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Die Neue Zeit, 33. Jahrgang (1914/1915), Bd. 1, S. 193–201.
F. Mehring, Krieg und Politik, Bd. I, Berlin 1959, S. 145–146.
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Der Krieg hat von jeher seine Ankläger wie seine Bewunderer gehabt, die sich gegenseitig bis zu den äußersten Gegensätzen gesteigert haben: von denen, die den Krieg, wie so viele bürgerliche Aufklärer, als wüste Menschenschlächterei verwünscht, bis zu denen, die, wie der Romantiker Friedrich Schlegel, sogar den Religionskrieg als die Blüte der Menschheit gefeiert haben.
Das ist insoweit nicht zu verwundern, als der Krieg, wie keine andere Erscheinung des Völkerlebens, die menschlichen Leidenschaften bis in ihre tiefsten Tiefen aufregt. Schwerer zu begreifen ist, daß sich trotz alledem eine wirkliche Erkenntnis vom Wesen des Krieges noch lange nicht durchgesetzt hat. Wohlgemerkt, vom Wesen nicht dieses oder jenes Krieges, sondern des Krieges überhaupt. Daß der Krieg die verschiedensten Formen annehmen kann und daß namentlich der gegenwärtige Weltkrieg bisher unerhörte Erscheinungen gezeitigt hat, die zunächst nicht verstanden oder mißverstanden werden und deshalb übereilte oder auch ganz hinfällige Urteile hervorrufen, liegt auf der Hand. Aber davon unabhängig ist das eigentliche Wesen, ist der „Begriff“ des Krieges, wie Clausewitz sich ausdrückt, der sein berühmtes Buch über den Krieg mit einer Erläuterung dieses „Begriffs“ beginnt.
Er nennt den Krieg eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, und zwar mit gewaltsamen Mitteln, um den Gegner in dem Grade wehrlos zu machen, daß er sich unserem Willen fügt. Der Krieg ist niemals ein isolierter Akt, der aus dem normalen Verlaufe der Dinge herausfällt; er ist die unzertrennliche Begleiterscheinung wenn auch nicht des Menschlichen, so doch – eine Einschränkung, die Clausewitz nicht gemacht hat und für seine Zeit auch noch nicht machen konnte – jeder auf Klassengegensätzen aufgebauten Gesellschaft. Der Krieg ist die Entladung historischer Gegensätze, die sich dermaßen zugespitzt haben, daß es kein anderes Mittel gibt, sie auszugleichen, da es der Klassengesellschaft an einem Richterstuhle fehlt, vor dem die Streitfragen, die im Kriege durch die Gewalt der Waffen entschieden werden, mit rechtlichen und sittlichen Gründen ausgefochten werden können.
So ist der Krieg eine Sache der Politik, nicht aber eine Sache des Rechts oder der Sittlichkeit oder gar der Strafjustiz. Krieg wird nicht geführt, um die Gegner für ihre angeblichen oder wirklichen Sünden zu strafen, sondern um den Widerstand zu brechen, der sich gegen die eigenen Interessen erhoben hat. Es ist auch keine Sache für sich, die ihren Zweck in sich selber trägt, sondern ein organischer Bestandteil einer Politik, an deren Voraussetzungen er gebunden ist und deren Bedürfnissen er seine Erfolge anzupassen hat. Als im Jahre 1866 nach der Schlacht von Königgrätz die preußischen Generale den triumphierenden Einzug in Wien verlangten und der König Wilhelm ihnen darin nicht nur beistimmte, sondern auch große Gebietsteile von Österreich und den süddeutschen Staaten annektieren wollte, widersprach Bismarck als verantwortlicher Leiter der preußischen Politik aufs schärfste. Er sagte, Krieg würde nur geführt, um die eigenen Interessen durchzusetzen, nicht aber um die Gegner für ihre Sünden zu züchtigen und zumal nur für ihre angeblichen Sünden. Denn von ihrem Standpunkt aus hätten Österreich und Süddeutschland ebensoviel Recht wie Preußen von seinem Standpunkt aus. Es ist bekannt, daß Bismarck damals seinen Willen durchsetzte, wenn auch nur so, daß ihm der König ins Album schrieb, er, der Ministerpräsident, habe ihn, den König, „vor dem Feinde im Stich gelassen“ und zu einem „schmachvollen Frieden“ gezwungen.
