Franz Mehring

 

Karl Marx – Geschichte seines Lebens

(1918)


Auszug aus Franz Mehring, Karl Marx – Geschichte seines Lebens, Anmerkungen.
Seitenzahlen nach: Franz Mehring – Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960.
Online bei http://www.mlwerke.de/fm/fm03/fm03_000.htm.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Anmerkungen
(Auszug)

Der Niedergang der Internationalen

Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, mit Einleitung von Engels, Berlin 1891, enthält die drei Adressen der Internationalen über den Krieg und die Kommune. Briefliche Äußerungen von Marx über die Kommune (Die Neue Zeit 201, 708). Die spärlichen Reste des Briefwechsels, den Marx während des Aufstandes selbst mit Mitgliedern des Kommunerats gepflogen hat (Die Neue Zeit 291, 734). Mémoire présenté par la Fédération jurassienne de l’Association Internationale des Travailleurs à toutes les Fédérations de l’Internationale, Sonvillier 1871. Les prétendues Scission dans l’Internationale. Circulaire privé du Conseil général de l’Association Internationale des Travailleurs, Genève 1872. M. Bach, Die Spaltung in der englischen Internationalen (Die Neue Zeit 212, 21). Ein Complot gegen die Internationale Arbeiter-Assoziation. Braunschweig 1874 (die sogenannte Allianzbroschüre).

Es ist hier der Ort, mit einigen Worten auf den Totschlagversuch einzugehen, den K. Kautsky und N. Rjasanow an diesem Buch noch in seinem embryonalen Zustande unternommen haben.

Obgleich einige ketzerische Äußerungen über Lassalle mir bereits eine öffentliche Warnung Kautskys wegen „Marxfeindschaft“ und eines angeblich an Frau Lafargue begangenen „Vertrauensbruchs“ zugezogen hatten, hielt ich öffentlich an meinem biographischen Plane fest und besaß sogar die Verwegenheit, in dem damals von mir redigierten Feuilleton der Neuen Zeit – siehe Die Neue Zeit 312, 985 – das Buch Brupbachers über Marx und Bakunin anzuzeigen, ohne es nach Strich und Faden herunterzureißen. Ich tadelte an dem Buche zwar manche Ausfälle und Ungerechtigkeiten gegen Marx, erklärte es aber insoweit für ein „nützliches und verdienstliches Werk“, als es eine Reihe von ungerechten Vorwürfen beseitige, die von Marx und den Marxisten, wobei ich mich selbst keineswegs ausnahm, gegen Bakunin erhoben worden seien. Der sachliche Kern meiner Besprechung war die Ausführung, die Internationale sei an der Erfüllung einer großen historischen Mission untergegangen, also eines ungleich ehrenvolleren Todes gestorben, als an den elenden Intrigen gewissenloser Demagogen.

Damit war nun aber auch mein Maß voll, und N. Rjasanow erließ gegen meine armen sechs Seiten jenes Pamphlet von mehr als zehnfachem Umfange, dem Kautsky bereitwillig die Spalten der Neuen Zeit geöffnet hat. [1] Natürlich ging Rjasanow mit keiner Silbe auf meine sachlichen Ausführungen ein; selbst die zwei oder drei Irrtümer, die er mir nachweisen wollte, indem er mir entweder die Worte im Munde verdrehte oder einen sachlich gleichgültigen Flüchtigkeitsfehler maßlos aufblähte, hatten nicht das mindeste mit dem zu tun, worauf es mir ankam. Zweck der Übung war, mich als einen Menschen hinzustellen, dem es sowohl an Kenntnissen wie an Urteilsfähigkeit und namentlich an gutem Willen fehle, um in Sachen Marx überhaupt mitzureden. Mein Bild wurde sozusagen als zinnoberrot gekleckste Fratze an der Jahrmarktsbude aufgehängt, und davor stand der Marktschreier: Sehet hier ein Scheusal!

