Franz Mehring

 

Hunger- und Hundepeitsche

(28. August 1909)


Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 801–804.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 457–460.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Vor einigen Tagen hat Genosse Bernstein sich bewogen gefühlt, einen an sich ganz harmlosen und unverfänglichen Artikel, den jedes Parteiblatt aufgenommen hätte, im Berliner Tageblatt zu veröffentlichen. Nun mag man gern anerkennen, dass sich diese freisinnige Zeitung vor anderen Blättern der gleichen Richtung seit einiger Zeit durch eine objektivere Haltung gegenüber der Sozialdemokratie auszeichnet, aber man muss die Taktik des Genossen Bernstein dennoch bedauern. Er deckt sich einigermaßen gegen den Dresdener Beschluss [1], allein er ruft um so eher das Geschrei hervor, er müsse sich, selbst für sozialdemokratisch ganz einwandfreie Artikel, an die bürgerliche Presse wenden, um sie unterzubringen, da er von der sozialdemokratischen Presse geboykottet würde. Gewiss hat Genosse Bernstein diese anmutige Absicht nicht gehabt, jedoch da er kein Kind mehr ist, so musste er voraussehen, was alsbald auch pünktlich eingetreten ist, nämlich dass sich der brave Freisinn wollüstig im eigenen Kote wälzen würde, um auf das Konto des angeblichen Märtyrers Bernstein hin die Sozialdemokratische Partei zu verleumden.

So heult die Vossische Zeitung über die „Hungerkur“, die über Bernstein verhängt worden sei, dasselbe Blatt, das vor nicht gar zu langer Zeit einen seiner Redakteure aufs Pflaster schmetterte, bloß um eine antisemitische Laune seines Verlegers zu befriedigen. Noch wilder tobt die Berliner Volks-Zeitung gegen die „Parteisadisten“, die „Fanatiker des alleinseligmachenden Marxismus“, die „Peter Arbues der offiziellen Sozialdemokratie“, weil sie, da sie Bernstein doch nicht mehr verbrennen könnten, ihn durch Stockprügel auf den Magen zu zähmen versuchten. Und die Berliner Volks-Zeitung weiß, was „Parteisadismus“ ist und wie „Hungerkuren“ gemacht werden.

Der Leser gestatte dem Schreiber dieser Zeilen, an einer persönlichen Erinnerung die Methode der „Stockprügel auf den Magen“ zu schildern, wie sie von der Berliner Volks-Zeitung und ihresgleichen in musterhafter Weise gehandhabt werden. Im Jahre 1890 war ich als Chefredakteur dieses Organs gezwungen, einen kapitalistischen Literatursultan zu züchtigen, weil er eine wehrlose Proletarierin der Bühne misshandelt hatte. Für dies Verbrechen musste mich der edle Freisinn strafen, wobei er mit der ihm angeborenen feigen Tücke vorging. Statt wenigstens ehrlich zu sagen: Du magst verhungern, weil du Herrn Lindau angegriffen hast, kündigte der Aufsichtsrat des Blattes, an der Spitze Herr Otto Hermes, noch heute eine parlamentarische Leuchte der Freisinnigen Volkspartei, ohne jeden Anlass meinem Kollegen Ledebour, weil er wusste, dass ich ein anständiger Mensch war und auf diesen brutalen Gewaltakt nur mit meiner eigenen Kündigung antworten konnte. Dadurch gewann Herr Hermes die Möglichkeit, dem drohenden Abfall der Arbeiterabonnenten mit der feierlichen Proklamation zu steuern: Herrn Mehring haben wir nicht wegen des Falles Lindau gekündigt; er hat selbst gekündigt, der Himmel weiß, aus welcher Laune, und wir tun alles, die „schneidige Kraft“ der Zeitung zu erhalten. Da dieser Humbug nicht zog und der massenhafte Abfall der Abonnenten nun ernsthaft den Profit gefährdete, warf sich Herr Otto Hermes auf die Gegenseite und mich noch vor Ablauf meiner kontraktlichen Kündigungsfrist aufs Pflaster, indem er mit dem ihm eigenen gediegenen Pathos erklärte, dass ich, der ich beiläufig das durch die Verbrechen seines Intimus Phillips schwer diskreditierte Blatt in sechsjähriger Arbeit unter den größten Schwierigkeiten wieder in die Höhe gebracht hatte, ein nachlässiger Redakteur sei, versteht sich – denn das war der Hauptzweck der Übung – unter Sperrung des mir kontraktlich noch zustehenden Gehalts. Auf meine gerichtliche Klage hin musste es mir jedoch ausgezahlt werden, da eine umfassende Zeugenvernehmung ergab, dass sich Herr Otto Hermes meine angeblichen Nachlässigkeiten rein aus den Fingern gesogen hatte. Nun galt es, mir alle sonstigen Unterhaltsquellen abzusperren, und für diesen erhabenen Zweck trat der erhabene Eugen selbst in Aktion. Der Mitbesitzer eines freisinnigen Provinzblatts, der sich der an mir praktizierten „Hungerkur“ schämte, bot mir an, ihm wöchentlich einige Leitartikel zu schreiben, aber schon nach wenigen Wochen meldete er mir: Eugen will es nicht; er wird uns seine Korrespondenz entziehen, wenn Sie an unserem Blatte mitarbeiten, und gegen den Zorn des Gewaltigen komme ich armes Nullerl nicht auf.

