Julius Martow

 

Marx und der Staat

(1925)


Aus dem Nachlaß von Julius Martow. [1]
Aus Die Gesellschaft, 1925, Bd. 2, S. 305–322.
Nachgedruckt in K.-H. Neumann (Hrsg.), Marxismus Archiv, Bd. 1, Marxismus und Politik, Frankfurt/M. 1971, S. 456–470.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I

Daß es sich in den politischen Konstruktionen des Bolschewismus eigentlich um die Organisation der Diktatur einer Minderheit handelt, erkennen in den meisten Fällen selbst die Anhänger des „reinen Sowjetsystems“ nicht. Diese beginnen vielmehr mit dem aufrichtigen Suchen solcher politischer Formen, die den wirklichen Willen der Mehrheit zum Ausdruck bringen könnten, und sie gelangen zum „Sowjetsystem“ erst nachdem sie die Demokratie des allgemeinen Wahlrechts als für diesen Zweck untauglich abgelehnt haben. Ist es für die Psychologie der äußersten linken Elemente bei ihrer Begeisterung für das Sowjetsystem charakteristisch, daß sie die geschichtliche Unbeweglichkeit der Massen, die die Mehrheit des Volkes bilden, überspringen wollen, so steht im Mittelpunkt ihrer Logik die Idee der „endlich entdeckten“ neuen politischen Form, die in adäquater Weise die Klassenherrschaft des Proletariats ebenso zum Ausdruck bringen soll, wie die demokratische Republik die Klassenherrschaft der Bourgeoisie.

Der Gedanke, daß zur Verwirklichung der Macht der Arbeiterklasse gesellschaftliche Formen notwendig seien, die sich absolut und prinzipiell von den gesellschaftlichen Formen unterscheiden, in denen die Herrschaft der Bourgeoisie zum Ausdruck gelangt, findet sich schon bei den ersten Schritten der revolutionären Arbeiterbewegung. So taucht dieser Gedanke schon in der Propaganda der energischen Vorläufer des Chartismus, des Bauhandwerkers James Morrison und seines Freundes und Gesinnungsgenossen James E. Smith auf. Während die fortgeschrittenen Arbeiter damals erst den Gedanken in sich aufzunehmen anfingen, daß es notwendig sei, die politische Macht zu erobern und zu diesem Zweck das allgemeine Wahlrecht zu erringen, schrieb Smith am 12. April 1834 in seiner Zeitschrift Crisis:

Das einzige wirkliche Haus der Gemeinen ist ein Haus der Trade-Unions. Wir werden unsere eigenen „Wahlkreise“ haben; jede Trade-Union soll ein Wahlkreis sein und jede Union wird ihren Vorstand haben. Das Parlament versteht nichts von den Interessen des Volkes und kümmert sich um sie nicht. Es setzt sich aus Profitmachern zusammen. Wie kann ein Grundbesitzer einen Arbeiter verstehen? ... Das Reformparlament ist diskreditiert und wird die alte Achtung nicht mehr zurückgewinnen. Es wird durch ein Haus der Trade-Unions ersetzt werden. [2]

Um dieselbe Zeit schrieb Morrison am 31. Mai 1834 in seinem Organ Pionier:

Die wachsende Macht und die wachsende Intelligenz der Trade-Unions werden, wenn richtig geleitet, alle wirtschaftlichen Interessen des Landes in ihre Kreise ziehen; durch Ihre eigene Kraft werden sie eine Bedeutung erlangen, die in der Gesellschaft geradezu diktatorisch sein wird. Wenn dieser Zeitpunkt eintritt, werden wir alles haben, was wir wollen. Wir werden auch das allgemeine Wahlrecht haben, denn wenn jedes Mitglied der Union gleichberechtigt ist und die Union zum vitalen Organ des Staates wird, so wird die oberste Leitung ein Haus der Trade-Unions sein, dessen Zusammensetzung von der Stimme eines jeden Arbeiters abhängen wird. Das Haus der Trades wird die wirtschaftlichen Interessen des Landes leiten in Übereinstimmung mit dem Willen der Unions. Das ist die aufsteigende Stufenleiter, durch die wir zum allgemeinen Wahlrecht gelangen... Bei uns beginnt das allgemeine Wahlrecht in der lokalen Union, erhält einen ausgedehnteren Charakter in der Distriktsunion und in der allgemeinen Union um dann die politische Macht zu verschlingen und in der allgemeinen wirtschaftlichen Organisation des arbeitenden Volkes absorbiert zu werden. [3]

Setzt man hier an die Stelle der „Union“ den „Sowjet“, an die Stelle der Unionsleitung das „Exekutivkomitee“, an die Stelle des Hauses der Trade-Unions den Sowjetkongreß, so bekommt man den Abriß eines „Sowjetsystems“, das auf den grundlegenden Zellen der Produktion ruht.

In seiner Polemik gegen die hier genannten Vertreter der syndikalistischen Auffassung der Diktatur des Proletariats schrieb der spätere Chartistenführer O’Brien in seinem Organ Poor man’s Guardian:

Allgemeines Wahlrecht bedeutet nicht simples Politisieren, sondern Volksherrschaft in Staat und Gemeinde, also eine Regierung zugunsten des arbeitenden Volkes. [4]

Marx und Engels, die sich in hohem Maße auf die Erfahrungen der revolutionären Arbeiterbewegung in England stützten, identifizierten im Jahre 1848 das Problem der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat mit dem Problem der Organisation der folgerichtigen Demokratie. So heißt es im Kommunistischen Manifest, daß „der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“

Nach Ansicht Lenins wird die Frage des Staates im Kommunistischen Manifest noch äußerst abstrakt, in den allgemeinsten Ausdrücken und Wendungen gestellt. [5] Die Konkretisierung des Problems der Eroberung der Staatsgewalt beginne erst im Achtzehnten Brumaire, um im Bürgerkrieg in Frankreich, an Hand der Erfahrungen der Pariser Kommune ihre Vollendung zu finden. Im Prozeß dieser Konkretisierung, glaubt Lenin, habe sich jene Auffassung Marxens über die Diktatur des Proletariats herausgebildet, auf deren Boden gegenwärtig der Bolschewismus stehe.

