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Franz Mehring, Neue Schriften über Marx, Die neue Zeit / Feuilleton, 31. Jg., 2. Bd. (1913), H. 67, S. 985–991.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Klara Zetkin
Karl Marx und sein Lebenswerk. Vortrag, gehalten anlässlich seines dreißigsten Todestags in fünf Orten des Niederrheins.
Mit einem Anhang: Literatur über Marx und von Marx.
Druck und Verlag: Molkenbuhr & Co., Elberfeld. 47 Seiten. Preis 26 Pfennig.
Fritz Brupbacher
Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation.
Mit fünf Bildern.
München bei G. Birk & Co. m. b. H. 202 Seiten. 2 Mark.
Im Augenblick, wo der Briefwechsel zwischen Marx und Engels erscheint und der Forschung über die beiden großen Denker neue Bahnen eröffnet, erscheinen in Parteiverlagen zwei Schriften, die sich ausschließlich oder überwiegend mit Marx beschäftigen, die eine anerkennend und bewundernd, aber nicht unkritisch, die andere kritisch, aber nicht feindselig oder gehässig.
Die Schrift der Genossin Zetkin ist, wie schon ihr Titel angibt, ein erweiterter Vortrag und verrät seinen Ursprung auch in dem leidenschaftlichen Feuer, das, wir möchten sagen aus jeder Zeile emporlodert. Nicht als ob er dadurch im schlechten Sinne des Wortes „rhetorisch“ würde; er ist ganz frei von allen angeblich schmückenden und tatsächlich entstellenden Floskeln, die man abbrechen oder ansetzen kann, ohne den Gedankeninhalt zu berühren. Temperament aber soll auch der Historiker haben, sobald er seine kritische Vorarbeit gründlich getan und seinen Gegenstand in sicherer Hand hat.
Dies Lob gebührt der Genossin Zetkin in erster Reihe; sie hat ihren Marx gründlich studiert, sein Leben wie sein Werk, und wer selbst auf diesem Gebiet einigermaßen bewandert ist, wird noch seinen besonderen Genuss daran haben, zu sehen, wie sie den massenhaften Stoff zu gliedern und bis auf die leisen Abtönungen der Worte ins richtige Licht zu setzen weiß. Es steckt in jedem Satze redliche Arbeit. Der Leser, der sich in erster Reihe zu unterrichten wünscht, muss freilich auf diesen Genuss verzichten, und er kann es auch, da das Bild unseres großen Vorkämpfers umso frischer und unmittelbarer auf ihn wirken wird.
Ungemein wertvoll ist auch der Anhang, worin die Genossin Zetkin die Literatur über Marx und von Marx behandelt. Sie gibt hier dem klassenbewussten Arbeiter einen Leitfaden, sich Schritt für Schritt in die Gedankenwelt hineinzuarbeiten, die Marx in seinen Werken erschlossen hat. Sie sagt mit Recht, ein solches Studium sei kein bequemer Ausflug in ebene Gefilde, sondern ein mühsames Emporklimmen zu schroffen, starrenden Gipfeln, aber wann hätten sich bildungseifrige Proletarier durch Schwierigkeiten ab-schrecken lassen? Mit Recht haben bereits viele Parteizeitungen diesen Anhang abgedruckt und ihm dadurch die weiteste Verbreitung gegeben.
Als ein besonderer Vorzug der Schrift ist dann noch der kritische Blick zu rühmen, den die Genossin Zetkin bei aller Verehrung für Marx auch gegenüber Marx nicht vermissen lässt. Sie macht kein Federlesens mit jener „Marxpfafferei“, die von Marxens Geist keinen Hauch gespürt hat, und mit ihrem Aufspüren von Ketzereien, die angeblich an, Marx begangen sein sollen, noch unter die Praxis bürgerlicher Gerichte bei Auslegung des Majestätsparagraphen sinkt.
Die Genossin Zetkin erinnert daran, dass Marx die historische Tat Lassalles nicht richtig eingeschätzt habe, und so sehr sie mit Recht das blöde Geschwätz zurückweist, dass Marxens „Diktatur“ die Internationale Arbeiterassoziation zugrunde gerichtet haben soll, so wenig macht sie die angeblichen Umtriebe Bakunins dafür verantwortlich.
Mit der Bakunin-Frage, das heißt mit dem Verhältnis zwischen Marx und Bakunin befasst sich dann eingehend die Schrift des Genossen Brupbacher in Zürich, die der Münchener Parteiverlag herausgegeben hat: dankenswerterweise, wie gleich hinzugefügt werden mag, obgleich die Schrift eine Verteidigung Bakunins gegen Marx ist und der Verfasser mitunter die Grenzen einer rein sachlichen Verteidigung überschreitet. Diesen oder jenen persönlichen Ausfall gegen Marx hätte er sich sparen können, nicht sowohl um Marxens als um seiner selbst willen; seine Arbeit würde dadurch nur gewonnen haben.