Für diese Rolle eignete sich Rjasanow nun gewiss aufs trefflichste. Er ist ein Meister des Stils, den er seinem bewunderten Borkheim abgeguckt hat, und den Marx einmal treffend schildert: „Wenn er die Feder in die Hand nimmt – wehe! Aller Takt und Geschmack fehlt ihm. Zudem alle erforderliche Vorbildung. Er gleicht den Wilden, die sich das Gesicht zu verschönern glauben, wenn sie es mit allen möglichen schreienden Farben tätowieren. Banalität und Kladderadatsch springen ihm immer zwischen die Beine. Fast jede Phrase setzt sich bei ihm instinktiv die Schellenkappe auf.“ Und bei Rjasanow keineswegs bloß instinktiv. Kann er eine Grimasse nach seinem Geschmack schneiden, so wird dieser „ernste Forscher“ wie er sich und seinesgleichen mit Vorliebe nennt, zum plumpen Fälscher. Um in seinem Pamphlet einige schlechte Witze gegen mich vom Stapel zu lassen, müsste er mich mit verantwortlich machen für einige Artikel, die Borkheim im Sommer 1869 in der Zukunft von Guido Weiß gegen Bakunin gerichtet hat. Nun bringt Rjasanow ein Zitat von mir bei, worin ich sage, dass ich in jungen Jahren der Redaktion der Zukunft angehört hätte, aber in demselben Atemzuge als Zeit meines Eintritts den Januar 1870 angebe. Diese Zeitbestimmung wirft Rjasanow fein säuberlich in den Papierkorb, dagegen saugt er sich die Behauptung aus den Fingern, dass ich am 25. Juni 1869 – ausgerechnet an diesem Tage – einen Artikel in der Zukunft veröffentlicht hätte. So hat er durch eine kleine Unterschlagung und eine kleine Fälschung freies Feld gewonnen und kalauert munter darauf los über den „grünen Jungen“, den ich im Sommer 1869, wo ich noch nicht in den entferntesten Beziehungen zur Zukunft stand, in deren Redaktion gespielt haben soll. Und solche Hanswurstereien, die jede bürgerliche Zeitschrift als Waffe gegen sozialdemokratische Schriftsteller verschmäht haben würde, nimmt Kautsky unbesehen in Die Neue Zeit auf, deren fleißigster Mitarbeiter ich seit zwanzig Jahren gewesen war.

Doch nun zu den Anklagen dieser Ciceros gegen Catilina! Gleich auf der ersten Seite werde ich beschuldigt, in meiner Rezension Brupbachers die „faulste Ware“ verhökert und die Gefahr heraufbeschworen zu haben, „dass unter sozialdemokratischer Flagge in die Parteiliteratur alle die Beschuldigungen eingeschmuggelt werden, die bisher von anarchistischer Seite gegen Engels und Marx, Bebel und Liebknecht vorgebracht wurden, die Beschuldigungen der Verleumdungssucht, der unverschämten Lügenhaftigkeit, der Fälschungen, Unterschlagungen, unerhörter Verirrungen des Moralgefühls“. Wenn diese Gefahr auf der ersten Seite des Pamphlets aber erst „droht“, so ist sie auf der zweiten schon eingetreten, und ich habe „die großen Toten mit moralisch verzierten und pharisäisch verbrämten Schmähungen überschüttet“. Meine ärgste Missetat ist dann, dass ich Marx als größten Denker der modernen Arbeiterbewegung abtun und an seine Stelle Bakunin als echten Heiland schieben will oder wie die Schellenkappe klingelt: „Marx als Claudius, Bakunin als Hamlets Vater, die deutsche Sozialdemokratie als Königin und Mehring als Hamlet, der ihr jetzt wieder einreden will, sie solle den schlechteren Teil hinauswerfen und umso reiner mit der anderen Hälfte leben.“ Von diesen tragischen Höhen steigt Rjasanow dann freilich wieder in das vertrautere Gebiet der Clownspäße herab, indem er mir vorwirft, ich sei vertrauensvoll auf den „ekelerregenden“ Leim der Brupbacher und Guillaume gekrochen, wonach die Marxsche Internationale nichts als ein Schein gewesen sei, „hinter dem sich eine ruchlose Bande gewissenloser und moralisch stumpfsinniger Jesuiten versteckte“.

