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Die erste Periode der russischen Revolution von deren Ausbruch im März bis zum Oktoberumsturz entspricht in ihrem allgemeinen Verlauf genau dem Entwicklungsschema sowohl der großen englischen wie der großen französischen Revolution. Er ist der typische Werdegang jeder ersten großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der alten Gesellschaft.
Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie: von gemäßigten Anfängen zu immer größerer Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.
Im ersten Moment im März 1917 standen an der Spitze der Revolution die „Kadetten“, d. h. die liberale Bourgeoisie. Der allgemeine erste Hochgang der revolutionären Flut riß alle und alles mit: die vierte Duma, das reaktionärste Produkt des aus dem Staatsstreich [1] hervorgegangenen Vierklassenwahlrechts [2], verwandelte sich plötzlich in ein Organ der Revolution. Sämtliche bürgerlichen Parteien, einschließlich der nationalistischen Rechten, bildeten plötzlich eine Phalanx gegen den Absolutismus. Dieser fiel auf den ersten Ansturm fast ohne Kampf, wie ein abgestorbenes Organ, das nur angerührt zu werden brauchte, um dahin zu fallen. Auch der kurze Veruch der liberalen Bourgeoisie, wenigstens die Dynastie und den Thron zu retten, zerschnellte in wenigen Stunden. Der reißende Fortgang der Entwicklung übersprang in Tagen und Stunden Strecken, zu denen Frankreich einst Jahrzehnte brauchte. Hier zeigte sich, daß Rußland die Resultate der europäischen Entwicklung eines Jahrhunderts realisierte und vor allem – daß die Revolution des Jahres 1917 eine direkte Fortsetzung der von 1905–1907, nicht ein Geschenk der deutschen „Befreier“ war. Die Bewegung im März 1917 knüpfte unmittelbar dort an, wo sie vor zehn Jahren ihr Werk abgebrochen hatte. Die demokratische Republik war das fertige, innerlich reife Produkt gleich des ersten Ansturms der Revolution.
Jetzt begann aber die zweite, schwierige Aufgabe. Die treibende Kraft der Revolution war vom ersten Augenblick an die Masse des städtischen Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stürzte sich die Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob. Sofortiger Frieden und Land – mit diesen beiden Zielen war die innere Spaltung der revolutionären Phalanx gegeben. Die Forderung des sofortigen Friedens setzte sich in schärfsten Widerspruch mit der imperialistischen Tendenz der liberalen Bourgeoisie, deren Wortführer Miljukow war [3]; die Landfrage war das Schreckgespenst zunächst für den anderen Flügel der Bourgeoisie: für das Landjunkertum, sodann aber, als Attentat auf das heilige Privateigentum überhaupt, ein wunder Punkt für die gesamten bürgerlichen Klassen.
So begann am andern Tage nach dem ersten Siege der Revolution ein innerer Kampf in ihrm Schoße um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage. Die liberale Bourgeoisie begann eine Taktik der Verschleppung und der Ausflüchte. Die Arbeitermassen, die Armee, das Bauerntum drängten immer ungestümer. Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit der Frage des Friedens und der Landfrage auch die Schicksale selbst der politischen Demokratie der Republik verknüpft waren. Die bürgerlichen Klassen, die, von der ersten Sturmwelle der Revolution überspült, sich bis zur republikanischen Staatsform hatten mit fortreißen lassen, begannen alsbald nach rückwärts Stützpunkte zu suchen und im Stillen die Konterrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen Petersburg [4] hat dieser Tendenz deutlichen Ausdruck gegeben. Wäre dieser Vorstoß von Erfolg gekrönt gewesen, dann war nicht nur die Friedens- und die Agrarfrage, sondern auch das Schicksal der Demokratie, der Republik selbst besiegelt. Militärdiktatur mit einer Schreckensherrschaft gegen das Proletariat und dann Rückkehr zur Monarchie wären die unausbleibliche Folge [gewesen].
Daran kann man das Utopische und im Kern Reaktionäre der Taktik ermessen, von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die Menschewiki, leiten ließen.
