MIA > Deutsch > Marxisten > Mehring
Die Neue Zeit,, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 449–455.
Franz Mehring, Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 1963, S. 135–43.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vor einigen Wochen hat Herr Werner Sombart – „Professor an der Universität Breslau“ wie er sich zu seiner Legitimation auf dem Titelblatt nennt – eine kleine Schrift „über den Sozialismus und die soziale Bewegung im neunzehnten Jahrhundert“ bei Gustav Fischer in Jena herausgegeben. Irgendwelche neue Gedanken oder Tatsachen enthält das Büchlein nicht, was übrigens keinen Vorwurf gegen den Verfasser begründet. Es besteht aus acht Vorträgen, die Herr Sombart im Herbst dieses Jahres vor einem sehr bunt zusammengesetzten Publikum in Zurich gehalten hat, und erfüllt ganz gut seinen Zweck, einem gemischten Hörerkreise, dem es mehr auf die allgemeine Ähnlichkeit und die gefällige Form als auf die originale Auffassung und die genaue Zeichnung des Bildes ankommt, die wesentlichsten Gesichtspunkte zu entwickeln, um die es sich bei der historischen Würdigung des modernen wissenschaftlichen Kommunismus handelt./p>
Denn dies ist der Inhalt und Zweck der Schrift, wenn man das beste an ihr genau präzisieren will. Das minder Gute ist eben die abstumpfende Glätte, womit Herr Sombart, wie schon der Titel verrät, sein Thema behandelt. Er mag dabei von einer guten Absicht geleitet sein, etwa wie der Arzt, der einem Kinde eine bittere Arznei mit dem Troste einflößt, daß sie ja gar nicht so schlecht schmecke. Möglich auch, daß sich die bürgerliche Lesewelt oder doch ein Teil von ihr als großes Kind behandeln läßt, was wir Herrn Sombart gerne gönnen, wenn wir auch keinen Gewinn für die Sache darin erblicken können. Seine Schrift ist in letzter Instanz eben doch auch nur eine jener „Anweise zur Beruhigung des bürgerlichen Bewußtseins“
Herr Sombart ist nun nicht solch Tölpel wie Herr Eugen Richter und dergleichen kapitalistische Klopffechter; er sagt nicht: die Sozialdemokratie ist Unsinn und damit basta, sondern ganz im Gegenteil: die Sozialdemokratie hat recht, nur zu sehr recht, keine Macht der Welt kann die revolutionäre Arbeiterbewegung ausrotten oder den modernen wissenschaftlichen Kommunismus aus der Welt schaffen, aber „es wohnt ein Geist des Guten in dem Übel“. Gerade die historische Theorie des Marxismus, „sublimiert“ und gereinigt von den zahlreichen „Akzidenzien“ der „unsteten Feuerseelen“ Engels. und Marx, „die emsig von Ort zu Ort liefen, dem Welteneichhörnchen vergleichbar“, um „bei jeder Gelegenheit, die sich bot, dem verhaßten Gegner in die Waden zu beißen“ – also die „sublimierte“ Theorie des Marxismus stellt ja klar, daß auch keine Macht der Erde, keine Partei, sie möge sich noch so revolutionär gebärden, der Menschheit eine neue soziale Ordnung aufzuoktroyieren vermöge, solange nicht die Vorbedingungen der neuen Ordnung im Wirtschaftsleben gegeben seien. Sollten diese Bedingungen jemals erfüllt werden, so werde man ja weiter sehen. Aber bis dahin brauche man sich vor den „Gefahren“ weder des Klassenkampfes noch des Zukunftsstaates zu ängstigen. Es genüge, dafür zu sorgen, daß der Klassenkampf in anständigen Formen und auf gesetzlichem Boden geführt werde. Damit schließt Herr Sombart, ähnlich wie der Schriftgelehrte Gamaliel in der Apostelgeschichte: Ist’s Gotteswerk, so wird’s bestehn: ist’s Menschenwerk, wird’s untergehn.