Im Jahre 1852 schrieb Marx im Achtzehnten Brumaire über die Regierungsmaschinerie:

Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschinerie, statt sie zu brechen.

Am 12. April 1871 formulierte Marx in einem Brief an Kugelmann seine Anschauung über die Aufgaben der Umwälzung folgendermaßen:

Wenn Du das letzte Kapitel meines Achtzehnten Brumaire nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen. [6]

In diesem Sinne erklärte Marx im Bürgerkrieg in Frankreich die Kommune als eine „solche Form der Republik, die nicht nur die monarchistische Form der Klassenherrschaft beseitigen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst“. [7]

Was war die Kommune? Nichts anderes als ein Versuch, durch Zerstörung der alten, militärisch-bürokratischen Staatsmaschine real und konsequent einen demokratischen Staat aufzubauen, der sich vollkommen auf die Volksgewalt stützt. Solange Marx in seiner Apologie der Pariser Kommune von der Beseitigung der Bürokratie, der Polizei und der stehenden Armee, von der Wählbarkeit und Verantwortlichkeit aller Amtspersonen, von den umfassenden Kompetenzen der lokalen Selbstverwaltung, von der Vereinigung aller Gewalt in den Händen der Volksvertretung, von der Überbrückung des Gegensatzes zwischen Legislative und Exekutive durch Ersetzung des „sprechenden“ Parlaments durch eine „arbeitende“ Institution spricht, steht er auf dem Boden jener Auffassung der sozialen Umwälzung, die er im Kommunistischen Manifest vertrat, als er die Diktatur des Proletariats mit der „Erkämpfung der Demokratie“ identifizierte. Er ist deshalb durchaus konsequent, wenn er in dem oben zitierten Brief an Kugelmann schreibt, daß die „Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent nicht mehr wie bisher darin bestehe, die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“

Es ist von Interesse, die Erfahrungen, die Marx und Engels aus der Revolution von 1848 davontrugen, mit jenen Schlußfolgerungen zu vergleichen, zu denen der russische Schriftsteller Alexander Herzen gelangte. In seinen Briefen aus Frankreich und Italien schreibt er:

Die allgemeine Stimmabgabe ist unter einer monarchischen Staatsform, bei jener unsinnigen Teilung der Gewalten, mit der die Anhänger konstitutioneller Formen so sehr prahlten, bei einer religiösen Auffassung der Volksvertretung, bei einer polizeilichen Zentralisation des ganzen Staates in den Händen des Ministeriums, ein ebensolcher optischer Betrug wie die vom Christentum gepredigte Gleichheit. Es handelt sich keineswegs darum, daß man einmal im Jahre zusammenkommt, einen Abgeordneten wählt und dann zur leidenden Rolle des Untertans zurückkehrt; man hätte die ganze gesellschaftliche Hierarchie auf Wahlen aufbauen und der Gemeinde das Recht geben müssen, ihre Regierung zu wählen, dem Departement – die seinige; man hätte alle Prokonsuln beseitigen müssen, die ihre heiligen Würden auf Grund ministerieller Salbung erhalten; erst dann hätte das Volk in der Tat von seinen Rechten Gebrauch machen und außerdem in vernünftiger Weise seine Abgeordneten für das Parlament wählen können.“

Dagegen wollten die bürgerlichen Republikaner „die Städte und Gemeinden in vollster Abhängigkeit von der Exekutivgewalt erhalten und brachten den demokratischen Gedanken der allgemeinen Stimmabgabe nur gegenüber einem bürgerlichen Akt zur Anwendung“. [8]

Ebenso wie Marx lehnte Herzen im Namen einer wirklichen und konsequenten demokratischen Republik die bürgerliche pseudodemokratische Republik ab. Und ebenso wie Herzen griff Marx das allgemeine Wahlrecht als tiiigerisches Aushängeschild der von der Vergangenheit übernommenen monarchischen Staatsform an, und zwar im Namen einer Staatsform, die von oben bis unten auf dem allgemeinen Wahlrecht und der Vollcssouveränität aufgebaut war.

In seinem Kommentar zu diesen Äußerungen bemerkt Lenin in Staat und Revolution vollkommen zutreffend:

Das war begreiflich im Jahre 1871, als England noch das Muster eines Landes darstellte, das rein kapitalistisch war, aber keine Militärkaste und im wesentlichen keine Bürokratie aufwies. Deshalb schloß Marx England, wo eine Revolution und selbst eine Volksrevolution ohne vorherige Zertrümmerung der fertigen Staatsmaschine möglich erschien, aus der Regel aus.

Leider beeilte sich Lenin in seinen Schlußfolgerungen weiterzugehen, ohne über jene Fragen nachzudenken, die sich aus der von Marx gemachten Einschränkung ergeben. Nach den Worten Lenins hielt Marx Fälle für möglich, wo eine Volksrevolution die Zerstörung der fertigen Staatsmaschinerie nicht braucht, wo sie also diese Maschinerie benutzen kann, wenn sie nicht den für den europäischen Kontinent typischen Charakter einer militärisch-bürokratischen Maschine trägt. Es handelt sich hier also um jenen Ausnahmefall in dem allgemeinen Entwicklungsprozeß, wo im Rahmen des Kapitalismus und ungeachtet des Kapitalismus ein demokratischer Selbstverwaltungsapparat im Lande entstanden ist, den die militärisch-bürokratische Maschine nicht zu unterdrücken vermochte. In diesem Falle muß die Volksrevolution, nach Marx, nur von diesem Apparat Besitz ergreifen und ihn weiter entwickeln, um eine Staatsform ins Leben zu rufen, die für die Verwirklichung ihrer schöpferischen Aufgaben brauchbar ist.