Ob die Ziele der Politik, die Bismarck damals verfolgte, richtig gesteckt waren oder nicht, das ist eine Frage, auf die es in diesem Zusammenhange nicht ankommt. Es handelt sich vielmehr nur darum, ob Bismarck das Wesen des Krieges als einer innerhalb der Klassengesellschaft unvermeidlichen Erscheinung richtig erkannt hat, und diese Frage muß entschieden bejaht werden. Der „schmachvolle Friede“, den ihm sein eigener König zum Vorwurfe machte, ist diejenige Handlung Bismarcks gewesen, die ihm am ehesten noch den Anspruch auf den Namen eines wirklichen Staatsmanns gewährleistet,. Schade nur, daß er selbst diesen Anspruch in den Jahren 1870/71 wieder vernichtet hat, indem er sich nicht damit begnügte, sein Ziel – die Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie – erreicht zu haben, sondern darüber hinaus dem besiegten Feinde eine Wunde schlug, von der vorauszusehen war und auch vorausgesagt worden ist, daß sie in Jahrzehnten nicht verharschen würde. [2] Bismarck vergaß in Versailles, was er in Nikolsburg geschrieben hatte: „Wenn wir nicht übertrieben in unseren Ansprüchen sind und nicht glauben, die Welt erobert zu haben, so wert den wir auch einen Frieden erlangen, der der Mühe wert ist. Aber wir sind ebenso schnell berauscht wie verzagt, und ich habe die undankbare Aufgabe, Wasser in den brausenden Wein zu gießen und geltend zu machen, daß wir nicht allein in Europa leben, sondern mit drei Nachbaren.“
Die richtige Erkenntnis, die Bismarck 1866 vom Wesen des Krieges bekundete, hat sich ihm denn auch in einer Weise gelohnt, die in der Tat der Mühe wert war. Hätte er damals einige böhmische Kreise annektiert oder ein Stück Bayern abgerissen – namentlich auf die ehemals hohenzollernschen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth hatte es der König abgesehen – so hätte er einem augenblicklichen Siegesrausche gefrönt und eine scheinbar beträchtliche Verstärkung der preußischen Macht erlangt. Aber es wäre ein vollkommen trügerischer Gewinn gewesen, und die eigentlichen Ziele seiner Politik hätte er sich dadurch verbaut. Mit der Todfeindschaft Österreichs und Süddeutschlands – und gewaltsame Annexionen hinterlassen bei der heutigen Verknüpfung der wirtschaftlichen Zusammenhänge innerhalb der einzelnen Staaten immer eine Todfeindschaft – wäre die Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie unmöglich gewesen, und wie der heutige Krieg die unweise Politik beleuchtet, die Bismarck im Frühjahr 1871 befolgt hat, so beleuchtet er auch dessen gescheite Politik im Sommer von 1866.
Aus dem Wesen des Krieges, wie es hier an einem allgemein bekannten und leicht kontrollierbaren historischen Beispiele zu erläutern versucht worden ist, ergeben sich nun mancherlei Schlußfolgerungen, die gerade auch von der Arbeiterklasse beachtet werden müssen. Wenn der Krieg niemals ein isolierter Akt, sondern immer nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, so ergibt sich daraus, daß die politische Entwicklung während eines Krieges nicht stillsteht. Deshalb beruht die bekannte Auffassung: Erst schlagen wir die auswärtigen Feinde nieder, und dann wird sich in der inneren Politik alles finden, auf einem Trugschluß. Man hat viel darüber gestritten, ob die auswärtige Politik die innere Politik beherrsche oder umgekehrt, aber wie dem immer sei, so stehen beide in einem untrennbaren Zusammenhange miteinander, und man kann in der einen nichts tun, ohne daß es auf die andere zurückwirkt.
Dieser Zusammenhang läßt sich verkennen, aber er wird dadurch nicht aufgehoben. Man mag auf den Klassen- und Parteienkampf während des Krieges gern oder ungern, freiwillig oder gezwungen verzichten, aber er dauert deshalb doch fort, wenn auch nur in der latenten Form, daß sich unter den Einwirkungen des Krieges die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Klassen und Parteien in der beträchtlichsten Weise verschieben. Die einen gewinnen, die anderen verlieren an äußerer und innerer Kraft, was sich natürlich sofort geltend macht, wenn nach dem Kriege der Klassen- und Parteienkampf von neuem beginnt. Denn nach gemütlichen Rücksichten wird er weder hüben noch drüben geführt, und diejenigen Parteien, die nach menschlicher Voraussicht unter den Schlägen des Krieges am meisten leiden müssen, haben allen Anlaß, diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu verlieren.