Über diesen allgemeinen Standpunkt des Herrn Sombart möchten wir uns einige kritische Bemerkungen erlauben. Nicht als ob wir damit alle Einzelheiten der acht Vorträge als richtig anerkennen wollten! Auch an ihnen hätten wir mancherlei auszusetzen. Aber wie hoch oder wie niedrig man den Wert solcher leichtgeschürzten Vorträge über schwierige und weitschichtige Probleme einschätze: sind sie einmal da, so wäre es unbillig, einen anderen Maßstab an sie anzulegen, als ihrem Wesen entspricht. Man darf da nicht an Einzelheiten mäkeln, sondern muß zufrieden sein, wenn die Sache im ganzen und großen so ungefähr stimmt. Und diese Anerkennung kann Herrn Sombarts Arbeit beanspruchen – eben bis auf jenen allgemeinen Standpunkt, oder noch genauer bis auf die seltsame Operation, die der Verfasser vornimmt, um diesen Standpunkt einnehmen zu können. Zur Beruhigung nämlich des bürgerlichen Bewußtseins schneidet er den modernen wissenschaftlichen Kommunismus mitten entzwei: in die „sublimierte“ Theorie und die praktischen „Akzidenzien“.
Neu ist auch dies Beginnen nicht. Schon Gustav Groß hat vor zwölf Jahren in seiner biographischen Skizze über Marx zwischen dem genialen Denker und dem wüsten Demagogen unterschieden. Herr Sombart faßt die Sache nur feiner und geschickter an. Aber um so notwendiger ist es auch, jedem Versuche entgegenzutreten, der die politische Seite des modernen wissenschaftlichen Kommunismus von seiner ökonomischen Seite trennen will. Und darauf läuft schließlich alles Gerede des Herrn Sombart über den evolutionären, aber nicht revolutionären Charakter des Marxismus, über Welteneichhörnchen und Wadenbeißer, über den gesetzlichen Boden und die anständigen Waffen hinaus.
Es weht einige „national-soziale“ Luft durch das Buch. So kräftig und zutreffend Herr Sombart sich über die unfreiwilligen Verdienste ausläßt, welche sich die deutsche Bourgeoisie durch ihre Feigheit und Torheit um die revolutionäre Arbeiterbewegung erworben hat, so vermissen wir jedes Wort über etwaige Verdienste der deutschen Dynastien, namentlich der preußischen Dynastie, auf dem gleichen Gebiete. Einem Professor in Breslau hätte doch besonders nahegelegen, die scheußlichen Infamien zu erwähnen, durch die der vormärzliche Despotismus den schlesischen Webern die liebevolle Anhänglichkeit an das teure Vaterland ausgetrieben hat. Um uns aber an den Kern der Sache zu halten, so ist die ganze „Sublimierung“ des Marxismus eine höchst un- und widerhistorische Operation. Marx und Engels waren Ökonomen wie Politiker und Politiker wie Ökonomen; im Lichte dieser untrennbaren Einheit wird ihr Lebenswerk überhaupt erst verständlich; hier eine Scheidung vornehmen wollen heißt den modernen wissenschaftlichen Kommunismus in blauen Dunst auflösen, nur daß es bei dem guten oder schlechten Willen sein Bewenden haben muß, denn praktisch ist er allerdings vor diesen liebevollen Attentaten hinlänglich gesichert.