Nicht umsonst haben Marx und Engels theoretisch die Möglichkeit anerkannt, daß die sozialistische Umwälzung in England sich auf friedlichem Wege vollziehen könne. Diese Auffassung stützt sich auf den demokratischen, entwicklungsfähigen Charakter des damaligen englischen Staates.

Seitdem ist viel Wasser ins Meer geflossen. Sowohl in England wie in den Vereinigten Staaten von Amerika hat der Imperialismus jene militäfisch-bürokratische Staatsmaschinerie geschaffen, deren Fehlen den grundlegenden Unterschied der politischen Entwicklung der angelsächsischen Staaten vom allgemeinen Typus der kapitalistischen Staaten zum Ausdruck brachte. Gegenwärtig ist der Zweifel berechtigt, ob diese charakteristischen Unterschiede auch in den jüngeren angelsächsischen Republiken, in Australien und Neuseeland, erhalten bleiben. „Jetzt“, bemerkte Lenin zutreffend, „ist die Zertrümmerung, die Zerstörung, die Zerstörung der fertigen Staatsmaschine auch in England und Amerika die Voraussetzung jeder wirklichen Volksrevolution.“

Die theoretische Möglichkeit erwies sich als nicht realisierbar. Aber schon die Anerkennung dieser theoretischen Möglichkeit deckt die wirklichen Anschauungen von Marx in voller Klarheit auf und läßt für willkürliche Auslegungen keinen Raum. Als Zerstörung der fertigen Staatsmaschine bezeichnete Marx sowohl im Achtzehnten Brumaire wie im Brief an Kugelmann die Zerstörung jenes militärisch-bürokratischen Apparates, den die bürgerlich-demokratische Ordnung von der Monarchie geerbt und im Prozeß der Befestigung der bürgerlichen Klassenherrschaft ausgebaut hatte. In den Äußerungen vom Marx findet sich kein Wort über die Zerstörung der staatlichen Organisation überhaupt, über die Ersetzung des Staates – auch in der Periode der Revolution, der Diktatur des Proletariats, – durch eine andere, dem Staat grundsätzlich entgegengesetzte gesellschaftliche Form. Einen solchen Wandel sahen Marx und Engels lediglich als Folge eines langdauernden Prozesses des „Absterbens“ des Staates, des Absterbens aller Funktionen des gesellschaftlichen Zwanges voraus, das das Ergebnis einer langwährenden Existenz der sozialistischen Gesellschaftsform sein wird.

Nicht umsonst sagt Engels in seiner vom 18. März 1891 datierten Einleitung zum Bürgerkrieg in Frankreich, der Staat sei „im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird, und dessen schlimmste Seiten es, ebenso wie die Kommune, nicht umhin können wird, sofern möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun. [9]

Der Sachverhalt ist demnach klar. Das Proletariat beschneidet die „schlimmsten Seiten“ des demokratischen Staates (Polizei, stehende Armee, selbstherrliche Bürokratie, überflüssige Zentralisation usw.), aber den demokratischen Staat selbst beseitigt es nicht, sondern schafft ihn vielmehr an Stelle der „fertigen bürokratisch-miitarischen Maschinerie“, die es zerbrechen muß.

Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen können unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution zeigt.

So schrieb Engels in seiner Kritik des Erfurter Programmentwurfes im Jahre 1891. [10] Engels spricht hier nicht von der „Sowjetrepublik“, die damals noch unbekannt war, auch nicht von der dem Staat gegenübergestellten republikanischen Kommune und der „Republik der TradeUnions“, wie sie Smith und Morrison oder den französischen Syndikalisten vorschwebte; er spricht klar und deutlich von der demokratischen Republik, d.h. von einem von oben bis unten demokratisierten Staat, diesem „Übel“, das dem Proletariat „vererbt“ wird.

Dieser Sachverhalt ist so klar und unzweideutig, daß Lenin es für notwendig erachtet, den Sinn der Engelsschen Worte sofort zu verdunkeln. Er schreibt unmittelbar nach Wiedergabe seiner Äußerungen:

Engels wiederholt hier in einer besonders anschaulichen Weise den Grundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Werke von Marx zieht, nämlich daß die demokratische Republik der nächste Weg zur Diktatur des Proletariats ist. Denn eine solche Republik, die in keiner Weise die Herrschaft des Kapitals und somit die Knechtung der Massen und den Klassenkampf beseitigt, führt unvermeidlich zu einer solchen Erweiterung, Entfaltung, Aufdeckung und Verschärfung dieses Kampfes, daß, wenn einmal die Möglichkeit kommt, die Hauptinteressen der geknechteten Massen zu befriedigen, diese Möglichkeit unvermeidlich und allein durch die Diktatur des Proletariats, unter der Führung dieser Massen durch das Proletariat, ermöglicht wird.