Welche Erfahrungen die bäuerliche und bürgerliche Klasse in den Jahren 1813 bis 1815 mit der Illusion gemacht hat, als wenn der Krieg alle Interessengegensätze der Klassen und Parteien wegschwemme, kann man selbst aus jedem bürgerlichen Geschichtswerke erfahren, das diese Zeit behandelt. Nur daß man nicht in die sentimentalen Klagen über den „Undank“ einzustimmen braucht, den die damaligen Bauern und Bürger für ihre Opfer an Gut und Blut erfahren haben sollen. „Undank“ hin und „Undank“ her – es ist nun einmal so in dieser unvollkommenen Welt eingerichtet, daß jede Klasse ihre Interessen vertritt nach Maßgabe der Kräfte, über die sie verfügt, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Besser bewahrt als beklagt! Mit dem wehleidigen Jammern über getäuschte Hoffnungen, das sich hinterher erhebt, ist nichts getan; es erinnert höchstens an das alte Wort: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Nun mag man einwenden, daß, wenn der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln ist, diese Gewalt sich, soweit es auf die Erreichung des Kriegszwecks ankommt, auch auf die inneren Zustände erstrecken könne und je nachdem erstrecken müsse. Innerhalb welcher Grenze und bis zu welchem Grade, das ist eine Frage, die nach den gerade vorliegenden Umständen beantwortet werden muß und in sehr verschiedenem Sinne beantwortet werden kann. Aber auch wenn man sie im weitesten Umfange bejahen will, so wird die äußerste Grenze, die hier gezogen werden muß, eben durch den Kriegszweck selbst bestimmt. Angenommen also, wenn auch keineswegs zugegeben, daß die militärische Zensur, wie sie gegenwärtig über die deutsche Presse und namentlich auch über die Arbeiterpresse verhängt worden ist, durch militärische Notwendigkeiten geboten sein mag, so folgt daraus keineswegs, daß die Presse innerhalb dieser Grenzen sich jeden selbständigen Urteils begibt und den Zwang, unter dem sie lebt, dadurch illusorisch zu machen sucht, daß sie freiwillig viel mehr tut, als dieser Zwang von ihr fordert.
Was in dieser Beziehung besonders unangenehm auffällt, und zwar von Tage zu Tage mehr, ist die Preßhetze gegen die Nationen, mit denen das Deutsche Reich gegenwärtig im Kriegszustande lebt. Man darf diese Dinge gewiß nicht vom zimperlichen Standpunkt aus betrachten. Da der Krieg die menschlichen Leidenschaften bis auf den Grund aufrührt, so kommt es auf eine Handvoll kräftiger Flüche oder eine Handvoll guter oder selbst schlechter Witze über die feindlichen Nationen nicht an. Aber ganz etwas anderes ist die systematische Hetze gegen diese Nationen, die ebenso systematische Verbreitung völlig unbeglaubtigter Gerüchte über die von ihnen verübten Kriegsgreuel, das Erwecken des, wie Lassalle sich einmal ausdrückte, „blutdürstigen Tigers“ des Nationalitätenhaders, wie es gegenwärtig von einem großen Teil der bürgerlichen Presse und einem leider nicht ganz geringen Teil der Arbeiterpresse betrieben wird.
Mit der Erreichung des Kriegszwecks hat dies Treiben nichts zu tun. Der nächstliegende und zugleich schlagendste Beweis dafür ist, daß die deutschen Soldaten, die dem Feinde ins Weiße des Auges geschaut und die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe erfahren haben, davon nichts wissen wollen. Es ist wiederholt in glaubwürdiger Weise berichtet worden, daß verwundete Soldaten, die vom Kriegsschauplatze heimgekehrt sind, sich mit Ekel und Widerwillen von dem afterpatriotischen Treiben abgewandt haben. Wie in den Jahren 1813 und 1870, so wird auch jetzt in manchem Feldpostbriefe berichtet, daß sich, soweit das im Kriegszustande überhaupt möglich ist, zwischen den feindlichen Vorposten weit eher ein kameradschaftliches als ein feindseliges Verhältnis herausgebildet hat.