Man kann wirklich nicht vorsichtig genug sein in dem Bemühen, bei der Würdigung des modernen wissenschaftlichen Kommunismus nie den untrennbaren Zusammenhang zwischen seiner praktischen und seiner theoretischen Seite aus den Augen zu verlieren. Selbst wenn man die eine Seite zunächst nur isoliert, um sie gründlich zu untersuchen, wogegen an und für sich nichts einzuwenden ist, gerät man sehr leicht auf einen Irrweg, sobald man nicht doch bei jedem Schritte den Einfluß der Praxis auf die Theorie im Auge behält. Wie leicht solch Fehltritt möglich ist, zeigt eine Bemerkung Struves in den Aufsätzen, die er in diesen Blättern über die Entwicklungsgeschichte des Marxismus veröffentlicht hat. Als „Marxist“ weiß Struve natürlich, daß sich der Politiker Marx von dem Sozialisten Marx nicht trennen läßt, aber indem er das Werden des Sozialisten Marx untersucht in jener Beschränkung, die als vorbereitendes Untersuchungsstudium erlaubt und je nachdem auch geboten ist, überschreitet er das relative Recht dieser Forschungsmethode, indem er mit abschließender Bestimmtheit sagt, daß Marx von Lorenz Stein „angeregt und beeinflußt“ gewesen sei. Eine solche Behauptung ließe sich dann erst aufstellen, wenn Struve die „authentischen Belege“, die er in den Büchern und auf dem Papier für seine „auch indirekt sich aufzwingende Annahme“ gefunden zu haben glaubt, an den praktischen Tatsachen geprüft hätte. Herr Sombart geht nun aber flugs noch einen Schritt weiter und macht Stein zu „demjenigen Schriftsteller, der vielleicht auf Marx am meisten eingewirkt hat“. Er verfährt dabei ganz konsequent, denn wenn Marx nur „klarer, einleuchtender, wirkungsvoller“ gesagt hätte, was Stein schon vor ihm gesagt hatte, so wäre Marx glücklich in den bürgerlichen Hafen bugsiert.
Es sei uns gestattet, bei diesem Punkte etwas länger zu verweilen, um an einem praktischen Beispiel den Zusammenhang zwischen Politik und Sozialismus aufzuzeigen. Die Beweise Struves für die „Anregung und Beeinflussung“, die Marx von Stein erfahren haben soll, zerfallen in einen direkten und einen indirekten Beweis. Der direkte Beweis besteht darin, daß Marx in einer Kritik Grüns gesagt hat, Grün stehe noch unter Stein, der, „selbst im höchsten Grade konfus“, doch wenigstens versucht habe, den Zusammenhang der sozialistischen Literatur mit der wirklichen Entwicklung der französischen Gesellschaft darzustellen, und der eine richtige Ahnung verrate, wenn er sage, daß die Geschichte des Staates aufs genaueste zusammenhänge mit der Geschichte der Volkswirtschaft. [2] Es ist nicht abzusehen, wie aus dieser wegwerfenden Äußerung über Stein – und anders als wegwerfend haben sich Marx wie Engels nie über Stein ausgesprochen – ein Beweis für die Behauptung Struves geliefert sein soll. Etwas besser steht es mit dem indirekten Beweise, mit der Tatsache nämlich, daß Steins Buch [3] 1842, also zu einer Zeit erschienen ist, wo Marx eingestandenermaßen sehr wenig von Nationalökonomie und Sozialismus verstanden habe. Damit ist wenigstens die Möglichkeit gegeben, daß Marx von Stein angeregt worden sein könne; es fragt sich aber immer noch, ob diese Möglichkeit eine Wirklichkeit gewesen ist.
Sehen wir uns zur Prüfung dieser Frage das „Eingeständnis“ von Marx näher an. Es findet sich in der Rheinischen Zeitung vom 16. Oktober 1842. Marx erklärt sich hier gegen die Stümpereien, welche den Inhalt des englisch-französischen Sozialismus und Kommunismus dem deutschen Publikum vermitteln wollten. Er verzichtet darauf, mit einer Phrase Probleme lösen zu wollen, an deren Bezwingung zwei Völker arbeiteten. Er bekennt, noch kein selbständiges Urteil über diese Probleme gewonnen zu haben, aber er verspricht, sie gründlich studieren und kritisieren zu wollen, wobei er sagt, daß Schriften wie die von Leroux, Considérant und vor allem das scharfsinnige Werk Proudhons „nur nach lang anhaltendem und tief eindringendem Studium kritisiert“ [4] werden könnten. Marx polemisiert in diesem Artikel gegen die Allgemeine Zeitung in Augsburg, welche die Rheinische Zeitung kommunistischer Tendenzen geziehen hatte, daneben aber auch gegen junghegelianische Mitarbeiter seines eigenen Blattes, wie Moses Heß, die allzu schnell bei der Hand gewesen waren, die englisch-französischen Sozialisten in ihr geliebtes Hegeldeutsch zu übersetzen. Marx hält diese Methode für ganz ungenügend, und daraus ergibt sich zur Genüge, wie er über Steins Buch bei dessen Erscheinen gedacht haben muß. Denn der Standpunkt von Heß war schon weit über den Standpunkt Steins hinaus.