Engels spricht nicht, wie Lenin ihn kommentiert, von einem „Weg zur Diktatur“, sondern von der „spezifischen Form für die Diktatur des Proletariats“. Die Diktatur wird, nach Engels, in der demokratischen Republik realisiert. [11] Lenin betrachtet die demokratische Republik nur als Mittel, um den Klassenkampf bis zum Äußersten zu verschärfen, und dadurch das Proletariat vor die Aufgabe zu steilen, seine Diktatur zu verwirklichen. Deshalb ist die Ansicht Lenins begrefflich, daß die demokratische Republik, nachdem sie zur Diktatur des Proletariats geführt, selbst beim Akt ihrer Geburt stirbt. Engels dagegen ist der Ansicht, daß das Proletariat, nachdem es von der demokratischen Republik Besitz ergriffen und in ihr seine Diktatur verwirklicht hat, dadurch selbst die demokratische Republik befestigt, Ihr zum erstenmal einen wirklichen, allseitigen, konsequenten, demokratischen Charakter verleiht. Eben deshalb identifizierten Marx und Engels im Jahre 1848 die „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse“ mit der „Erkämpfung der Demokratie“. Und aus demselben Grunde unterstrich Marx im Bürgerkrieg in Frankreich den unbeschränkten Triumpf der Grundsätze der Volkssouveränität, des allgemeinen Wahlrechts der Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen in der Pariser Kommune. In seinem Vorwort zum Bürgerkrieg vom Jahre 1891 betonte Engels noch einmal:

Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andere Arbeiter empfingen. [12]

Das allgemeine Wahlrecht ist demnach ein „unfehlbares Mittel“ gegen die Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus „Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft“, und der vom Proletariat eroberte Staat kann in Form einer konsequent aufgebauten demokratischen Republik in einen wirklichen „Diener der Gesellschaft“ umgewandelt werden.

Ist es nicht offensichtlich, daß Engels, indem er sich in dieser Weise äußerte und zu gleicher Zeit eine solche demokratische Republik mit der Diktatur des Proletariats identifizierte. [12], diesen letzten Ausdruck nicht zur Charakteristik einer Regierungsform, sondern zur Kennzeichnung des sozialen Charakters der Staatsgewalt benutzte? Kautsky hat dies in seiner Schrift Demokratie oder Diktatur vollkommen richtig festgestellt, indem er bemerkte, daß Marx hier „nicht von einer Regierungsform, sondern einem Zustande sprach, der notwendigerweise überall eintreten müsse, wo das Proletariat die politische Macht erobert hat“. [13] Nur bei einer solchen Auffassung beseitigt man den schreienden Widerspruch, der aus den Sätzen von Marx entstehen könnte, daß einerseits in der Pariser Kommune die Diktatur des Proletariats verkörpert war, und daß andererseits die folgerichtige Demokratie von den Pariser Kommunarden verwirklicht wurde.

Das oben angeführte Zitat aus Lenins Staat und Revolution zeigt, daß auch dieser Autor, in den seltenen Momenten der geistigen Gemeinschaft mit den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus, fähig war, sich von der vereinfachten Auffassung der Klassendiktatur, von ihrer Reduktion zu den diktatorischen Formen der Organisation der Gewalt freizumachen, und sie als einen bestimmten „politischen Zustand“ zu erkennen. In dem angeführten Zitat setzt Lenin die Diktatur des Proletariats mit der Führung der Volksmassen durch das Proletariat gleich. Diese Identifizierung entspricht durchaus dem Geiste der Anschauungen von Marx und Engels. Gerade so schilderte Marx die Diktatur des Proletariats in der Pariser Kommune, indem er schrieb:

Und doch war dies die erste Revolution, in der die Arbeiter- Masse offen anerkannt wurde als die einzige Lasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war; anerkannt selbst durch die große Masse der Pariser Mittelklasse – Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute – die reichen Kapitalisten allein ausgenommen. [14]

Gerade die freiwillige Anerkennung der Führerschaft der den Kapitalismus bekämpfenden Arbeiterklasse ist die wichtigste Voraussetzung jenes „politischen Zustandes“, der als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet wird. Ebenso wie die freiwillige Anerkennung der Führerschaft der Bourgeoisie durch die breiten Volksmassen zu der Feststellung berechtigt, daß der zur Zeit in England, Frankreich oder Amerika herrschende Zustand als „Diktatur der Bourgeoisie“ bezeichnet werden kann. Und wenn diese Diktatur keineswegs dadurch verschwindet, daß die herrschende Bourgeoisie es als möglich erachtet, die von Ihr geführten bäuerlichen und kleinbäuerlichen Massen durch Gewährung des allgemeinen Wahlrechts mit der formalen Souveränität auszustatten, so kann andererseits auch jene Diktatur des Proletariats, von der Marx und Engels sprechen, auf dem Boden derselben Volkssouveränität und der umfassenden Anwendung des allgemeinen Wahlrechts verwirklicht. [15]

 

 

II

Faßt man alle angeführten Äußerungen von Marx und Engels über die Diktatur, die demokratische Republik und den „Staat als Übel“ zusammen, so muß man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß sie das Problem der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat auf die „Zerbrechung“ der bürokratisch-militärischen Maschinerie reduzierten, die ungeachtet des demokratischen Parlamentarismus den bürgerlichen Staat beherrscht, sowie auf den Aufbau einer eigenen neuen staatlichen Maschinerie mit Hilfe einer konsequent durchgeführten Demokratie des allgemeinen Wahlrechts und einer umfassenden Selbstverwaltung, unter der Voraussetzung, daß das Proletariat de facto die Führung der Volksmehrheit in Händen hat. Insofern setzen Marx und Engels die politische Tradition der Montagnards von 1793 und der Chartisten vom Schlage O’Briens fort, und bauen sie weiter aus.

Es unterliegt aber auch keinem Zweifel, daß in den politischen Schriften von Marx und Engels Spuren eines anderen Ideenkreises zu finden sind, auf die man sich bei dem Versuch stützen kann, jenen Formen und Institutionen, in denen sich die politische Macht des Proletariats äußern muß, einen Charakter zu verleihen, der den Formen und Institutionen, in denen sich die politische Herrschaft der Bourgeoisie verwirklicht, die dem Staat als solchem prinzipiell entgegengesetzt sind.