Denn im Allgemeinen ist sie eine fleißige und sorgfältige Studie, und es kann auch gar nicht daran gezweifelt werden, dass Genosse Brupbacher ehrlich bemüht gewesen ist, beide, sowohl Marx wie Bakunin, gleich unbefangen zu beurteilen. Er weiß seine psychologische Sonde geschickt zu handhaben, und wenn seine Beobachtungen keineswegs immer überzeugen, so regen sie doch immer an. Im Wesentlichen unterscheidet er zwischen Bakunin und Marx als dem naiven und dem bewussten Revolutionär. „Marx hatte seine Theorie als den Leitfaden, seines Handelns. Bakunins Leitfaden war der Wille zur Freiheit, den er in sich und in aller lebendigen Substanz sah. Wer seinem Drange zur Freiheit entgegenstand, der war sein Feind und der Feind der Menschheit.“ Sobald die beiden Männer auf demselben Gebiet zusammenarbeiteten, mussten sie feindselig zusammenstoßen und musste Marx der Sieger bleiben. Brupbachers Darstellung ist objektiv genug, diesen Sachverhalt für jeden Leser klarzulegen, und wir halten es für ausgeschlossen, dass sie auch nur einen Leser als Proselyten für bakunistische Tendenzen gewinnen wird.
Aber es ist immer eine üble Sache, wenn die Sieger die Geschichte des Besiegten schreiben, und soweit Brupbachers Schrift unter dem Schutze des Dichterwortes steht: „Wenn des Liedes Stimmen schweigen Von dem überwundenen Mann, So will ich für Hektor zeugen“ [1], ist sie ein nützliches und verdienstliches Werk. Sie löst eine Schuld ein oder hilft eine Schuld einlösen, an deren Einlösung namentlich auch der marxistischen Literatur im engeren Sinne des Wortes gelegen sein muss. Diese hat an Bakunin vieles gutzumachen, wobei ich mich selbst keineswegs ausnehmen will, obgleich ich in meiner Parteigeschichte, wo ich die Frage nur beiläufig streifen konnte, gegen Marx, Engels, Lafargue, Karl Hirsch usw. schon wesentlich eingelenkt habe. Freilich ist Brupbacher auch erst Partei, und seine Schrift spricht keineswegs das letzte Wort in der Sache, aber indem sie die Wage allzu sehr nach der anderen Seite neigt, hilft sie doch dazu, sie nach und nach ins Gleiche zu bringen.
Werfen wir nun einige Blicke auf das Verhältnis der beiden Männer, so ist von bakunistischer Seite viel zu sehr aufgebauscht worden, dass die Neue Rheinische Zeitung einmal eine Notiz über Bakunins angebliche Beziehungen zur russischen Regierung gebracht hat, die ihr von zwei verschiedenen Seiten zugegangen war. Damals. hatte Bakunin schon, wie die Briefe bezeugen, die er 1847 aus Brüssel an Herwegh richtete, eine recht gehässige Stellung zu Marx eingenommen, auch im Frühjahr 1848 den unsinnigen Freischarenzug Herweghs gegen Marx verteidigt. Gleichwohl war jene Notiz keineswegs etwa eine Revanche, die Marx an Bakunin nahm, sondern ein Versehen, wie es namentlich in aufgeregten Zeiten einer Tageszeitung mit unterlaufen kann. Marx hat sich beeilt, den Fehlgriff auszugleichen, sich auch mit Bakunin persönlich auseinandergesetzt im Sinne der „intimen Freundschaft“, die sonst zwischen ihnen bestanden hatte, ihn dann später (1863), als Bakunin in russischen Kerkern schmachtete, in der englischen Presse ritterlich gegen den Verdacht verteidigt, ein Werkzeug des Zaren zu sein. Als Bakunin 1861 aus Sibirien geflohen und nach London gekommen war, ließ er sich durch die Klatschereien der Herzen und Konsorten davon abhalten, Marx zu besuchen. Dagegen suchte Marx im Jahre 1864, bei einem späteren Aufenthalt Bakunins in London, den alten Genossen auf, um ihn seiner fortdauernden Freundschaft zu versichern. Bakunin aber erwiderte, wie er selbst angibt, den Besuch nicht und ließ auch nichts von sich hören, als ihm Marx 1867 ein Dedikationsexemplar des Kapitals nach der Schweiz sandte.