Auf der anderen Seite ist nicht die geringste Bürgschaft dagegen gegeben, daß die Schreier, die sich hinter dem Ofen so trutziglich gebärden, am feigsten vor den Feinden kriechen, wenn das wetterwendische Kriegsglüdc diese wirklich ins Land führt. Das hat sich u. a. im Jahre 1806 gezeigt, und eine Ahnung davon hatte schon Lessing. Aus den „Kriegsliedern“ des Philisters Gleim, die er zum Druck befördern sollte, beseitigte er alle Schmähungen der Feinde, hielt es aber doch für notwendig, als die Franzosen bis Halberstadt, dem Wohnort Gleims, vordrangen, das Großmaul zu ermahnen: „Ich bitte Sie inständigst, zeigen Sie sich ja als einen wahren Deutschen! Verbergen Sie allen Witz, den Sie haben; lassen Sie nichts von sich hören als Verstand; wenden Sie diesen vornehmlich an, jenen verächtlich zu machen; das ist die einzige Rache, die Sie jetzt an den Feinden nehmen ... Von Fontenellen muß Ihnen weiter nichts bekannt zu sein scheinen, als daß er fast hundert Jahre alt geworden, und selbst von Voltaire müssen Sie tun, als ob Sie nichts als seine dummen Streiche und Betrügereien gehört hätten.“ Gewiß eine recht harmlose Rache, aber Lessing machte doch schon zur Zeit der Söldnerheere, in der die bürgerliche Bevölkerung mit dem Kriege eigentlich gar nichts zu tun hatte oder wenigstens nichts zu tun haben sollte, den Unterschied, den seine bürgerlichen Bewunderer nicht einmal in den Tagen der allgemeinen Wehrpflicht zu begreifen scheinen: den Unterschied zwischen dem nationalen Stolz, der sich gar nicht zu genieren braucht, dem Feinde einmal ein X für ein U zu machen, und der nationalen Überhebung, die sich selbst wie ein seidenes Tuch herausstreicht, um an den Feinden kein gutes Haar zu lassen.
Der nationalen öder vielmehr der antinationalen Überhebung, denn sie schädigt die nationalen Interessen aufs empfindlichste, wenn sie den eigenen Kriegern nur Abscheu einflößt, so werden ihre fanatischen Ausbrüche mit Jubel von den Feinden begrüßt, die sie als Zeugnisse benutzen, um der deutschen Politik die Sympathien des neutralen Auslandes zu entfremden. Am verhängnisvollsten aber macht sich der Rückschlag der angeblich „nationalen“ Hetze gegen feindliche Nationen auf die innere Politik geltend! Das Wort Hegels, daß die Geschichte nichts lehre, als daß die Menschen nichts aus ihr lernten, scheint i4 der Tat eine unerschütterliche Wahrheit zu sein. Gerade die Deutschen sollten sich doch noch erinnern, wie verhängnisvoll vor hundert Jahren der blinde Franzosenhaß auf die innere Entwicklung Deutschlands gewirkt hat. Und wieviel berechtigter oder doch erklärlicher war die damalige Franzosenhetze verglichen mit der heutigen Engländerhetze! Namentlich die preußischen Provinzen hatten sechs Jahre lang aufs schwerste unter der französischen Fremdherrschaft gelitten, und es war begreiflich, daß die ostelbischen Bauern, als es gegen die Franzosen ging, nicht nur mit dem Kolben dreinschlugen, um den Zweck 4ds Krieges zu erreichen, sondern auch in den Franzosen nichts als räuberisches Mörder- und Räuberpack erblickten.
Man konnte von ihnen nicht die Höhe der Kulturanschauung erwarten, die Goethe damals in die Worte kleidete: „Ich haßte die Franzosen nicht, obgleich ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, jene Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte.“ Goethe wurde dadurch der Forderung gerecht, die inmitten auch des heftigsten Krieges an die geistigen Führer der Nation gestellt werden muß: nämlich die Bande, die zivilisierte Nationen miteinander verknüpfen, nicht mehr lockern zu lassen, als der Kriegszweck erfordert.
Leider entsprechen heute dieser Forderung – mit einzelnen, ehrenwerten Ausnahmen – sehr wenig die „geistigen Führer“ der Nation, die sich wenigstens als solche aufspielen möchten, gleichviel ob sie es sind oder nicht. Es würde viel zu weit führen, alles aufzuzählen, was deutsche Professoren seit Beginn des Krieges an Sinn- und Zwecklosigkeiten geleistet haben. Aber ein Artikel, den der Professor Werner Sombart vor einigen Tagen im Berliner Tageblatt veröffentlicht hat, verdient doch, öffentlich angenagelt zu werden als das Musterbeispiel einer Gesinnung, die sogar das Berliner Tageblatt veranlaßt, seine Vorbehalte zu machen.