Die Proudhonisten und Anarchisten, die mit den Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung schlecht vertraut waren, stellten sich den Übergang der Produktionsmittel in die Hände der Arbeiterklasse sehr naiv und einfach vor. Sie sahen nicht, daß der Kapitalismus einen so gewaltigen Mechanismus der konzentrierten Produktion und des Austausches geschaffen hatte, daß die Arbeiterklasse ihn nicht unter Ihre Gewalt bringen kann, ohne eine ebenso gewaltige Maschinerie der Verwaltung zu ihrer Verfügung zu haben, die sich auf das gesamte, vom Kapital vereinigte ökonomische Gebiet erstreckt. Nur weil sie die ganze Kompliziertheit und den gewaltigen Umfang der sozialrevolutionären Umwälzung nicht erkannten, konnten sie die sich selbst genügende „Kommune“, die sich ihrerseits auf „autonome“ Produktionseinheiten stützte, als einen Hebel dieser Umwälzung betrachten.

Marx war natürlich besser als jeder andere unterrichtet, welche entscheidende Rolle die anarcho-proudhonistischen Anschauungen in der Bewegung der Pariser Kommune spielten. Schon im Jahre 1866 ironisierte er in seinem Brief an Engels vom 30. Juni den „proudhonisierten Stirnerianismus“, der danach strebt, „alles aufzulösen in kleine ‚groupes‘ oder ‚communes‘, die wieder einen ‚Verein‘ bilden, aber keinen Staat“. [16]

Im Jahre 1871 jedoch betrachtete Marx es als seine Aufgabe, die Pariser Kommune vor ihren Todfeinden, die blutige Rache an Ihr nahmen, zu verteidigen und ihr Werk zu rechtfertigen als den ersten Versuch des Proletariats, die Macht zu erobern, – als einen Versuch, der, wenn er nicht in seinen ersten Anfängen durch äußere Kraft unterdrückt worden wäre, die Arbeiterklasse unvermeidlich über die ursprünglich gestellten Ziele hinausgeführt und den Ideenkreis zerbrochen hätte, der den Schwung der proletarischen Revolution hemmte und ihren Inhalt verzerrte.

Es ist deshalb begreiflich, daß Marx in seiner Apologie der Kommune nicht einmal die Frage aufrollte, ob die Verwirklichung des Sozialismus im Rahmen autonomer städtischer und dörflicher Kommunen möglich sei. Selbst bei dem damaligen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, der Arbeitsteilung und der Zentralisierung des Wirtschaftslebens hätte die Aufrollung dieser Frage zur kategorischen Ablehnung der Vorstellung geführt, daß die Kommune die soziale Frage autonom lösen könne. Es ist verständlich, daß er die Frage umging, ob auf der vom Kapitalismus vorbereiteten breiten Grundlage eine planmäßige gesellschaftliche Produktion durch ein föderalistisches Band zwischen den Kommunen gesichert werden könne; daß er nur flüchtig eines der wichtigsten Probleme der sozialen Revolution – das Problem der gegenseitigen Beziehungen zwischen Stadt und Land – streifte, als er ohne jede nähere Begründung behauptete, die Kommunalverfassung hätte „die ländlichen Produzenten unter die geistige Führung der Bezirkshauptstädte gebracht und ihnen dort in den städtischen Arbeitern die natürlichen Vertreter ihrer Interessen gesichert“, während es sich im Gegenteil um die Frage handelte, ob eine sozialistische Wirtschaft, die die ökonomische Leitung des Dorfes durch die Stadt voraussetzt, in den Rahmen einer Föderation autonomer Kommunen hineingestellt werden könne.

Alle diese Fragen konnte Marx beiseite schieben in der Annahme, daß sie im Gange der sozialen Revolution von selbst ihre Lösung finden und die anarcho-kommunistischen Illusionen, mit denen die Arbeiter diese Revolution begonnen hatten, hinter sich lassen würden.

Marx verschwieg aber nicht nur diese Widersprüche der Pariser Kommune. Darüber hinaus machte er den Versuch, diese Widersprüche zu lösen, indem er die Kommune als „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, proklamierte. Damit setzte er sich in Widerspruch zu seinen eigenen Anschauungen über die Eroberung der Staatsgewalt als eines Hebels der sozialen Revolution. Marx führte im Bürgerkrieg aus:

Die Kommunalverfassung würde ... dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswucks „Staat“, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat ... Das bloße Bestehen der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die jetzt überflüssig gemachte Staatsmacht.

Hier hat sich also die Zerbrechung der bürokratisch-militärischen Maschinerie, über die Marx in seinem Brief an Kugelmann schreibt, unmerklich in die Aufhebung jeder Staatsgewalt, jedes Zwangsapparates der Verwaltung, und die Zertrümmerung der gegenwärtigen Formen der Staatsgewalt auf dem europäischen Kontinent in eine Auflösung des Staates als solchen verwandelt.

Haben wir es hier mit einer absichtlich verschleierten Formulierung zu tun, die Marx die Möglichkeit gab, im Augenblick der Blutorgien der Reaktion die schwachen Seiten der Kommune zu übergehen? Oder hatte der mächtige Vorstoß des Pariser revolutionären Proletariats, der sich unter dem Banner der Kommune vollzog, es für Marx möglich gemacht, einige politische Ideen der Proudhonisten zu akzeptieren? Jedenfalls erblickten Bakunin und seine Freunde in Marx’ Bürgerkrieg in Frankreich eine Anerkennung der Richtigkeit der Anschauungen, die sie hinsichtlich des Weges der sozialen Revolution vertraten. Guillaume konstatierte in seinen Erinnerungen mit Befriedigung, daß der Generalrat der Internationale (in dessen Namen der Bürgerkrieg veröffentlicht wurde) sich bei der Würdigung der Kommune auf den Standpunkt der Föderalisten gestellt hatte. Bakunin jedoch triumphierte: „Der Effekt des Kommuneaufstandes – schrieb er – war so groß, daß selbst die Marxisten, deren Ideen durch diesen Aufstand umgestoßen wurden, sich genötigt sahen, sich vor ihm zu verbeugen und, entgegen aller Logik und ihren wirklichen Stimmungen, seine Ziele und sein Programm als ihr eigenes auszugeben.“ In diesen Worten steckt natürlich viel polemische Übertreibung, aber ein Körnchen Wahrheit ist doch in ihnen enthalten.

