Franz Mehring

 

Ein neuer Literatenkrakeel

(1914)


Franz Mehring, Ein neuer Literatenkrakeel, Die neue Zeit, 32 Jg., 1. Bd. (1914), H. 69, S. 393–396.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Nr. 67 des Feuilletons hatte ich eine etwa sechs Seiten lange Besprechung des Buches über Marx und Bakunin veröffentlicht, das Genosse Brupbacher im Münchener Parteiverlag herausgegeben hat. Ich tadelte an dem Buche manche Ausfälle und Ungerechtigkeiten gegen Marx, erklärte es aber insoweit für ein „nützliches und verdienstliches Werk“, als es eine Reihe von ungerechten Vorwürfen beseitige, die von Marx und den Marxisten, wobei ich mich selbst keineswegs ausnahm, gegen Bakunin gerichtet worden seien. Besonders erkannte ich die Widerlegung der durch und durch unmarxistischen Ansicht an, als sei die Internationale an den Intrigen Bakunins untergegangen. Ich meinte, sie sei vielmehr an der Erfüllung einer großen historischen Mission gestorben, was ich dann noch, ganz unabhängig von Brupbacher, an einem Beispiel aus der deutschen Parteigeschichte erläuterte.

Diese sechs Seiten haben nun den Zorn N. Rjasanoffs erregt, der in den Nummern 6 und 7 der Neuen Zeit in viermal sechs Seiten dagegen anrennt. Er kündigt sogar noch einen dritten Artikel, vermutlich von gleicher Länge, an, so dass er dann meine sechs Seiten-in sechsmal sechs Seiten totgeschlagen haben wird. [1] Ich brauche diesen dritten Artikel nicht erst abzuwarten, da es mir nicht im Traume einfällt, mich in eine Polemik dieses Schlages einzulassen. Das hieße sich der Teilnahme an einem geradezu klassischen Literatenkrakeel schuldig machen. Es kann sich hier nur um zwei Fälle handeln. Entweder sind die Leser – und das wird ihre weit überwiegende Mehrzahl sein – mit der Literatur über Marx-Bakunin nicht näher bekannt, dann wird die wüste Klopffechterei N. Rjasanoffs ihnen nur die Empfindung erregen, als ginge ihnen-ein Mühlrad im Kopfe herum; sie werden höchstens daraus entnehmen, dass N. Rjasanoffs mir grollt, und mir ihre Teilnahme wegen eines so beklagenswerten Geschickes nicht versagen. Oder die Leser wissen über Marx-Bakunin Bescheid, und dann bedürfen sie meiner Belehrung darüber nicht, dass N. Rjasanoff in den zwei oder drei nebensächlichen Punkten, in denen er mich zu widerlegen sucht, nur durch die verwegensten Entstellungen und Verdrehungen dies Ziel seines Ehrgeizes zu erreichen Weitz.

Bei all seiner Fähigkeit, Worte zu machen, reichen diese zwei oder drei Punkte allerdings nicht aus, vier- oder gar sechsmal sechs Seiten zu füllen. So bändelt N. Rjasanoff obendrein mit Bernstein, Eisner und Gott weiß wem sonst noch an, um ihnen wie mir vorzuwerfen, „die großen Toten mit moralisch verzierten und pharisäisch verbrämten Schmähungen zu überschütten“, gegen Marx und Engels, Bebel und Liebknecht „die Beschuldigungen der Verleumdungssucht, der unverschämten Lügenhaftigkeit, der Fälschungen, Unterschlagungen, unerhörten Verirrungen des Moralgefühls“ in die Parteiliteratur einzuschmuggeln. Ich weiß nicht, ob einer der so schmeichelhaft Angesprochenen sich auf die ungeheuerlichen Verdächtigungen N. Rjasanoffs, die auf sein Teil fallen, polemisch einlassen wird, und will keinen von ihnen, der sich darauf einlässt, mittelbar getadelt haben, wenn ich für mein Teil mich nicht, darauf einlasse. Mich interessiert der ganze Spektakel nur als ein Muster jenes Literatenkrakeels, den die Parteigenossen mit Recht verabscheuen.

N. Rjasanoff rechnet sich zu den „Marxpfaffen“, und es ziemt mir nicht, ben Spiegel zu trüben, worin er sein geistiges Angesicht erblickt. Man schweigt um des lieben Friedens willen, wenn man einen Artikel liest wie Marx’ Bekenntnisse in der Neuen Zeit vom 14. März dieses Jahres, einen Artikel, worin N. Rjasanoff aus einem harmlosen Gesellschaftsspiel, das Marx einmal mit seinen jungen Töchtern gespielt hat, die tiefsten Geheimnisse der Gottesseele herauslotst. Aber wenn er selbst die Rede darauf bringt, so bekenne ich gern, dass so inbrünstig noch kein Düntzer zu seinem Goethe und kein Harden zu seinem Bismarck gebetet hat. Dagegen aber muss ich mir einen schüchternen Protest gegen die Behauptung erlauben, dass ich nur „zurzeit“ nicht an „Marxpfafferei“ leide, nur erst „jüngst“ gegen diese „Pest“ immun geworden sei. Ich brauche nur die Namen Lassalle und Schweitzer zu nennen – anderer Namen ganz zu geschweigen –, um mich gegen den Verdacht zu schützen, als hätte ich je an jener intellektuellen und moralischen Krankheit gelitten, die N. Rjasanoff ganz zutreffend eine „Pest“ nennt.