Heß besprach Steins Buch sofort in Herweghs Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Er läßt dem „richtigen Instinkte“ Steins alle Gerechtigkeit widerfahren; er rühmt die „Einfachheit und Klarheit“, womit Stein den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, den Zusammenhang zwischen Kommunismus und Proletariat nachgewiesen habe. Aber freilich sagt Heß auch, daß dies die einzige lebensvolle Seite sei, die Stein dem Kommunismus abgewonnen habe. „Wo es sich um die Berechtigung der Ansprüche des Proletariats handelt, da schlüpft er mit einigen philosophischen Floskeln darüber hinweg, und man sieht an der Haltungslosigkeit seines Räsonnements die Unfähigkeit, hier zu einem Verständnis zu gelangen ... Stein kennt den Kommunismus nur in seiner ersten, rohesten Gestalt; was seit Babeuf mit der Idee des Kommunismus vorgegangen ist, die sozialistischen Lehren Saint-Simons, Fouriers, Proudhons usw., betrachtet er nicht als Entwicklungs- und Durchgangsstufen jener Idee, sondern isoliert als selbständige Erscheinung, deren Zusammenhang mit der allgemeinen Idee der Egalité er wohl ehrt, deren spezielle Beziehung auf den Kommunismus ihm aber so wenig zum Bewußtsein gekommen ist, daß er z. B. Proudhon neben Lamennais gruppiert und ihn, weil er nicht weiß, wo er ihn hinstellen soll, zu einem ‚nebengeordneten Schriftsteller‘ macht ... Stein gibt eine magere Abstraktion von Saint-Simons und Fouriers Theorie, die sich in bereits erschienenen deutschen Übersetzungen und vereinzelten Darstellungen mindestens ebenso gut vorfinden, aber von wesentlichem Zusammenhange dieser und der kommunistischen Ideen keine Spur. Mit seiner armseligen Kategorie der Egalité glaubt er alles abgemacht zu haben. Abgesehen hiervon ist das ganze Buch eine völlig ideenlose Kompilation, ein Nebeneinanderaufstellen von Saint-Simon, Fourier, Leroux, Lamennais, Proudhon, Babeuf, Cabet usw., welche alle in einer gewissen Ordnung, in Reih und Glied, Mann neben Mann, wie preußische Kamaschenhelden, aufgepflanzt stehen.“ Diese heute noch sehr lesenswerte Kritik deckt die Unzulänglichkeit von Steins Buch in schlagender Weise auf, und wie wunderbar, daß Marx von diesem Buche „angeregt und beeinflußt“ worden sein soll zur Zeit, wo er sich schon gegen die „Stümperei“ von Heß wandte, der sich der Auffassung Steins so überlegen erwies.