Und dieselbe Berliner Volks-Zeitung, die diesen Schmutz am Stecken hat, donnert gegen die „Parteisadisten“, die angeblich den Genossen Bernstein aushungern wollen! An demselben Tage, wie diese Tiraden, las ich die neueste Schrift des Herrn Schücking, worin er über die „Hungerkur“ berichtet, die Bürokraten und Junker über ihn verhängt haben wegen angeblich größeren Sünden, als ich im Jahre 1890 begangen hatte. Als ahnungsvoller Engel erklärt Herr Schücking: „Wäre der liberale Mittelstand ebenso egoistisch wie die herrschenden Klassen, ebenso skrupellos auf eigene Erhaltung und Stärkung bedacht, dann hätte es keinen Zweck, das aristokratische Element in unserem Staate durch ein demokratisches Element zu ersetzen.“ Herr Schücking hat sogar mehr recht, als er selbst glaubt, denn verglichen mit den freisinnig-kapitalistischen „Hungerkuren“, deren eine ich eben geschildert habe, sind die bürokratisch-junkerlichen „Hungerkuren“ noch mit einer Masse von Rechtsgarantien umgeben. Auch ist Herr Schücking mit der Bagatelle von 500 Mark Geldstrafe davongekommen, während ich 250 Mark Strafe zahlen soll, nur weil ich gewagt habe, auf einen Schelmen anderthalbe zu setzen, als die freisinnigen Staatsmänner Kopsch und Mugdan noch vor Jahr und Tag aus dem sicheren Hinterhalt der Reichstagstribüne mich wegen meiner Tätigkeit für die Leipziger Volkszeitung verleumdeten. Ja, diese erlauchten Größen des Freisinns wollten mich durch den Mund ihres Anwaltes Levin, der als ewiger Durchfallskandidat der Freisinnigen Volkspartei auch die größten Verdienste um diese edle Rotte hat, ins Gefängnis bringen, indem sie auf die zahlreichen politischen Vorstrafen pochten, die ich als Redakteur der Berliner Volks-Zeitung in, wie Herr Otto Hermes rühmend sagte, „schneidiger“ Vertretung ihrer eigenen Parteiinteressen erlitten hatte. Da sich das Schöffengericht diesem zarten Ansinnen versagte, so haben sie Berufung eingelegt, und nun blüht mir die Aussicht, nach einer Frist, in der selbst ein Raubmord verjährt sein würde, noch einige Wochen oder Monate hinter schwedischen Gardinen nachzugrübeln, wie unbesonnen ich war, vor nahezu zwanzig Jahren die „Peter Arbues“, die „Parteisadisten“ des Freisinns zu reizen.

Ja, Herr Schücking hat noch viel mehr Recht, als er selbst annimmt. „Hungerkuren“ dieses klassischen Kalibers kommen bei keiner anderen Klasse oder Partei vor, weder bei Bürokraten noch bei Junkern, weder bei Antisemiten noch bei Ultramontanen, als nur bei dem kapitalistischen Freisinn. Und wenn diese Gesellschaft, an der ihre polizeiwidrige Dummheit der einzige ehrliche Protest gegen die Polizeiwirtschaft ist, je in Preußen ans Ruder käme, so würde ich nach Mecklenburg auswandern, vorausgesetzt, dass dann im Lande des Ochsenkopfs noch waschechte Junker regierten, und Herr Schücking würde sich meinem Exodus anschließen, vorausgesetzt, dass er dann noch, woran ich nicht zweifle, seinen ehrenwerten Abscheu gegen brutale Aushungerungsmethoden bewahrt hat.