Allerdings werden mir auch zwei mildernde Umstände zugebilligt: erstens eine grandiose Unwissenheit, „oberflächliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand und totale Unkenntnis der einschlägigen Literatur, soweit sie nicht deutsch ist“, und zweitens Gewissensbisse, die mich bedrückten, weil ich Bakunin noch ärger als selbst die Utin und Konsorten verlästert haben soll, eine Behauptung, die Rjasanow nur auf ein von ihm gefälschtes Zitat zu stützen vermag. Er verschweigt nämlich, dass ich an der von ihm angezogenen Stelle meiner Parteigeschichte Bakunin dagegen verwahre, aus rein persönlichen Gründen mit Marx angebunden zu haben, und dass ich Bakunins anarchistische Theorien aus seinem Bildungs- und Lebensgange erkläre, aber meine hinzugefügte Bemerkung, soviel sei freilich auch richtig, dass persönlicher Ehrgeiz und persönliche Eifersucht bei Bakunins Kampf gegen Marx „mitgespielt“ hätten, druckt Rjasanow mit gesperrter Schrift ab. Nun gebe ich diese Bemerkung gern preis, nach allem, was seitdem an neuem Quellenmaterial über Bakunin veröffentlicht worden ist, aber dass ich um ihretwillen zur Beschwichtigung meines Gewissens Bakunin zum ersten Geisteshelden des Sozialismus gemacht haben soll, ist eine gewiss geistreiche, jedoch entschieden unrichtige Annahme Rjasanows. Und wenn er gar meint, jene meine Bemerkung sei das Ärgste an Lästerung, was an Bakunin verübt worden sei, so muss Rjasanow entweder seine Lieblinge Borkheim und Utin nicht kennen – was von einem so „ernsten Forscher“ doch nicht anzunehmen ist – oder der Mann ist wirklich nicht mehr recht bei Troste.

Die kleine Blütenlese würde schon ausreichen als Beweis dafür, dass ich zum Biographen von Marx tauge wie der Esel zum Lautenschlagen, wenn es sonst mit ihr seine Richtigkeit hat. Ob es aber mit ihr seine Richtigkeit hat, kann der Leser dieses Buches sofort erkennen, wenn er einen Blick in das dreizehnte und vierzehnte Kapitel wirft. Denn diese beiden Kapitel sind die eingehende und gründliche Ausführung der flüchtigen Skizze, die ich in der Anzeige des Brupbacherschen Buches entworfen hatte. Mein in den Augen des Marxpfaffentums unsühnbares Verbrechen besteht erstens darin, dass ich, wie es die Pflicht jedes Historikers ist, bei der Darstellung des Streites zwischen Bakunin und Marx nicht nur die marxistischen, sondern auch die bakunistischen Zeugen abgehört habe, und zweitens darin, dass ich, wie es die Pflicht wenigstens jedes marxistischen Historikers ist, die Geschichte der Internationalen nicht als Tragikomödie aufgefasst habe, in der ein nichtswürdiger Intrigant einen makellosen Helden stürzt, sondern als eine große geschichtliche Erscheinung, deren Aufstieg wie deren Niedergang sich nur aus großen historischen Zusammenhängen erklären lässt.

Doch nunmehr genug von dem Marxpfaffentum, das Kautsky selbst inzwischen genügend gekennzeichnet hat durch seine Wetterfahnenpolitik vom 4. August 1914 und seine famose Entdeckung, dass die Internationale „im Wesentlichen ein Friedensinstrument“, aber „kein wirksames Werkzeug im Kriege“ sei.

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Anmerkung

1. N. Rjasanow, Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware, Nr. 5, 7, 8, 9, 10 und 13. 32. Jahrgang, 1. Band.


Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2025