Nun haben gerade diese keineswegs sehr klaren Äußerungen von Marx über die Zerstörung des Staates durch den Aufstand des Proletariats und die Schaffung der Kommune im Sommer 1917 als Grundlage für jenes neue Evangelium gedient, das Lenin hinsichtlich der Aufgaben der sozialen Revolution der Welt verkündete. Auf diesen Äußerungen von Marx richtete er ein anarcho-synndikalistisches Schema der Zerstörung des Staates auf, das dadurch verwirklicht wird, daß das Proletariat die Diktatur erobert und a die Stelle des Staates jene „endlich entdeckte“ politische Form setzt, a welche 1871 die Kommune galt, und die nun in Form der „Sowjets“ verwirklicht sei, nachdem die „russischen Revolutionen von 1905 und 1917 unter anderen Umständen, unter anderen Bedingungen das Werk der Kommune fortsetzen und die geniale historische Analyse von Marx bestätigen“. [17]

Schon im Jahre 1899 hatte Eduard Bernstein in seinen Voraussetzungen des Sozialismus darauf hingewiesen, daß Marx sich in seinen Bürgerkrieg Proudhon genähert hat: „Bei allen sonstigen Verschiedenheiten zwischen Marx und dem ‚Kleinbürger‘ Proudhon ist in dieser Punkten der Gedankengang bei ihnen so nahe wie nur möglich.“ Diese Worte Bernsteins erweckten den höchsten Zorn Lenins. Die Äußerungen des „Renegaten“ Bernstein seien lächerlich, ungeheuerlich. Bei dieser Gelegenheit werden auch Plechanow und Kautsky beschimpft, weil sie während ihrer Auseinandersetzungen mit Bernstein „über diese Entstellung von Marx durch Bernstein“ kein Wort gesagt hätten. [18]

Lenin hätte außer Kautsky und Plechanow auch den „Spartakisten“ Mehring, sicherlich den besten Kenner und Kommentator von Marx, beschimpfen können. In seiner kurz vor seinem Tode herausgegebenen Marx-Biographie schreibt Mehring hinsichtlich der Äußerungen von Marx über die Kommune folgendes:

So geistreich diese Ausführungen im einzelnen waren, so standen sie doch in einem gewissen Widerspruch mit den Ansichten, die Marx und Engels seit einem Vierteljahrhundert vertreten und schon im Kommunistischen Manifest verkündet hatten. Dieser ihrer Auffassung gemäß gehörte zu den schließlicken Folgen der künftigen proletarischen Revolution allerdings die Auflösung der mit dem Namen Staat bezeichneten politischen Organisationen, aber doch nur die allmähliche Auflösung. Der Hauptzweck dieser Organisation war von jeher, die ökonomische Unterdrückung der arbeitenden Mehrzahl durch die ausschließlich begüterte Minderzahl durch bewaffnete Gewalt sicherzustellen Mit dem Verschwinden einer ausschließlich begüterten Minderzahl verschwindet auch die Notwendigkeit einer bewaffneten Unterdrückungs oder Staatsgewalt. Gleichzeitig aber betonten Marx und Engels, daß, um zu diesem und den anderen weit wichtigeren Zielen der künftigen sozialen Revolution zu gelangen, die Arbeiterklasse zuerst die organisierte politische Gewalt des Staates in Besitz nehmen, mit ihrer Hilfe den Widerstand der Kapitalistenklasse niederstampfen und die Gesellschaft neu organisieren müsse. Mit dieser Auffassung des Kommunistischen Manifestes ließ sich aber das Lob nicht vereinigen, das die Adresse des Generalrates der Pariser Kommune spendete, weil sie damit begonnen habe, den Schmarotzer Staat mit Stumpf und Stiel auszurotten. [19]

Mehring findet es „begreiflich genug, daß die Anhänger Bakunins in ihrer Weise die Adresse des Generalrats verwerteten.“ Er glaubt auch, daß Marx und Engels sich über den Widerspruch zwischen den im Bürgerkrieg niedergelegten Sätzen und ihren früheren Anschauungen über die Frage der Eroberung der Staatsgewalt vollkommen im klaren waren. „Später – schreibt Mehring – hat wenigstens Engels, nach dem Tode von Marx, im Kampfe mit anarchistischen Richtungen diesen Vorbehalt wieder fallen lassen und ganz die alten Anschauungen des Manifestes wiederholt.“

Jene „alten Anschauungen des Manifestes“ bestanden aber darin, daß die Arbeiterklasse von der Staatsmaschine, die die Bourgeoisie geschaffen hatte, Besitz ergreift, sie von oben bis unten demokratisiert (siehe die nächsten Forderungen, die das Proletariat nach Eroberung der Macht laut dem Kommunistischen Manifest zu verwirklichen hat) und sie dadurch aus einer Maschine zur Unterdrückung der Mehrheit durch eine Minderheit in eine solche zur Unterdrückung der Minderheit durch eine Mehrheit, zur Befreiung dieser Mehrheit von der sozialen Ungleichheit verwandelt. Das bedeutet auch, wie Marx im Jahre 1872 schrieb, daß „die Arbeiterklasse die fertige Staatsmaschine nicht einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen könne“, sondern daß diese bürokratisch-polizeilich-militärische Maschine zerschlagen werden müsse, damit auf dem Boden der Selbstverwaltung des Volkes unter der Leitung des Proletariats eine neue Staatsmaschine aufgerichtet werden kann.