Auf der anderen Seite jedoch ist anzuerkennen, dass Bakunin sich durch feine persönliche Voreingenommenheit gegen Marx nicht abhalten ließ, dessen wissenschaftliche Bedeutung anzuerkennen. Er hat das Kommunistische Manifest für Herzens Kolokol übersetzt und sich auch an eine Übersetzung des Kapitals gemacht, ein Versuch freilich, der ihn durch eine seltsame Verkettung der Umstände um seinen ehrlichen Namen bringen sollte. Jedenfalls hat Bakunin das Kapital als „ein im höchsten Maße positives und realistisches Werk in dem Sinne“ anerkannt, „dass es keine andere Logik als die Logik der Tatsachen zulasse“; er fügte nur hinzu: „Unglücklicherweise ist es mit Formeln und metaphysischen Feinheiten gespickt, die es unzugänglich machen für das große Publikum.“ Und wenn Bakunin den Empfang des Werkes mit keinem Worte des Dankes angezeigt hatte, so schrieb er doch reichlich ein Jahr später, im Dezember 1868, an Marx: „Mehr als je, denn besser als je verstehe ich jetzt, wie sehr Du recht hast, wenn Du die Heerstraße der ökonomischen Revolution verfolgst und uns einladest, sie zu betreten, und diejenigen unter uns tadelst, die sich in den Seitenpfaden teils nationaler, teils ausschließlich politischer Unternehmungen verirren. Ich tue jetzt dasselbe, was Du seit zwanzig Jahren tust ... Mein Vaterland ist von jetzt an die Internationale, zu deren hervorragendsten Gründern Du gehörst. Du siehst, lieber Freund, dass ich Dein Schüler bin – und ich bin stolz darauf, es zu sein –, das genügt, Dir meine Stellung und meine persönlichen Gesinnungen zu erklären.“ Es liegt nicht der geringste Grund vor, anzunehmen, dass es Bakunin mit diesem Briefe unehrlich gemeint und Marx zu täuschen versucht habe; wenn er jemand täuschte, so nur sich selbst.
Marx aber empfing den Brief nicht ohne Misstrauen. Inwieweit dabei persönliche Ohrenbläsereien mitgespielt haben, kann hier dahingestellt bleiben; dass sie mitgespielt haben, ist leider nicht zu bestreiten. Hauptschuldiger war in dieser Hinsicht ein gewisser Utin – Brupbacher nennt ihn den Sohn eines reichen Schnapshändlers –, der aus irgendwelchen persönlichen Gründen Bakunin hasste und mit giftigen Verleumdungen verfolgte; ein wie unsicherer Kunde er selbst war, hat er dadurch gezeigt, dass er später einen demütigenden Frieden mit demselben Zarismus geschlossen hat, als dessen feiles Werkzeug er Bakunin denunzierte. Diese Beschuldigung hat Marx allerdings niemals übernommen, wenn er auch nicht widersprochen hat, dass ihm so nahestehende Politiker wie Borkheim und Liebknecht sie kolportierten. Aber einen „höchst gefährlichen“ Intriganten, der die Organisation der Internationalen innerlich zu zerrütten bestrebt sei, um sie in sein Werkzeug zu verwandeln, hat Marx in Bakunin erblickt und ihn als solchen fortan bis aufs Messer bekämpft.
Hiergegen wendet sich nun Brupbacher, und man muss anerkennen, dass er nicht übel Marx gegen Marx ins Feld führt. Er fragt: Kann man denn unmarxistischer denken, als wenn man behauptet, dass eine historische Erscheinung wie die Internationale durch die böswilligen Intrigen eines einzelnen Menschen zerrüttet werden könne? Nach Brupbacher hat Bakunin in guten Treuen innerhalb der Internationalen gewirkt, freilich in seiner Weise, was an und für sich jedoch noch kein Unrecht war. Denn der Rahmen der Internationalen war weit genug gespannt, um den verschiedensten Richtungen der Arbeiterbewegung freien Spielraum zu lassen. Aber in Bakunin und Marx verkörperten sich so grundverschiedene Prinzipien, dass sie über kurz oder lang zusammenstoßen mussten und gerade als Prinzipien zusammenstießen. Speziell an den Jurassiern, bei denen der Streit zuerst entbrannte, dann auch an den belgischen, französischen, italienischen, spanischen Arbeitern, die sich zu Bakunin bekannten, weist Brupbacher nach, dass sie durch ihre Klassenlage zu den anarchistischen Prinzipien gedrängt worden seien, deren beredtster Vertreter innerhalb der Internationalen Bakunin war. Er hat seine Anhänger nicht mit demagogischer Lockung verführt, sondern sie haben ihn als ihre Standarte erwählt; er war mindestens ebenso sehr der Geschobene wie der Schiebende, und er wäre nie der Schiebende geworden, wenn er nicht der Geschobene gewesen wäre.