Herr Sombart will nichts von „irgendwelchen Vernunftgründen“ wissen, wenn es sich um Urteile über den Krieg handelt. Der „rationalen Betrachtungsweise“ zieht er die „irrationalen Leidenschaftsäußerungen“ vor und predigt die Engländerhetze sans phrase. „Wir empfinden England als den Feind. Wir führen den Krieg gegen England. Wir halten den Krieg nicht für beendet, ehe nicht England zerschmettert und vor allem in seinem innersten Bewußtsein gedemütigt uns zu Füßen liegt. Wollte man England einen ehrenvollen Frieden bewilligen, ich glaube fast, das könnte selbst das ruhige deutsche Volk zur Revolution treiben.“ Könnten Clausewitz und Bismarck diese Zeilen lesen, so würden sie ihren Verfasser als reif für das Tollhaus erklärt haben.
Es ist beschämend genug, daß die englische Professorenschaft sich ungleich würdiger zu verhalten weiß. Sechs Geschichtsprofessoren in Oxford haben eine Schrift über den Krieg veröffentlicht, worin sie die Beteiligung Englands daran zu rechtfertigen suchen. Ihre Darstellung ist natürlich einseitig und im einzelnen sehr anfechtbar, aber sie ist frei von widerlicher Hetze gegen das deutsche Volk; sie sucht die entscheidenden Interessengegensätze aufzudecken, die zwischen England und Deutschland bestehen, und fordert den englischen Sieg nicht, um Deutschland zu zerschmettern, sondern um durch den Zwang allgemeiner Abrüstung ein leidliches Verhältnis zwischen den europäischen Nationen herzustellen. Die Oxforder Professoren sind für ihr Land derselben Meinung, der Bismarck für sein Land war: daß es nicht allein in Europa lebt, sondern sich mit drei Nachbarn abfinden muß.
Nicht nur in vielen Einzelheiten, sondern in ihrer allgemeinen Auffassung der Dinge läßt sich gegen die Auffassung der Oxforder Flugschrift viel einwenden. Sie ist geschmackvoll genug, den Schimpfton zu vermeiden, der in der deutschen Literatur so vielfach gegen den König von England angeschlagen wird. Sie betont, daß der deutsche Kaiser noch in zwölfter Stunde versucht habe, den Krieg mit England zu vermeiden; sie sieht in ihm nicht den Urheber, sondern ein Opfer des Krieges. Sie behauptet nur, daß „auf den niederen Rangstufen der deutschen Hierarchie der Krieg gegen England beschlossen worden“ sei. Für die Zerstörung des „militärischen Anarchismus“ würden England und Frankreich ihr letztes Schiff und ihren letzten Soldaten einsetzen. Dieser Anarchismus richte sich gegen die Absichten des Kaisers, finde aber einen starken Widerhall, wenn nicht im ganzen deutschen Volke, so doch im gesamten preußischen Staat, dem – Treitschkes Vorlesungen über „Politik“ alle moralischen Begriffe verdreht und die ruchlose Lehre eingepaukt hätten, daß Gewalt vor Recht gehe. Der Bruch der belgischen Neutralität und die rauchenden Trümmer Löwens seien die Früchte von Treitschkes Saat. England sei in den Krieg eingetreten, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß der deutsche Kaiser nach Besiegung Frankreichs und Rußlands, mit Treitschkes „Politik“ in der gepanzerten Faust, über die englischen Kolonien herf alle.