Die unklaren Formulierungen im Bürgerkriege, die für den Generalrat der Internationale durch das praktische Bedürfnis notwendig geworden waren, das Werk der von Proudhonisten und Hebertisten geleiteten Kommune vor den Angriffen der Feinde zu verteidigen, wurden von Lenin ausgenutzt, um am Vorabend der bolschewistischen Novemberrevolution von 1917, im Kampfe gegen die demokratisch-republikanischen Bestrebungen und Parolen der sozialistischen Parteien hinsichtlich der Begriffe über „Staat und Revolution“ so viel Widersprüche aufzutürmen, wie sie insgesamt in den Köpfen aller Mitglieder der Kommune: der Jakobiner, Blanquisten, Hebertisten, Proudhonisten und Anarchisten zu finden waren. Ohne daß sich Lenin wahrscheinlich dieser Tatsache bewußt war, war dies objektiv notwendig, um den Versuch der Schaffung einer Staatsmaschine, die nach ihrer ganzen Struktur der in den Händen einer kleinen Partei befindlichen militärisch-btirokratischen Maschine der früheren Zeit äußerst ähnlich war [20], den im Zustande der revolutionären Gärung und der Staatszerstörung befindlichen Massen als den Beginn eines staatenlosen Zustandes darzustellen, der auf ein Minimum des Zwanges und der Disziplin begründet war. In einem Augenblick, wo die fortgeschrittensten revolutionären Massen ihre Befreiung von den durch Jahrhunderte geheiligten Ketten des alten Staates darin zum Ausdruck brachten, daß sie selbständige „Kronstädter Republiken“ gründeten, rein anarchistische Versuche einer „Arbeiterkontrolle“ unternahmen und ähnliches mehr, konnte die „Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft“ in Form einer tatsächlichen Diktatur der Vertreter des bolschewistischen Kommunismus nur dadurch festen Fuß fassen, daß sie sich in diese anarchistische staatsfeindliche Ideologie hüllte. Die Formel: „Alle Macht den Räten!“ erwies sich als die geeignetste, um in mystischer Form das widerspruchsvolle Streben der revolutionären Elemente des Volkes zum Ausdruck zu bringen, eine Maschine zu schaffen, die in ihrem Interesse die ausbeutenden Klassen unterdrückte, und gleichzeitig sich von jeder Staatsmaschine zu befreien, die für sie die Notwendigkeit bedeutet hätte, ihren Einzel- oder Gruppenwillen dem Willen der Gesamtheit zu unterordnen.

Ähnlich ist der Ursprung und die Bedeutung des „Sowjetmystizismus“ auf der gegebenen Stufe der Revolution in den westeuropäischen Ländern, nachdem in Rußland selbst die Evolution des „Sowjetstaates“ bereits zur Schaffung einer neuen, äußerst komplizierten Staatsmaschine geführt hat, die genau so wie der kapitalistische Klassenstaat auf der Trennung der Funktionen der „Verwaltung der Menschen“ und der „Verwaltung der Dinge“, auf dem Gegensatz zwischen „Verwaltung“ und „Selbstverwaltung“, auf der Gegnerschaft zwischen Beamten und Bürgern begründet ist.

Der ökonomische Rückschritt während des Krieges, der das Wirtschaftsleben in allen Ländern vereinfachte, und im Bewußtsein der Massen die Fragen der Organisation der Produktion durch die Frage über die Gleichmäßigkeit der Verteilung und des Konsums verdunkelte, fördert das Wiederauftauchen von Illusionen in der Arbeiterklasse, daß es möglich sei, über den Staat hinweg, die Volkswirtschaft durch unmittelbaren Übergang der Produktionsmittel in die Verwaltung einzelner Arbeitergruppen („Arbeiterkontrolle“, „sofortige Sozialisierung“ usw.) in die Hand zu bekommen.

Auf dem Boden dieser neu erstehenden ökonomischen Illusionen taucht wiederum die Illusion auf, daß es möglich sei, die Freiheit der arbeitenden Klasse nicht durch Eroberung des Staates, sondern durch seine Zerstörung zu verwirklichen [21] Durch diese und ähnliche Illusionen wird die revolutionäre Arbeiterbewegung zu jener „Konfusion“, zu jener Unklarheit und gedanklichen Unreife zurückgeworfen, die sie zur Zeit der Kommune 1871 aufwies.

Indem die extremen Minderheiten des sozialistischen Proletariats teilweise diese Illusionen, diese gedankliche Unreife ausnutzen, teilweise selbst unter ihre Gewalt geraten, suchen sie in der Praxis die schwere Frage zu umgehen, wie die tatsächliche Diktatur einer Klasse zu verwirklichen ist, nachdem diese in der Krise des Weltkrieges ihre innere Einheit eingebüßt und infolgedessen die Fähigkeit zum unmittelbaren Kampfe für revolutionäre Ziele verloren hat. Letzen Endes verhüllt die anarchistische Illusion der Zerstörung des Staates das Bestreben, die gesamte Zwangsgewalt des Staates in den Händen einer proletarischen Minderheit zu vereinigen, die der objektiven Logik der Revolution und dem Klassenbewußtsein der Mehrheit des Proletariats und des Volkes mißtraut. Die Idee des grundsätzlichen Bruches mit allen früheren bürgerlichen Formen der Revolution – in Form der Verwirklichung des „Sowjetsystems“ – ist folglich nichts anderes als die äußere Hülle für eine durch äußere Umstände und durch den inneren Zustand des Proletariats erzwungene Taktik, die im Kampfe um die Macht dieselben Methoden anwendet, die für die bürgerlichen Revolutionen charakteristisch waren, die sich stets durch Übergang der Gewalt von einer „sich auf die unbewußte Mehrheit stützenden bewußten Minderheit“ zu anderen vollzogen.