Der Leser wird verstehen, weshalb ich die freisinnigen Vitzliputzlis mit einigem Humor betrachte, denn angeschlagen hat ihre „Hungerkur“ bei mir schlechterdings nicht, und selbst wenn ich die unchristliche Empfindung der Rachsucht in ausschweifendstem Maße besäße, so würde sie überreichlich gesättigt sein durch die Geschichte des Freisinns seit zwanzig Jahren. Kannibalen, die mit dem roten Adler vierter Güte auf der zottigen Brust umherlaufen, gehören nur noch in die Jahrmarktsbude. Aber so lächerlich sie heute erscheinen, so sind sie doch einmal schreckhaft gewesen, zur Zeit, wo sie noch unumschränkt auf einem Gebiet herrschten, von dem heute doch schon das kämpfende Proletariat ein breites Stück der menschlichen Kultur erschlossen hat. Wer heute die vulgäre Demokratie über die Aushungerungsmethoden lügen hört, deren sich die „Fanatiker des alleinseligmachenden Marxismus“ schuldig machen sollen, der sollte sich, wenn er anders etwas von Marx weiß und je einen Hauch von dessen Geist verspürt hat, doch vor allem erinnern, dass eben diese Bande durch ihre „Hungerkuren“ das Leben von Karl Marx Jahre und selbst Jahrzehnte hindurch zu einem furchtbaren Martyrium gemacht hat.

Und selbst wenn Genosse Bernstein dafür jedes Gefühl verloren haben sollte, so war es bisher gute Sitte in der Partei, dass, wenn ein gegnerisches Blatt die Partei mit pöbelhaften Verleumdungen überschüttete, um auf diesem dunklen Hintergrunde einen einzelnen Parteigenossen als leuchtende Siegfriedsgestalt erscheinen zu lassen, der so peinlich Beschimpfte darauf keine andere Antwort hatte als die Antwort mit der Hundepeitsche. Indessen Genosse Bernstein ist auch in diesem Punkte ein Neuerer. Er lässt sich mit der Berliner Volks-Zeitung, die ihn in der eben geschilderten Weise verunglimpft hat, in ein elegisch-sentimentales Geschmuse darüber ein, dass der Mensch nicht von Brot allein lebe; ja er vertraut dieser Meisterin der „Hungerkuren“ an, dass es wirklich Parteigenossen gäbe, die ihn materiell aushungern wollten, wenn sie auch keine irgend nennenswerte Gruppe in der Partei bildeten.

Ein reizendes Bild in der Tat – dies Beichtkind, in diesem Beichtstuhl, mit dieser Beichte! Inzwischen hat Genosse Bernstein in einer neuesten Erklärung bekundet, er habe den Artikel der Berliner Volks-Zeitung nur zum Teil gekannt, als er darauf mit seinen Konfessionen antwortete. Aber da es nun doch nicht wohl angeht, wie wir bereitwillig anerkennen, dass er den Beichtvater auf eine vom Beichtkinde selbst verschuldete Nachlässigkeit hin nachträglich durchprügelt, so wird er uns dankbar sein, wenn wir diese eigentlich ihm obliegende Pflicht übernehmen und dem Gelichter, das in „Hungerkuren“ unerreichbare Leistungen aufzuweisen hat und gleichwohl mit frecher Stirn lügt, dass die Sozialdemokratie eine Hungerpeitsche über den Genossen Bernstein schwinge, die Antwort erteilen, von der wir schon sagten, dass sie einzig am Platze sei: nämlich die Antwort mit der Hundepeitsche.

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Anmerkung

1. Gemeint ist der Beschluss des Parteitages der SPD von 1903, dessen Kernsätze lauteten:

„Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, dass an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt; ... ferner jedes Bestreben, die vorhandenen, stets wachsenden Klassengegensätze zu vertuschen, um eine Anlehnung an bürgerliche Parteien zu erleichtern.“

Mit 288 gegen 11 Stimmen nahm der Parteitag die Resolution gegen den Revisionismus an. Aber auch auf dem Dresdner Parteitag gab es keinen Bruch mit dem Revisionismus, so dass der Opportunismus sein Werk der Zersetzung der Partei fortsetzen konnte.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024