Ungefähr in dieselbe Kerbe möchte N. Rjasanoff hauen, wenn er mich just mit Bernstein und Eisner zusammenspannt. Mit Parteigenossen, mit denen ich seit lange in manchen Parteifragen sehr verschiedener Meinung bin, ziehe ich mit einem Male an demselben Strange, also –. Nun ist die Frage Bakunin gar keine Parteifrage, sondern, eine Frage des Anstandes und der Ehrlichkeit, und da darf ich am Ende doch mit Bernstein und Eisner übereinstimmen, ohne schon des Verdachtes verdächtig zu werden. Freilich, wenn die Frage Bakunin nur eine Frage des Anstandes und der Ehrlichkeit ist, so könnte es umso bedenklicher für die Marxisten erscheinen, dass sie diese Frage nicht richtig zu beantworten wissen. Mein hier führen die Artikel N. Rjasanoffs eben völlig irre, und obgleich nur ein Marxist in partibus infidelum, so muss ich doch eine Lanze für die echten Marxisten brechen. Was ich in Nr. 67 des Feuilletons auf sechs Seiten mich auszuführen bemüht habe, war für Kautsky – also einen Marxisten, den N. Rjasanoff umso lieber anerkennen wird, als Kautsky ihm die Spalten zu seinen vier- oder sechsmal sechs Seiten geöffnet hat – schon vor elf Jahren so sehr erledigte Sache, dass er kurzweg schrieb – siehe Neue Zeit, 20. Jahrgang, 1. Band, Seite 672:

„Kein Zweifel, Marx und seine Freunde haben in der Hitze des Gefechtes gegen Bakunin und dessen Anhänger geradeso wie diese nicht selten übers Ziel geschossen und manche unbegründete Anklage erhoben. Dass wir Marxisten das heute ruhig eingestehen können, während Nettlau alle Fehler nur auf der einen, alle Tugenden nur auf der anderen Seite sieht, beruht darauf, dass der Marxismus historisch recht behalten hat. Und der Sieger darf immer großmütig sein. Wo eine Geschichte voll ohnmächtiger Wut geschrieben wird, da ist es die Geschichte einer verlorenen Sache, die von einem ihrer Verfechter geschrieben wird. Darum brauchen wir mit den Beschimpfungen Nettlaus nicht so streng ins Gericht zu gehen.“ [2]

Nein, gewiss nicht, und deshalb freut es mich, dass ich auch nach Kautskys Ansicht die Beschimpfungen nicht krummnehmen darf, die mir N. Rjasanoff zufügt aus „ohnmächtiger Wut“ darüber, dass die Sache der „Marxpfafferei“ eine „verlorene Sache“ ist.

Dafür zeugt auch Georg Steklow, ein ebenfalls unanfechtbarer Marxist, der kürzlich eine volkstümliche Biographie Michael Bakunins herausgegeben hat. [3] Hätte ich je die Absicht gehabt, mich auf eine ernsthafte Diskussion mit N. Rjasanoff einzulassen und seine Artikel nicht bloß als einer: neuen Literatenskandal niedriger zu hangen, so würde mich Genosse Steklow dieser Mühe überhoben haben. In den zwei oder drei Punkten, in denen mir N. Rjasanoff die Worte im Munde zu verdrehen sucht, in den verleumderischen Ohrenbläsereien des Subjekts Utin, denen Marx und Engels ein leider zu williges Ohr geliehen haben, in den Verdächtigungen der Integrität Bakunins, zu denen sich Liebknecht leider hat hinreißen lassen usw., stimmt die Darstellung des Genossen Steklow völlig mit meiner Auffassung überein. Den bakunistischen Theorien steht Steklow so fern und fremd oder vielmehr so schroff ablehnend gegenüber wie ich, aber ich stimme ihm vollkommen zu, wenn er von der deutschen Sozialdemokratie, die dem Andenken Bakunins die schwersten Wunden geschlagen habe und nun stark genug sei, historische Gerechtigkeit walten zu lassen, die Pflicht dieser Gerechtigkeit beansprucht.

