Volk steht vor der Wahl: entweder die Leitung der Welt in den unfähigen Händen zu belassen, die diesen Chaos verschuldet, der Bourgeoisie, der, Bürokratie, der Ebertleute, und dann zu Grunde zu gehen, während diese ihr Ausbeutungssystem hinüberretten — oder selbst die Leitung in die Hände zu nehmen und selbst die Produktion in Gang zu bringen. Im ersten Fall wird die Produktion mühsam, schwer emporkommen, da Kapitalmangel und Gewinninteressen sie hemmen, und der Ertrag wird der Neubildung von Kapital dienen; im zweiten Fall wird sie energisch in Betrieb gesetzt werden als Selbstversorgung des ganzen arbeitenden Volkes. Die Wahl wird sich mit zwingender Gewalt vollziehen. Nicht aus klarer Einsicht, nicht aus theoretischer Ueberlegung seiner Vortrefflichkeit, sondern aus unmittelbarer Not werden die Arbeiter den Sozialismus durchführen müssen.

Ebert oder ein anderer hat gesagt, diese Zeit der Not sei nicht geeignet, Theorie zu verwirklichen. Der Sozialismus war diesen Leuten immer nur eine abstrakte Theorie statt einer praktischen Lebensnotwendigkeit für die Arbeiter. Sie träumten, wie so viele, von einem Idealkapitalismus, in dem eine einsichtsvolle sozialdemokratische Parlamentsmehrheit —eine friedliche Umwälzung durchführen sollte, inmitten von Produktionsüberfluß und Wohlfahrt. Aber die Wirklichkeit ist anders: der Sozialismus muß kommen als Retter in der furchtbarsten Not, als die einzige Möglichkeit für die Massen, sich vor dem völligen Untergang zu retten. Und er wird der Retter sein. Ohne den Sozialismus wäre das Volk im bankerotten Rußland völlig dem Hunger, dem Untergang ganz verfallen; die Anfänge des Sozialismus haben die Volksmassen durch die schlimmste Zeit hindurch gerettet, sie ökonomisch gekräftigt, trotz der Angriffe von innen und außen, die die Lebensmittelversorgung aufs Schwerste gefährdeten. Der Sozialismus wird auch in Deutschland und den anderen zentraleuropäischen Ländern die Massen durch planvolle, aber streng durchgeführte Organisation der Produktion und Lebensmittelversorgung durch die schlimme Zeit hindurch retten, aber damit zugleich den Keim der neuen Produktionsweise, den Keim der neuen Freiheit legen.

Marx sagte im Jahre 1847 den Proletariern: Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten. Vor einem Jahrzehnt sagten Vertreter der Arbeiter in Abwehr gegen den Marxismus: Die Arbeiter haben jetzt etwas zu verlieren, also keine Revolution. In der Tat: solange die Arbeiter, in Zeiten der Prosperität, fühlten oder glaubten, etwas zu verlieren haben, hörten sie nicht auf Marx, verhallte sein Wort. Jetzt wird es wieder zur Wahrheit. Alles, was der Kapitalismus bieten konnte, wirklich oder im Scheine, ist verloren. Nichts haben die Arbeiter mehr zu verlieren. Von allem beraubt, nackt und kahl stehen sie in der Wildnis — vor den Toren der Zukunft. Sie haben eine Welt zu gewinnen.


Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019