Es ist eine echte Professorenschrulle, sich einzubilden, daß die Schrift eines Professors die moralischen Begriffe einer großen Nation einfach auf den Kopf stellen könne. Aber selbst wenn man darauf sich einen Augenblick einlassen wollte, so sind die Vorlesungen Treitschkes über „Politik“ erst nach seinem Tode herausgegeben worden und haben keinen irgend nachweisbaren Einfluß auch nur auf die bürgerliche Klasse Deutschlands gehabt. Zudem gehören ihre Kapitel über Heeresverfassung und Kriegswesen zu ihren leidlicheren Abschnitten, wie es denn überhaupt ungerecht ist, Treitschke zu einem Vorkämpfer der imperialistischen Politik zumachen. Er hat sie noch erlebt, aber ihr durchaus kühl gegenübergestanden, nicht gerade mit offenem Protest, aber doch mit abwehrendem Schweigen, das um so weniger mißverständlich war, als er darin nur den Spuren seines staatsmännischen Ideals Bismarck folgte. Bismarck hat im Jahre 1871 ausdrücklich abgelehnt, französische Kolonien zu erobern, und bis ans Ende seiner ministeriellen Tätigkeit betont, daß er kein „Kolonialmensch“ sei. Er hielt Deutschland, wie er sich bei seiner Vorliebe für Fremdwörter auszudrücken pflegte, für „saturiert“, und begeisterte Verehrer von ihm haben die Notwendigkeit seines von ihnen beklagten Sturzes dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß er unter keinen Umständen für eine imperialistische Politik zu haben gewesen sei. [1]
Doch dies nebenbei, um einen historischen Zusammenhang klarzustellen, der gegenwärtig nicht ohne eigenes Interesse ist. Verirrt sich also die Erklärung der Oxforder Professoren auf phantastische Seitenwege, so hält sie doch in der Form das Maß inne, das sich für Männer der Wissenschaft schickt, auch im Kriege und gerade im Kriege, der die heftigsten Leidenschaften entzündet. In noch höherem Grade wird dieser Forderung ein Aufsatz des russischen Professors Paul v. Mitrosanoff gerecht, der Ende Mai dieses Jahres in den Preußischen Jahrbüchern erschienen ist, also zwei Monate vor Ausbruch des Krieges. Insofern mag es dem Verfasser leichter geworden sein, sich nicht zu heftigen Äußerungen gegen die Deutschen hinreißen zu lassen, sondern mit aller Bewunderung eines Mannes, der selbst auf deutschen Universitäten seine historische Bildung erworben hat, von ihnen zu sprechen. Aber bei alledem bekennt er sich als Kernrussen, als russischen Patrioten, der auf seinem Gute Saratow ein Haus, das seine Vorfahren seit Hunderten von Jahren bewohnt hätten, lieber mit eigenen Händen anzünden als zulassen würde, daß deutsche Soldaten sich darin einquartierten. Gerade dadurch gewinnt der Aufsatz Mitrosanoffs an Interesse, daß er verfaßt worden ist, ehe der Krieg zwischen Deutschland und Rußland entbrannt war, diesen Krieg aber als unabwendbar vorhersagte.
Selbstverständlich ist der Aufsatz vom russischen Standpunkt aus geschrieben, was der Verfasser am wenigsten leugnet. Es finden sich deshalb auch sehr einseitige Behauptungen darin. Wenn Mitrosanoff den Deutschenhaß in Rußland u. a. erklärt durch die „demonstrative Arretierung des Hauptmanns Kostiewitsch, dem keine Erniedrigung erspart geblieben sei, die Verhaftung des Marinekapitäns Potiakoff, den man eines gemeinen Diebstahls beschuldigt habe, den herausfordernden Ton, den manche deutschen Zeitungen gegen Rußland anschlügen, das siegesbewußte Auftreten der meisten deutschen Reisenden und Reichsangehörigen in Rußland, die weder auf Sitten noch auf das Gesetz des gastfreundlichen Landes achtgäben und sich Sachen erlauben, die in Deutschland undenkbar wären“ – so liegt auf der Hand, daß in Sachen solcher „kleinen Nadelstiche“ das russische Konto ungleich schwerer belastet ist, als das deutsche Konto selbst im schlimmsten Falle belastet sein mag. Ungleich feiner und treffender ist eine andere Beobachtung Mitrosanoffs über die Ursachen des Deutschenhasses in den Massen der russischen Nation: die grausame und verächtliche Behandlung der russischen Soldaten durch die zahlreichen Junkeroffiziere aus den Ostseeprovinzen und das harte, pedantische und grobe Benehmen der deutschen Verwalter und sonstigen Angestellten auf den herrschaftlichen Gütern und in den kapitalistischen Betrieben.