Wenn ich somit ablehne, mich auf einen neuen Literatenskandal einzulassen, bei dem vielleicht sehr edle und erhabene, aber gewiss keine sachlichen Motive obgewaltet haben, so schulde ich einem dritten, von N. Rjasanoff auf meine Veranlassung gröblich Angetasteten ein Wort der Rechtfertigung. N. Rjasanoff behauptet, ich hätte den „Genossen“ Brupbacher entdeckt; er peitscht diesen sogenannten Witz unermüdlich durch seine viermal sechs Seiten und lässt, wenn ich richtig zähle, nicht weniger als 96 Gänsefüßchen auf dem ihm ärgerlichen „Genossen“ herumtrampeln. Leider ist das Wort damit nicht totgetreten, denn Genosse Brupbacher ist Mitglied unserer schweizerischen Schwesterpartei, ein überaus liebenswürdiger, um die schweizerische Arbeiterbewegung verdienter, von echt proletarischen Empfinden beseelter, aber theoretisch ein wenig verbiesterter Mann. Seine „anarchistische Ader“ war den schweizerischen Genossen seit lange oder von jeher bekannt, ohne dass sie daran irgendeinen Anstoß genommen hätten. Weshalb dieser Anstoß neuerdings genommen worden ist, habe ich hier nicht zu untersuchen; jedenfalls ist der Antrag, den Genossen Brupbacher aus der schweizerischen Partei auszuschließen, zwar gestellt, aber noch nicht angenommen worden, und so bleibt es einstweilen bei dem Genossen Brupbacher, trotz der 96 Gänsefüßchen, mit denen sich N. Rjasanoff dagegen stemmt. Die neueste Standrechtsjustiz, wonach schon der Angeklagte und nicht erst der Verurteilte seine Rechte verliert, muss ich für mein Teil ablehnen.

Sollte Genosse Brupbacher aber wegen seiner „anarchistischen Ader“ aus der schweizerischen Sozialdemokratie ausgeschlossen werden, so wäre der Sturmmarsch der 96 Gänsefüßchen freilich nicht aufzuhalten, und ich wäre in derselben Verdammnis wie jener protestantische Humanist Simon Lemnius, der im Jahre des Heils 1638 in der guten Stadt Wittenberg einen katholischen Humanisten als Geistesverwandten angesprochen hatte und deshalb vor dem tobenden Zorn Luthers flüchten musste. Darauf ließ Luther an die Kirchentüren anschlagen, der flüchtige Bube würde, wenn man ihn bekommen hätte, nach allen Rechten billig den Kopf verloren haben. So schlägt N. Rjasanoff meine Exkommunikation an die Kirchentür der Marxorthodoxie, obgleich der Genosse Brupbacher seinen Ehrentitel noch nicht einmal formell verloren hat. Flüchtig brauche ich deshalb freilich noch nicht zu werden, und so muss ich wohl auch auf die frischfröhlichen Komplimente verzichten, mit denen mein Märtyrer-Vorfahre Simon Lemnius, wie jeder Kenner der Kirchengeschichte weiß, seinem Pfaffen heimgeleuchtet hat.

In Nr. 6 der Neuen Zeit muss ich dann noch einmal vors Brett, weil ich angeblich aus einem Satze des Genossen Wendel „alles andere“ herausgelesen haben soll, als was darinstände. Ich hatte nämlich einen Satz Wendels dahin aufgefasst, dass ein Parteimitglied, das kein Muster katonischer Sittenstrenge sei, schon den Verdacht rechtfertige, ein Verräter zu sein. Ehe ich diesen ernsten Tadel las, hatte mir Genosse Wendel jedoch bereits aus freien Stücken geschrieben, er habe den Satz „nur aus der Seele Bebels und Liebknechts, aber beileibe nicht aus seiner eigenen“ gemeint. Von dieser Berichtigung nehme ich mit großem Vergnügen Notiz und bedaure nur, dass Genosse Wendel die erfreuliche Grenzscheide nicht schon in seiner Schrift über Bebel selbst gezogen hat. Aber gegen meine inhaltliche Wiedergabe seines Satzes erhebt Genosse Wendel, der es wohl am besten wissen muss, nicht den geringsten Einwand, und die Behauptung, dass ich „alles andere“ daraus gelesen haben soll, als was darinsteht, ist in der Tat nur ein hinfälliges Gerede.

* * *

Anmerkungen

1. Nachschrift bei der Korrektur. Inzwischen ist dieser dritte Artikel – in Nr. 8 der Neuen Zeit erschienen. Er ist zwar nicht ganz so lang wie seine beiden Vorläufer, verspricht dafür aber zu jungen, nicht einmal mit: Schluss folgt, sondern nur mit: Fortsetzung folgt.

2. Karl Kautsky, Dr. M. Nettlau, Michael Bakunin. Eine biographische Skizze. Berlin, Paul Pawlowitsch. 64 S. 30 Pf.: [Rezension], Die neue Zeit, 20. Jg, 1. Bd. (1902), H. 21, S. 672.

3. Georg Steklow, Michael Bakunin. Ein Lebensbild, Stuttgart 1913, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 128 Seiten. Preis geb. 1 Mark. Die Schrift ist Nr. 30 der Kleinen Bibliothek. Sie darf allen Lesern, die sich für die Parteigeschichte interessieren, dringend empfohlen werden. Ein kleiner Irrtum, an dem der Verfasser, freilich keine Schuld trägt, findet sich auf Seite 23. Die Schrift: Schelling und die Offenbarung ist nicht von Bakunin verfasst, wie Ruge behauptet hat, sondern von Friedrich Engels, wie G. Mayer neuerdings in: Grünbergschen Archiv nachgewiesen hat.


Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2025