Franz Mehring

 

Die Aufgabe der Arbeiterpresse

(2. November 1914)


Ungezeichnet, Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 113, 2. November 1914.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 644 f.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Es heißt gewissermaßen von einer Utopie sprechen, wenn man sich heute über die Aufgabe der Arbeiterpresse auslassen will. Wie die Presse überhaupt, so steht besonders die Arbeiterpresse unter einer Zensur, wie sie selbst in vormärzlicher Zeit nicht bestanden hat; damit ist sie aber in die Unmöglichkeit versetzt, die Aufgaben zu erfüllen, die ihr unter normalen Zuständen gestellt sind.

Ob diese Zensur notwendig ist oder nicht, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Indessen wenn wir einmal voraussetzen, dass sie notwendig sein sollte, so bleibt immerhin noch ein gewisser Spielraum übrig, innerhalb dessen sich die Arbeiterpresse bewegen kann. Sie kann gezwungen werden zu schweigen, aber sie kann nicht gezwungen werden zu reden. Sie mag sich einem Gebote fügen, das sie nicht zerbrechen kann, aber sie braucht den Tyrannen nicht zu Übertyrannen. Mit andern Worten: Wenn sie den Sieg der deutschen Waffen nur in den ihr gezogenen Grenzen fördern kann, so soll sie auch innerhalb dieser Grenzen ihre Würde zu wahren verstehen und sich nicht zu Ausschreitungen hinreißen lassen, die, von allem andern abgesehen, den Sieg der deutschen Waffen eher gefährden als fördern.

Leider wird ein Teil der Arbeiterpresse dieser vom proletarischen Standpunkt aus ganz selbstverständlichen Forderung nicht gerecht. So liegt uns ein Arbeiterblatt vor, das nicht nur gegen die „verruchten Pläne des wort- und treubrüchigen Blutzaren“ – eine Sprache, die dem Genossen Liebknecht übel bekommen ist, als noch Mut dazu gehörte, sie zu führen – vom Leder zieht, sondern auch gegen „die verschlagenen Japs, die hinterlistigen Briten, die ruhmredigen Franzosen, die verlogenen Belgier, die undankbaren Buren, die Renommierer Kanadier oder auch die halbwilden verschleppten Inder, Turkos, Zuaven, Neger und anderes Geschmeiß“. Es heißt dann noch: „Unauslöschlich wird in der Geschichte nur fortbestehen die Schmach des perfiden Albions“, und über „die demokratischen, sozialdemokratischen, syndikalistischen und sozialrevolutionären Wortritter“, die auf die Fähigkeit, die Dinge mit nüchternen Augen zu betrachten, nicht verzichten wollen, wird mit einem „ebenso bedauerlichen wie verächtlichen Lächeln quittiert“.

Will man dies Getobe wider sein Verdienst und Würdigkeit einmal unter die historische Lupe nehmen, so führt das „perfide Albion“, die „jämmerliche Krämerseele“, den Krieg gegen Deutschland nicht anders, als es ihn vor hundert Jahren gegen Frankreich geführt hat, unter lebhaftester Bewunderung und Billigung aller deutschen Patrioten. Und dieselben Kosaken, deren grausame Kriegführung um so weniger bestritten werden soll, als sie sich aus der niedrigen Kulturstufe ergibt, auf der sie stehen, wurden vor hundert Jahren von der deutschen Bevölkerung auf Händen getragen, als die Befreier Germaniens; das liebliche Lied: Schöne Minka, ich muss scheiden, das ein gefühlvoller Kosak an eine geliebte Kosakin gedichtet haben sollte, war damals eine Art deutscher Nationalhymne.

Nun mag man sagen: Historische Gerechtigkeit hat im Kriege nichts zu tun; da gilt nur das Dichterwort: Zu den Waffen! Zu den Waffen! Was die Hände blindlings raffen. Wohl, aber wem nützen solche Wutausbrüche, wie wir eben aus einem Arbeiterblatt angeführt haben? Dem „Geschmeiß“ krümmen sie kein Haar; wenn sie im Ausland überhaupt beachtet werden, so haben sie nur die eine Wirkung, die abgeneigte Stimmung zu nähren, die namentlich in den neutralen Staaten gegen die Deutschen besteht. Oder bedürfen die deutschen Soldaten im Felde solcher Aufmunterungen? Die werden vielmehr nur „mit einem ebenso bedauerlichen wie verächtlichen Lächeln darüber quittieren“. Denn sie sehen dem furchtbaren Ernst des Krieges unmittelbar ins Auge, und die Art tapferer Männer ist es nicht, die Feinde zu beschimpfen, mit denen sie Brust an Brust auf Tod und Leben ringen.

Eine Wirkung haben solche Salbadereien, wie sie heute jeder Philisterstammtisch massenweise produziert, aber doch: Sie nähren und schüren jene afterpatriotische Gesinnung, die seit fünfzig Jahren so oft die Wege der deutschen Arbeiterklasse gekreuzt hat. Deshalb ist es die Aufgabe der Arbeiterpresse – eine Aufgabe, die auch unter den heutigen Zuständen erfüllt werden kann –, einem derartigen Treiben auch nicht das leiseste Zugeständnis zu machen, sondern ihm entgegenzutreten, wo sie kann.

Wer anders handelt, schädigt nicht im Geringsten die „Japs, Zuaven, Turkos, Neger und anderes Geschmeiß“; er hilft nur neue Geißeln flechten für die Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung.


Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2024