Worin aber war Marx über Heß hinaus? Einfach darin, daß er nicht bloß die „armseligen“, sondern überhaupt alle philosophischen Kategorien überwunden und die Bedeutung des praktischen politischen Kampfes für die theoretische Gedankenwelt des Sozialismus begriffen hatte. Der Krieg, den Marx in der Rheinischen Zeitung mit dem vormärzlichen Despotismus führte, zerriß alle ideologischen Schleier vor seinen Augen. Namentlich in den beiden großen Artikelreihen, die er über die Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags von 1841 veröffentlichte [5], kann man Schritt für Schritt verfolgen, wie er aus den philosophischen Wolken auf die ebene Erde herabkam und hier unaufhaltsam auf den ökonomischen Zusammenhang der Dinge gedrängt wurde. Wie ihm in den Verhandlungen des rheinischen Landtags über Preßfreiheit oder Zensur der Unterschied zwischen bourgeois und citoyen [6] verständlich wurde, so ging ihm in den Verhandlungen desselben Landtags über ein Holzdiebstahlgesetz der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf. Alles das war geschehen, ehe Steins Buch erschien. Nun war freilich der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat in Deutschland viel zuwenig entwickelt, um hier in seiner ganzen Schärfe und Tiefe erfaßt werden zu können, und insofern knüpft nun Marx theoretisch an den französischen Sozialismus an. Aber er will ihn an der Quelle studieren und auch hier auf den Untergrund der Dinge dringen, die Heß, geschweige denn Stein nur an der Oberfläche gestreift hatten. Wäre es überhaupt nötig gewesen, so sorgte die preußische Regierung durch die brutale Unterdrückung der Rheinischen Zeitung dafür, daß dieses theoretische Studium sofort eine praktische Spitze erhielt. Ein Jahr später verwirft Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern schon allen dogmatischen Kommunismus, verwirft er die Meinung der „krassen Sozialisten“, wonach die politischen Fragen unter aller Würde seien, erklärt er, an die Politik, wie sie auch sei, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe müsse angeknüpft werden.
Gewiß hat Steins Buch eine historische Bedeutung gehabt, aber sie erstreckte sich nicht über die Grenzen der bürgerlichen Klasse hinaus. Guido Weiß sagt einmal sehr treffend: die deutsche Bourgeoisie sei sich an diesem Buche ihrer selbst bewußt geworden. Es setzte den ästhetisch-literarischen Spielereien ein Ziel, in denen die Ideologen des deutschen Bürgertums mit dem französischen Sozialismus kokettierten; es zeigte, daß dieser Sozialismus denn doch etwas anderes sei als ein geistreicher Gedankenkram. Aber es. blieb nicht nur weit hinter dem Standpunkte der radikalen Junghegelianer, wie ihn Heß oder gar wie ihn Marx vertrat, sondern auch hinter dem Standpunkte des deutschen Handwerksburschen-Kommunismus zurück. Im Geächteten, dem Organ des Bundes der Geächteten, hat namentlich Wilhelm Schuster im Anfang der dreißiger Jahre das Verhältnis von Gesellschaft und Staat viel gründlicher und klarer beleuchtet als Stein zehn und selbst noch zwanzig Jahre später.
Als deutscher Professor hat Stein natürlich sehr hoch von der „epochemachenden Bedeutung“ seines Werkes gedacht; man lese beispielsweise nur den Aufsatz über den Sozialismus in Deutschland, den er 1852 in der Gegenwart von Brockhaus anonym veröffentlichte. Wie Cäsar spricht er hier von sich in der dritten Person und stellt „Steins Buch“ in den Mittelpunkt der sozialistischen Bewegung in Deutschland. Aber er ist doch so ehrlich, unter dieser Bewegung hauptsächlich jene ästhetisch-sozialistischen Spielereien von allerlei bürgerlichem Krethi und Plethi zu verstehen; die sorgsame Registrierung dieser gänzlich verschollenen Literatur gibt dem Aufsatz einen gewissen bibliographischen Wert. Aber Stein kennt weder das Kommunistische Manifest, noch auch nur den Namen von Marx, und soweit er überhaupt den „rheinischen Kommunismus“ berührt, ist er wieder so ehrlich, als seine Wurzel den politischen Kampf anzugeben. Er sagt, die Rheinische Zeitung sei ein bedeutendes Blatt eben dadurch gewesen, daß sie zum ersten Male neben der Verbreitung der parlamentarischen Verfassung sich zugleich dem Volke zugewandt habe. Dann habe man von Berlin „täppisch zugegriffen“ und die Rheinische Zeitung verboten. „Man stieß die noch unentschiedenen Anhänger der proletarischen Agitation in die weite publizistische Welt rücksichtslos hinaus und zwang sie auf diese Weise, jetzt erst mit rechtem Nachdruck sich dem Proletariat zuzuwenden. Unter allen Maßregeln der preußischen Regierung hat keine mehr das Aufkommen der reinen und rohen kommunistischen Bewegungen und Ideen in Deutschland gefördert als die Aufhebung der Rheinischen Zeitung ... So kam man auf natürlichem Wege dazu, die Lage des Volkes vom Gesichtspunkte des Sozialismus und Kommunismus zu betrachten. Das Buch Steins, das hierzu den Anstoß gegeben, reichte aber mit seiner Unfertigkeit und seiner Berücksichtigung der edleren Elemente der Gesellschaft (will sagen: Bourgeoiselemente) nicht aus; man mußte das Volk ohne Rückhalt gewinnen.“ So konfus und ungeschickt das alles ausgedrückt ist und sosehr sich Stein dennoch bemüht, irgendeinen geheimnisvollen „Anstoß“ für sich zu retten, so genügt doch sein eigenes Zeugnis vollkommen, um Herrn Sombarts Behauptung, daß Marx sozusagen der vervollkommnete Stein gewesen sei, ins Reich der Fabeln zu verweisen.