Es ist geradezu erstaunlich, zu beobachten, wie dieser fleißige Mann [5] in den vier Jahren des Weltkriegs durch seine unermüdliche Schreibarbeit ruhig und methodisch ein theoretisches Loch nach dem anderen in den Sozialismus reißt, eine Arbeit, aus der der Sozialismus wie ein Sieb ohne eine heile Stelle hervorgeht. Der kritiklose Gleichmut, mit dem seine Gefolgschaft dieser fleißigen Arbeit ihres offiziellen Theoretikers zusieht und seine immer neue Entdeckungen schluckt, ohne mit der Wimper zu zucken, findet nur ihre Analogie in dem Gleichmut, mit dem die Gefolgschaft der Scheidemann und Co. zusieht, wie diese letzteren den Sozialismus praktisch Schritt für Schritt durchlöchern. In der Tat ergänzen sich die beiden Arbeiten vollkommen, und Kautsky, der offizielle Tempelwächter des Marxismus, verrichtet seit Ausbruch des Krieges in Wirklichkeit nur theoretisch dasselbe, was die Scheidemänner praktisch: 1. die Internationale, ein Instrument des Friedens; 2. Abrüstung und Völkerbund, Nationalismus; endlich Demokratie, nicht Sozialismus.
In die Fiktion von dem bürgerlichen Charakter der russischen Revolution festgebissen – dieweil ja Rußland für die soziale Revolution noch nicht reif sei – klammerten sie sich verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen, d. h. an die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die, durch den natürlichen inneren Gang der revolutionären Entwicklung gespalten, in schärfsten Widerspruch zueinander geraten waren. Die Axelrod und Dan wollten um jeden Preis mit denjenigen Klassen und Parteien zusammenarbeiten, von denen der Revolution und ihrer ersten Errungenschaft, der Demokratie, die größten Gefahren drohten.
In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten und die Revolution vorwärts treiben konnte. Die ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- und Bauernmasse, in die Hände der Sowjets – dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit, in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich, womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpaß hinausgeführt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren Entfaltung geöffnet wurde.
Die Lenin-Partei war somit die einzige in Rußland, welche die wahren Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff, sie war ihr vorwärtstreibendes Element, als in diesem Sinne die einzige Partei, die wirklich sozialistische Politik treibt.
Dadurch erklärt sich auch, daß die Bolschewiki, im Beginn der Revolution eine von allen Seiten verfemte, verleumdete und gehetzte Minderheit, in kürzester Zeit an die Spitze der Revolution geführt wurden und alle wirklichen Volksmassen: das städtische Proletariat, die Armee, das Bauerntum, sowie die revolutionären Elemente der Demokratie, den linken Flügel der Sozialisten-Revolutionäre, unter ihrer Fahne sammeln konnten.
Die wirkliche Situation der russischen Revolution erschöpfte sich nach wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt und die sich in Rußland aus den konkreten brennenden Fragen nach dem Frieden und der Landfrage ergab, für die im Rahmen der „bürgerlichen“ Revolution keine Lösung vorhanden war.
Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muß sie sehr rasch und entschlossen vorwärtsstürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt. Ein Stillstehen, ein Trippeln auf demselben Fleck, ein Selbstbescheiden mit dem ersten einmal erreichten Ziel gibt es in der Revolution nicht. Und wer diese hausbackenen Weisheiten aus den parlamentarischen Froschmäusekriegen auf die revolutionäre Taktik übertragen will, zeigt nur, daß ihm die Psychologie, das Lebensgesetz selbst der Revolution ebenso fremd wie alle historische Erfahrung ein Buch mit sieben Siegeln ist.
Der Verlauf der englischen Revolution seit ihrem Ausbruch 1642. Wie die Logik der Dinge dazu trieb, daß erst die schwächlichen Schwankungen der Presbyterianer, der zaudernde Krieg gegen die royalistische Armee, in dem die presbyterianischen Häupter einer entscheidenden Schlacht und einem Siege über Karl I. geflissentlich auswichen, es zur unabweisbaren Notwendigkeit machten, daß die Independenten sie aus dem Parlament vertrieben und die Gewalt an sich rissen. Und ebenso war es weiter innerhalb des Independenten-Heeres die untere kleinbürgerliche Masse der Soldaten, die Lilburnschen „Gleichmacher“, die die Stoßkraft der ganzen Independentenbewegung bildeten, sowie endlich die proletarischen Elemente der Soldatenmasse, die in der Digger-Bewegung ihren Ausdruck fanden, ihrerseits den Sauerteig der demokratischen „Gleichmacher“-Partei darstellten.
Ohne die geistige Wirkung der revolutionären proletarischen Elemente auf die Soldatenmasse, ohne den Druck der demokratischen Soldatenmasse auf die bürgerliche Oberschicht der Independentenpartei wäre es weder zur „Reinigung“ des Langen Parlamentes von den Presbyterianern noch zur siegreichen Beendigung des Krieges mit dem Heer der Kavaliere und mit den Schotten, noch zum Prozeß und zur Hinrichtung Karls I., noch zur Abschaffung der Lordskammer und zur Proklamierung der Republik gekommen.