Im wesentlichen hat Brupbacher seinen Beweis geführt, wenn man über manche Einzelheit auch noch mit ihm streiten mag. Ganz so frei von Herrschsucht, wie er meint, ist Bakunin schwerlich gewesen; es ist doch sehr verdächtig, dass Bakunin auf dem Baseler Kongress der Internationalen im Herbst 1869 im Widerspruch mit seinen anarchisch-föderalistischen Grundsätzen die Befugnisse des Generalrats zu verstärken beantragte, das heißt zu einer Zeit, wo er hoffte, der leitende Kopf des Generalrats zu werden, aber dann, je mehr diese Hoffnung schwand, umso heftiger gegen den „autoritären Despotismus“ des Generalrats eiferte. Allein wenn Bakunin nicht das Lamm gewesen sein mag, das Brupbacher in ihm sieht, so war er doch auch nicht der Wolf, den der Generalrat der Internationalen in seinen Kundgebungen aus ihm machen wollte.
Liest man diese Kundgebungen heute, so ist man versucht, zu sagen, dass niemals ein historisches Recht unhistorischer begründet worden ist. Nehmen wir zum Beispiel das Rundschreiben des Generalrats, das den Titel führt: Les pretendus scissions dans l’Internationale – eine deutsche Übersetzung gibt es meines Wissens nicht –, so datiert es vom 5. März 1872, ist vom gesamten Generalrat unterzeichnet und unzweifelhaft von Marx verfasst. Darin heißt es von den Anhängern Bakunins –
Die Anarchie ist das große Streitross ihres Meisters Bakunin, der von den sozialistischen Systemen nur die Aufschriften genommen hat. Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: sobald das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen, einmal erreicht ist, verschwindet die Macht des Staates, die dazu dient, die große arbeitende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu erhalten, und die Tätigkeit der Regierung verwandelt sich in die Tätigkeit der Verwaltung. Bakunin fasst die Sache am umgekehrten Ende an. Er verkündet die Anarchie in den proletarischen Reihen als das unfehlbarste Mittel, um die mächtigen politischen und sozialen Kräfte zu zerbrechen, die sich in den Händen der Ausbeuter zusammenfassen. Unter diesem Vorwand verlangt er von der Internationalen in dem Augenblick, wo die alte Welt sie zu vernichten strebt, ihre Organisation durch die Anarchie zu ersetzen.
Damit ist das Wesen des anarchischen Prinzips, wie es Bakunin vertrat, klar und knapp ausgedrückt. Aber was ist der Ursprung einer so handgreiflich törichten Auffassung? Darauf hat der Generalrat nur die Antwort: So ist einmal das Sektenwesen.
Er schreibt:
Der erste Abschnitt in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie wird durch die Sektenbewegung gekennzeichnet. Sie hat ihr Recht in einer Zeit, wo das Proletariat noch nicht entwickelt genug ist, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unternehmen die Kritik der sozialen Widersprüche und wollen sie beseitigen durch phantastische Lösungen, die die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und ins Werk zu setzen hat. Es liegt in der Natur der Sekten, die sich um solche Bahnbrecher bilden, dass sie sich abschließen und sich jeder wirklichen Tätigkeit, der Politik, den Streikst den Gewerkschaften, mit einem Worte jeder Massenbewegung entfremden. Die Masse des Proletariats bleibt ihrer Propaganda gegenüber gleichgültig oder selbst feindlich. Die Arbeiter von Paris und Lyon wollten ebenso wenig von den Saint-Simonisten, den Fourieristen, den Ikariern wissen wie die englischen Chartisten und Trade-Unionisten von den Owenisten. In ihrem Ursprung Hebel der Bewegung, werden sie ihr Hindernis, sobald sie von ihr überholt werden. Dann werden sie reaktionär. Zeugen dessen sind die Sekten in Frankreich und England und letzthin die Lassalleaner in Deutschland, die, nachdem sie jahrelang die Organisation des Proletariats gehemmt haben, schließlich einfache Werkzeuge der Polizei geworden sind. Kurzum, die Sekten stellen die Kindheit der proletarischen Bewegung dar wie die Astrologie und die Alchimie die Kindheit der Wissenschaft.
1. Schiller: Das Siegesfest (“The Victory Festival”), May 1803.
Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2025