Ebenso zeigt die ausführlichere Erörterung dieses einen Punktes schon, wie völlig unzulässig es ist, den Politiker von dem Sozialisten Marx zu trennen. Auf andere Gesichtspunkte können wir wegen des beschränkten Raumes nicht eingehen; der Nachweis, wie die Politik immer als bestimmende und gestaltende Kraft im modernen wissenschaftlichen Kommunismus tätig gewesen ist, kann nur durch eine positive Darstellung seiner Geschichte geführt werden, die denn auch anderweitig versucht werden wird. Man erledigt ein Problem nicht dadurch, daß man seiner Lösung einfach aus dem Wege geht. Wenn Herr Sombart das Unglück hat, in den Schriften von Marx und Engels „zunächst einen wirren Haufen verschiedenartigsten Gedankenmaterials“, „ein höchst unbeholfenes Durcheinander von teilweise sich widersprechenden Lehren“ zu erblicken, so aus dem Grunde, weil er nicht Politiker, sondern nur Gelehrter ist. Er will in das, was ihm als ein „wirrer Haufe“ etc. etc, erscheint, nicht dadurch Klarheit und Ordnung bringen, daß er sich auf den Standpunkt erhebt, den Marx und Engels eingenommen haben, sondern dadurch, daß er Marx und Engels auf seinen Standpunkt herabzieht. Er gibt sich einer ähnlichen Einbildung hin wie Stein, wenn er sagt, „erst seit zwei Jahren“, nämlich seitdem er selbst einen leidlichen Kommentar zu Marx geschrieben hat, seien dessen Fundamentallehren ein „Gegenstand fruchtbarer Diskussion“ geworden. Das mag für die bürgerliche Klasse gelten, aber dann gilt es auch nur für sie. Wir kennen manche Arbeiter, die immerhin keine Gelehrte, aber wohl Politiker sind und die schon vor zehn Jahren die Lehren von Marx zu „Gegenständen fruchtbarer Diskussion“ zu machen und sich in diesem „unbeholfenen Durcheinander“ sehr gut zu helfen gewußt haben. Herr Sombart verfährt so, wie ein Stubenhocker von Literarhistoriker, der etwa sagen würde: Ja, dieser Goethe! Liest man Götz, Prometheus, Faust, Iphigenie, Tasso, Hermann und Dorothea, so hat man einen „wirren Haufen verschiedenartigsten Gedankenmaterials“ vor sich. Um es zum „Gegenstande fruchtbarer Diskussion“ zu machen, muß man Götz, Prometheus, Faust als „akzidentiell“ ausscheiden, aus Iphigenie, Tasso, Hermann und Dorothea aber den eigentlichen Geist Goethes „sublimieren“; dann hat man die evolutionäre, aber nicht revolutionäre Entwicklung klar in der Hand. Schade nur, daß in diesem Falle Goethe weggehext ist wie Marx in jenem anderen Falle.