Wie war es in der großen französischen Revolution? Die Machtergreifung der Jakobiner erwies sich hier nach vierjährigen Kämpfen als das einzige Mittel, die Errungenschaften der Revolution zu retten, die Republik zu verwirklichen, den Feudalismus zu zerschmettern, die revolutionäre Verteidigung nach innen wie nach außen zu organisieren, die Konspiration der Konterrevolution zu erdrücken, die revolutionäre Welle aus Frankreich über ganz Europa zu verbreiten.
Kautsky und seine russischen Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution ihren „bürgerlichen Charakter“ der ersten Phase bewahrt wissen wollten, sind ein genaues Gegenstück zu jenen deutschen und englischen Liberalen des vorigen Jahrhunderts, die in der großen französischen Revolution die zwei Phasen unterschieden: die „gute“ Revolution der ersten girondistischen Phase und die „schlechte“ seit dem jakobinischen Umsturz. Die liberale Seichtheit der Geschichtsauffassung brauchte natürlich nicht zu begreifen, daß ohne den Umsturz der „maßlosen“ Jakobiner auch die ersten zaghaften und halben Errungenschaften der ersten girondistischen Phase alsbald unter den Trümmern der Revolution begraben worden wären, daß die wirkliche Alternative zu der Jakobiner-Diktatur, wie sie der eherne Gang der geschichtlichen Entwicklung im Jahre 1793 stellte, nicht die „gemäßigte“ Demokratie war, sondern – Restauration der Bourbonen! Der „goldene Mittelweg“ läßt sich eben in keiner Revolution aufrechterhalten, ihr Naturgesetz fordert eine rasche Entscheidung: entweder wird die Lokomotive volldampf den geschichtlichen Anstieg bis zum äußersten Punkt vorangetrieben, oder sie rollt durch die eigene Schwerkraft wieder in die Ausgangsniederung zurück und reißt diejenigen, die sie auf halbem Wege mit ihren schwachen Kräften aufhalten wollten, rettungslos in den Abgrund mit.
Dadurch erklärt sich, daß in jeder Revolution nur diejenige Partei die Führung und die Macht an sich zu reißen vermag, die den Mut hat, die vorwärtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Daraus erklärt sich die klägliche Rolle der russischen Menschewiki, der Dan, Zereteli u. a., die, anfänglich von ungeheurem Einfluß auf die Massen, nach längerem Hin- und Herpendeln, nachdem sie sich gegen die Übernahme der Macht und Verantwortung mit Händen und Füßen gesträubt hatten, ruhmlos von der Bühne weggefegt worden sind.
Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution gesichert hat.
Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der „Mehrheit des Volkes“ gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine „Mehrheit“. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d. h. vorwärtszutreiben versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mußten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht.
Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.
Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.
1. Die zaristische Regierung hatte am 3. Juni 1907 die II. Reichsduma aufgelöst und die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion verhaften lassen. Gleichzeitig führte sie, ohne Zustimmung der Reichsduma einzuholen, ein neues Wahlgesetz ein. Dieser Staatsstreich ermöglichte es der Regierung, in der Duma eine rechtsgerichtete Mehrheit zu behaupten und die 1912 gewählte IV. Reichsduma zu einem Machtorgan „der reaktionären Schichten, der mit den fronherrlichen Gutsbesitzern und den Oberschichten der Bourgeoisie verquickten zaristischen Bürokratie“ zu machen. (W.I. Lenin, Werke, Bd. 19, S. 29.)
2. Nach dem Wahlgesetz vom Dezember 1905 wurden die Wähler nach Stand und Besitz in 4 Kurien eingeteilt, wobei die Grundbesitzer besondere Privilegien erhielten und die Zahl der Arbeiter- und Bauerndeputierten beschränkt wurde. Diesem undemokratischen Wahlrecht wurden nach dem Staatsstreich 1907 neue Begrenzungen hinzugefügt, so daß die Herrschaft der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie in der Duma garantiert wurde und die Völker der nationalen Randgebiete Rußlands entweder kein oder nur ein äußerst beschränktes Wahlrecht besaßen.
3. Der Führer der Kadetten P.N. Miljukow war Außenminister der Provisorischen Regierung.
4. Der Kosakenataman A.M. Kaledin hatte die Donkosaken mobilisiert und die konterrevolutionären Truppen unterstützt, die im August 1917 unter Führung L.G. Kornilows auf Petrograd rückten, um die Revolution niederzuwerfen und eine Militärdiktatur zu errichten. Geführt von den Bolschewiki, stellten sich die Arbeiter und Soldaten den Konterrevolutionären entgegen und bereiteten ihnen eine totale Niederlage.
5. Gemeint ist Karl Kautsky.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012