 

 

Fußnoten

1. In den nachgelassenen Schriften von J. Martow fand sich eine leider unvollendet gebliebene theoretische Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus, die kürzlich russisch unter dem Titel Der Weltbolschewismus von Th. Dan im Verlage Iskra, Berlin, herausgegeben worden ist. Wir geben aus dieser Abhandlung den folgenden Abschnitt wieder.

2. M. Beer, Geschichte des Sozialismus in England, J.H.W. Dietz, Stuttgart 1913, S. 265.

3. ibid., S. 266.

4. ibid., S. 264.

5. Lenin, Staat und Revolution.

6. Neue Zeit, XX. Jahrgang, Bd. 1, S. 709

7. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Berlin 1891, S. 45

8. Alexander Herzen, Gesammelte Werke, Bd. V., S. 122/23, Petersburg, Verlag Pawlwnkow (russisch)

9. Marx, a. a. O., S. 13.

10. Neue Zeit, XX. Jahrg., Bd. 1, S. 11.

11. Engels geht freilich nicht so weit wie der deutsche Kommunistenführer Brandler, der vor Gericht erklärte, daß die Diktatur des Proletariats in Deutschland ohne Änderung seiner jetzigen Verfassung verwirklicht werden könnte.

12. Engels, a. a. O., S. 13.

13. Karl Kautsky, Demokratie oder Diktatur, Verlag Paul Cassirer, Berlin 1919, S. 22.

14. Marx, a. a. O., S. 51.

15. G. Plechanow hat bekanntlich im Jahre 1903 erklärt, daß das revolutionäre Proletariat, nach Verwirklichung seiner Diktatur, es als notwendig erachten könne, der Bourgeoisie alle politischen Rechte, darunter auch das Wahlrecht, zu nehmen. Indessen war dies für Plechanow nur eine der bei der Diktatur des Proletariats eintretenden Möglichkeiten, keineswegs aber ihre unvermeidliche Folge. In meiner Broschüre Der Kampf gegen den Belagerungszustand in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands versuchte ich die angeführten Worte Plechanows lediglich als ein logisch denkbares Beispiel auszulegen, das seinen Grundsatz illustrierte, daß das Wohl der Revolution das höchste Gesetz sei, dem alle anderen Erwägungen untergeordnet weiden müßten. Ich sprach gleichzeitig den Gedanken aus, daß auch Plechanow nicht der Ansicht sei, das Proletariat der für den Sozialismus ökonomisch reifen Länder könne in eine solche Lage geraten, daß es nach Eroberung der Staatsgewalt sich nicht allein auf die freiwillige Anerkennung seiner Führerschaft durch die Mehrheit des Volkes stützen, sondern die politische Entrechtung der bürgerlichen Mehrheit brauchen würde. In einem Gespräch mit mir äußerte Plechanow seine Unzufriedenheit über eine solche Auslegung seiner Worte, und ich erkannte damals, daß seine Auffassung der Diktatur des Proletariats einzelne Züge aufwies, die an die jakobinische Diktatur einer revolutionären Minderheit erinnerten.

16. Briefwechsel, Bd. III, S. 328.

17. Lenin, Staat und Revolution, S. 47.

18. Lenin, a. a. O., S. 43.

19. F. Mehring, Karl Marx, Leipzig 1918, S. 460.

20. Denken wir an den Ausspruch Lenins, daß wenn es 200.000 Junkern möglich war, ein ungeheures Reich in ihrem Interesse zu regeren, es 200.000 Bolschewisten möglich sein werde, diese Arbeit im Interesse der Arbeiter und Bauern zu bewältigen.

21. In den Papieren Martows fand sich folgende Variation desselben Absatzes:

Auf dem Boden dieser neu erstehenden ökonomischen Illusionen taucht wiederum jene kommunalistische Ideologie auf, die durch die Entwicklung der Arbeiterbewegung seit 1871 bereits überwunden wurde. Hierbei sind in dieser Ideologie, ebenso wie in der Pariser Kommune, zwei Tendenzen vereint: Einerseits versuchen die Massen, die durch den Zerfall des Sozialismus während des Krieges jene innere Geschlossenheit und Organisation eingebüßt haben, die zur Besitzergreifung der gesamten Staatsmaschine notwendig sind, das Problem der Zerstörung der politischen Macht der Bourgeoisie zu lösen, indem sie sich in autonomen und miteinander frei sich vereinigenden städtischen Kommunen „verschanzen“. Ebenso wie die Pariser Arbeiter im Jahre 1871 stellen sich die kommunistisch gestimmten Arbeiter in Berlin, Leipzig, München, Zürich oder Stockholm im Jahre 1919 nicht die Frage, ob die konsequente Durchführung der Parole „Alle Macht den Räten!“ nicht einen solchen politischen Abgrund zwischen Stadt und Land, zwischen den industriellen Zentren und den kleinbürgerlichen Provinzen aufreißen würde, daß die Schaffung einer einheitlichen kollektivistischen Wirtschaft dadurch verhindert würde.

Andererseits neigen dieselben Massen, die die reale Macht ihrer unmittelbaren revolutionären Vereinigung in den großen Zentren überschätzen und die Macht und die Bedeutung aller sozialen Kräfte, mit denen man im Prozeß der Umwälzung zu tun hat, nicht erfassen, leicht dahin, daß sie die Diktatur dieser Zentren über das ganze Land, die „hebertistische“ Diktatur der großstädtischen Kommunen über das ganze Reich als notwendig erachten.

Max Adler hat vollkommen recht, wenn er in einem seiner Aufsätze über die Probleme der sozialen Revolution (in der Wiener Arbeiterzeitung) zu der Schlußfolgerung gelangt, es genüge schon, wenn die Bauernschaft sich vom Sozialismus abseits hält, um zu sagen, daß die Parole der Sowjetregierung entweder die nackte Gewalt über die Bauern oder die Koalition mit den Bauern bedeute.


Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2018