Indessen nicht auf diese antideutschen Stimmungen und Strömungen legt Mitrosanoff das Hauptgewicht seiner Ausführungen. Er sieht in dem drohenden und nunmehr ausgebrochenen Krieg die Wirkung ökonomischer Gegensätze, die sich anders als durch die Schärfe des Schwertes nicht entscheiden ließen. Im wesentlichen führt er darüber aus: „Für Rußland ist die Balkanfrage kein abenteuerlicher Traum der Slawophilen, ihre Lösung ist eine unzweifelhaft ökonomische Notwendigkeit. Das ganze russische Budget ist auf der Ausfuhr nach dem Auslande basiert; wird die Kommerzbilanz passiv, so ist der russische Schatz bankerott, indem er nicht imstande sein wird, die Zinsen seiner enormen auswärtigen Schulden zu bezahlen. Und zwei Drittel dieser Ausfuhr gehen durch die südlichen Häfen und weiter durch die beiden türkischen Meerengen. Ist dieser Ausgang einmal geschlossen, so stockt der russische Handel, und die ökonomischen Folgen dieser Sperre wären unabsehbar: Der letzte türkisch-italienische Krieg hat es hinreichend gezeigt. Nur der Besitz des Bosporus und der Dardanellen kann diesem unerträglichen Zustande ein Ende bereiten, weil die Existenz einer Weltmacht wie Rußland von Zufällen und fremder Willkür nicht abhängig sein darf.“ Mitrosanoff hebt dann noch hervor, daß Rußland sich gegenüber dem Schicksal der Südslawen auf der Balkanhalbinsel nicht gleichgültig verhalten dürfe, teils aus Rücksichten, die ihm die Überlieferungen einer jahrhundertelangen Politik auferlegten, teils aber auch, weil es die Meinen Balkanstaaten als Rückendeckung für die Meerengen brauche, und fährt darauf fort: „Noch einmal: der Drang nach Süden ist für Rußland eine historische, politische und ökonomische Notwendigkeit, und der fremde Staat, der sich diesem Drange widersetzt, ist eo ipso ein feindlicher Staat ... In Österreich hält man auch den Drang nach Süden für eine historische Notwendigkeit, und die Österreicher haben von ihrem Standpunkt aus ebenso recht, wie von dem ihrigen die Russen.“ Überall und bei jeder Gelegenheit fänden die Russen Österreich auf ihrem Wege und als treuen Verbündeten Österreichs das Deutsche Reich. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina habe in Rußland eine so tiefe Empörung hervorgerufen, daß die russische Regierung trotz der zur Zeit noch zerrütteten Finanzen zum Kriege bereit gewesen sei. Aber der „Nibelunge“ an der Spree habe drohend die gepanzerte Faust gehoben, und Rußland, seiner Bundesgenossen nicht sicher, habe nachgeben müssen. Nicht genug aber, daß Deutschland sich immer als treuer Bundesgenosse Österreichs erwiesen habe, so habe es auch in der orientalischen Frage auf eigene Faust gegen die russischen Interessen gehandelt. Mitrosanoff erinnert an die Beteiligung deutscher Kapitalisten am Bau der Bagdadbahn, an die Überlassung zweier deutscher, zwar abgebrauchter und veralteter, aber immerhin noch tauglicher Panzerschiffe an die türkische Admiralität, an die Kanonen, die die Essener Werkstätten der türkischen Artillerie geliefert hätten, an die Reorganisation des türkischen Heeres durch deutsche Generale. „Kurz und bündig: selbständig und als Bundesgenosse Österreichs, überall, auf jedem Schritt und Tritt in der ganzen Levante stößt und stieß Rußland bei der Lösung seiner vitalsten Aufgabe, der Orientfrage, auf den Widerstand der Deutschen. Es ist den Russen jetzt klargeworden: Wenn alles so verbleibt, wie es jetzt ist, geht der Weg nach Konstantinopel über Berlin. Wien ist eigentlich eine sekundäre Frage.“
Schließlich weist Mitrosanoff ganz offen auf die drohende Kriegsgefahr hin, auf den Krieg gegen Deutschland, der in Rußland „von allen Seiten“ gefordert werde. „Es ist kein taktisches Manöver, um die Deutschen einzuschüchtern – wir haben eine zu gute Meinung von der deutschen Tapferkeit – sondern um offen und ehrlich dem Nachbar zu sagen: do ut des. Stoßen wir auf kein verständiges Entgegenkommen und Kompensationen, so ist die Sache schlimm. Wir wünschen in keiner Weise Deutschland anzugreifen; wir hegen eine zu große Bewunderung für die deutsche Zivilisation und für die Verdienste des deutschen Volkes in der Weltgeschichte, um uns einen Attilasieg zu wünschen. Wir sind auch vollkommen überzeugt, daß Deutschland fern davon ist, direkt aggressive Tendenzen zu haben, aber wir fühlen uns von allen Seiten, von den Flanken in der Türkei, in Schweden, in Österreich durch den deutschen Drang eingeengt und gesperrt, wir finden keine Anerkennung unserer jetzigen Lage, kein Rechnen mit unserer jetzigen Stärke, und wir sind entschlossen, die uns gebührende Stelle uns zu verschaffen.“ Jeder ehrliche russische Patriot wünsche den Frieden mit Deutschland, aber dem ehernen Muß der Geschichte müsse und werde er sich fügen.