Am schlimmsten, aber allerdings in strenger Konsequenz seiner Methode, springt Herr Sombart mit Lassalle um. Lassalles historisches Recht ist überwiegend nur auf politischem, nicht auf ökonomischem Wege zu demonstrieren, und da hört Herrn Sombarts Scharfsinn auf. Er sieht in Lassalle nur „einen dämonischen Ehrgeiz, eine titanische Ruhmbegierde“; auf konservativer Seite habe Lassalle nicht stehen können, weil hier Bismarck – man denke nur! – alles überstrahlt habe; auf liberaler Seite habe man nichts von ihm wissen wollen; also habe er seine eigene Partei gründen müssen. Diese fruchtbare Diskussion“ über Lassalle eröffnet zu haben, kann sich Herr Sombart nun aber nicht einmal rühmen; ungefähr ebenso hat Herr Eugen Richter schon vor dreißig Jahren in einem albernen und schmutzigen Pamphlet über Lassalle gesprochen. Nicht als ob wir einen Mann von Herrn Sombarts Gaben und Kenntnissen mit einem beliebigen, kapitalistischen Knownothing [7] auf eine Stufe stellen wollten; das liegt uns gewiß sehr ferne. Aber allerdings handelt es sich hier um ein Entweder – Oder. Entweder wird Herr Sombart zum „Welteneichhörnchen, das emsig von Ort zu Ort läuft“, oder zum Wald- und Wieseneichhörnchen, das im engen Käfig der bürgerlichen Weltanschauung vorwärts zu springen glaubt, indem es tatsächlich immer dasselbe Rädchen um sich selber dreht.
Der „wissenschaftliche“ Standpunkt, der über den Klassenkämpfen schweben soll, der die hüben und drüben kämpfenden Klassen unter gleichmäßiger Verteilung sanfter Nasenstüber auf den Weg des „gesetzlichen Bodens“, der „anständigen Waffen“, der „evolutionären, aber nicht revolutionären“ Entwicklung drängen zu können meint, ist die reine Phantasmagorie. Herr Sombart ist ja keineswegs der erste deutsche Professor, der vor jener Alternative steht. Herr Schäffle rückte seinerzeit in der Quintessenz des Sozialismus“ ziemlich dicht an Marx heran, um dann in der „Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie“ um so energischer auf Eugen Richter zurückzuplumpsen. Dagegen hat Herr Tönnies, mit dem wir uns vor Jahren einmal an dieser Stelle über die Unmöglichkeit einer über den Klassenkämpfen schwebenden Ethik unterhalten haben, dieser Tage einen herzhaften Schrift vorwärts getan, indem er sich in einer braven und männlichen Erklärung auf die Seite der Hamburger Hafenarbeiter stellte und seine nun auch nicht mehr sanften, sondern recht derben Nasenstüber an die einseitig, aber richtig gewählte Adresse der Hamburger Reeder und ihrer Verbündeten adressierte. Man muß hoffen und wünschen, daß Herr Sombart sich auch nach vorwärts entwickeln wird, aber man darf sich deshalb nicht der Erkenntnis verschließen, daß die Quintessenz des Sozialismus, die er eben veröffentlicht hat, noch alle Elemente enthält, die sich je nachdem zu einem für den deutschen Philister trostreichen Brevier über die „Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie“ auswachsen können.
1. Karl Marx: Das Kapital, 1. Band, S. 22.
2. Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: Marx/Engels: Werke, Bd. 3, S. 480.
3. Gemeint ist Lorenz Stein: Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842.
4. Karl Marx: Der Kommunismus und die Augsburger Allgemeine Zeitung, in: Marx/Engels: Werke, Bd. 1, S. 108.
5. Gemeint ist Karl Marx: Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags. Von drei Marxschen Artikeln wurden zwei veröffentlicht. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 1, S. 28–77 u. 109&ndasn:147.
6. Gemeint ist der Unterschied zwischen liberaler Bourgeoisie und demokratischem Kleinbürgertum. (Siehe Karl Marx: Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags, in: Ebenda, S. 28–77.)
7. Knownothing (engl.) – Nichtswisser.
Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024