Es erübrigt, diese Ausführungen im einzelnen zu kritisieren, und zwar um so mehr, als sie in ihren unabweislichen Schlußfolgerungen der deutschen Sache zugute kommen. Will Rußland in den Besitz Konstantinopels gelangen, so ist nichts begreiflicher und natürlicher, als daß es bei Deutschland kein „verständiges Entgegenkommen“, sondern den schärfsten Widerstand findet. Was uns veranlaßt, etwas ausführlicher bei diesem Aufsatz eines russischen Professors zu verweilen, ist nur der durch ihn gelieferte Beweis, daß auch ein staatlich angestellter Professor die Interessen seines Landes vom einseitig-patriotischen Standpunkt vertreten kann, ohne der Würde der Wissenschaft etwas zu vergeben und die feindlichen Nationen mit Schmähworten zu überhäufen. Mitrosanoff faßt, wie immer es um seine konkrete Beweisführung stehen mag, das Wesen des Krieges richtig auf als das Zusammenprallen ökonomischer Gegensätze, das man als ein leidiges Auskunftsmittel der bürgerlichen Zivilisation anerkennen kann, ohne daß man deshalb die wirklichen Errungenschaften dieser Zivilisation preiszugeben braucht. Hält man seinen Aufsatz neben das blöde Wutgeheul Sombarts oder auch nur die Schrift der Oxforder Professoren neben das professorale Kriegsgeschrei in Deutschland, so begreift man leicht, weshalb in den zivilisierten Nationen, die nicht an dem Weltkrieg beteiligt sind, die deutsche Sache so geringe Sympathien findet.
Wie dem aber immer sei, so hat jedenfalls die deutsche Arbeiterklasse den dringendsten Anlaß, von den Leistungen der Sombart und Genossen weit abzurücken. Dank der historischen Schulung, die sie durch ihre großen Vorkämpfer erhalten hat, ist sie in erster Reihe verpflichtet, das Wesen des Krieges richtig zu erkennen und alles zu vermeiden, was über ihn als eine unvermeidliche Erscheinung der heutigen Gesellschaffs- und Staatsordnung hinausreicht. Es ist übrigens nicht allein die sinnlose Völkerhetze, vor der sie sich zu hüten hat, sondern auch vor anderen Irrtümern über das Wesen des Krieges, die näher zu beleuchten wir uns vorbehalten.
1. In den ersten Monaten des Kriegs hatten die keine eigenen Organe und Mehring mußte alle Möglichkeiten benutzen, um die Kritik am Krieg an die Öffentlichkeit zu bringen. Eine dieser Möglichkeiten war Die Neue Zeit, das theoretische Organ der SPD, das zu jenem Zeitpunkt noch unter der Kontrolle der Zentristen um Kautsky war.
2. Annexion Elsaß-Lothringens durch das neue deutsche Kaiserreich verschärfte die Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten, besonders aber die deutsch-französischen Beziehungen. Bereits Anfang September 1870 schrieb Marx an den Braunschweiger Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei: „Nehmen sie (die Deutschen – d. Hrsg.) Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen.“ (Marx/Engels/Lenin/Stalin, Zur deutschen Geschichte, Bd. II, 2. Halbband, S. 887).
3. In der bürgerlichen Literatur wird die Haltung Bismarcks zur Kolonialpolitik des Deutschen Reiches vielfach so dargestellt, als sei Bismarck ein Gegner von Kolonien gewesen. Das ist eine Fälschung. Von Anfang an unterstützte Bismarck die koloniale Expansion; in seiner Kanzlerzeit wurde der überwiegende Teil der deutschen Kolonien zusammengerafft. Dabei bemühte sich Bismarck, einen Konflikt mit England möglichst zu vermeiden.
Ähnlich verlogen ist die Darstellung Bismarcks als eines Gegners von Annexionen. Bismarcks Ausspruch von der „Saturiertheit“ des Deutschen Reiches, der zum politischen Schlagwort der deutschen Bourgeoisie und ihrer Ideologen wurde, verschleiert bewußt die wahre Politik des militaristischen Kaiserreiches. Schon 1866 wurden Bismarck und die annexionslüsterne preußische Militärpartei unter anderem durch die Intervention Rußlands und Frankreichs zum Verzicht auf Eroberungen gezwungen. Im Deutsch-Französischen Krieg trat er für die Einverleibung Elsaß-Lothringens ein, wobei er besonders die ökonomischen Vorteile berücksichtigte. Daß es nach 1871 nicht mehr möglich war, territoriale Eroberungen in Europa zu machen, beweist nicht die „Friedfertigkeit“ Bismarcks und die „Saturiertheit“ des Reiches, sondern lag in der internationalen Lage begründet.
Zuletzt aktualisiert am 29. Juli 2024